Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: März-April 2022

Schwerpunkt

Stille.

Ich bin auf einer Alm, irgendwo in den Tiroler Alpen. Allein. Aber nicht einsam, zumindest seitdem das anfängliche Heimweh nachgelassen hat.

Ich kann mittlerweile geschlagene 45 Minuten die Dachrinne anstarren, bevor ich merke, dass ich gedanklich gerade komplett abgetaucht bin und mich nicht mehr erinnern kann, wohin. Ich kann zehn Minuten lang über mich selbst lachen, weil ich mit der Motorsense einen Kuhfladen getroffen habe und der Mund unglücklicherweise noch offen war. Ich kann eine komplette Mahlzeit lang meinen Gedanken zuhören und dabei finden, dass ich eigentlich ganz okay bin. Dass ich eigentlich ganz gern mit mir Zeit verbringe, auch wenn man sich beim in Ruhe denken erstaunlich fest im Kopf verletzen kann. So viele unaufgeräumte Ecken, an denen man sich anhaut. Herrschaftszeiten!

Am Anfang habe ich die Stille kaum ausgehalten. Sie war viel zu laut. Ich war mir auf eine fast unerträgliche Art selbst bewusst, mir selbst ausgesetzt. Mir hat mein Alleinsein in der Seele weh getan, ich hab‘ es als Mangelerscheinung empfunden. In meiner selbstgewählten Abgeschiedenheit hat mir neben der heillosen Überforderung mit meinen Aufgaben absolut der Mut gefehlt, mich selbst genauer anzuschauen. »So lonely« von The Police – Scheißdreck dagegen!

In den existenziellen Situationen ist der Mensch allein. Wenn er geboren wird. Wenn er stirbt. Ist Einsamkeit also die Grundform oder die unnatürlichste Form des Seins? Braucht die Seele Gemeinschaft? Oder dreht sie im Angesicht der eignen Abgründe einfach langsam, aber sicher durch? Manchmal weine ich, stundenlang. Meinen Kühen ist das ziemlich wurscht. Die wollen fressen, gemolken werden und ihre Streicheleinheiten. Völlig unphilosophisch. Jeden Tag.

Aber mit der Zeit wird die Stille ruhiger. Und ich merke: Ich bin gar nicht allein, ich sehe die anderen bloß gerade nicht. Ich tanke richtig auf, freue mich zwar sehr, wenn Besuch kommt, aber auch, wenn er wieder weg ist. Ich passe gut auf mich auf und lerne, dass ich, trotz der wenigen Menschen um mich, immer dann Hilfe bekomme, wenn ich sie brauche. Vielleicht weil wir hier auf der Alm auf der Skala zwischen Himmel und Erde ziemlich weit oben sind. Gott sei Dank.

Und mein Kopf räumt auf. Weil er Zeit dazu hat. Weil ich meinen Sommer mit 20 Milchkühen, drei Hühnern und einem Gockel verbringe, der an manchen Tagen deutlich mehr Kommunikationsbedarf hat als ich. Auf jeden Fall deutlich früher.

Und am Ende jeden Tages steh‘ ich kleine Person inmitten meiner Kühe, inmitten dieser riesigen Berge, inmitten von Gras, Bäumen, Blumen und Kuhhaufen, schwitzig und dreckig von oben bis unten, erschöpft und absolut unbedeutend. Und fühle mich nicht einsam, sondern einfach nur still und demütig.

Und plötzlich ist sie da, in meinem Kopf. Die Melodie von einem Lied, das ich ewig nicht gehört habe, ein Fitzelchen vom Text, an das ich mich noch erinnern kann, den ich aber zu lange nicht gesungen habe. Ich fange an zu summen, zu pfeifen, die gleiche Stelle immer und immer wieder, zum Vierviertel-Takt der Melkmaschine, zum Pfeifen der Vögel. Am übernächsten Tag ist er dann auf einmal da. Der gesamte Text und ich singe, dass sich die Balken biegen.

Fotos: Sarah Weiß

Sarah Weiß hat mehrere Sommer auf einer Alm in Tirol verbracht. Hühner und Kühe um sich herum aber kaum Menschen, hat sie gelernt, sich selbst auszuhalten


Verfasst von:

Sarah Weiß

Freie Autorin