Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: März-April 2022

Schwerpunkt

„Wer Gott umarmt, findet in seinen Armen die ganze Welt“

Dieses Zitat von Madeleine Delbrel, der Alltagsmystikerin des 20. Jahrhunderts, ist für mich maßgeblich geworden für meine Arbeit in der Krankenhausseelsorge und in der Gemeinde. Ich bin überzeugt, dass es heute notwendig ist, den Blick über die Pfarrgemeinde hinaus zu weiten und zu fragen: wo sind die Einsamen? Die, die am Rande stehen? Die Enttäuschten oder Ausgegrenzten? Mit einem wachen Blick werden wir ihnen begegnen.  

Eine Hospizmitarbeiterin erzählt davon, wie oft sie in ein großes Haus kommt, in dem ein einzelner Mensch wohnt. Wie dankbar ist dieser Mensch für jede Art von Zuwendung, gesehen und gehört zu werden. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Lebenssituation alter Menschen noch einmal sehr verändert. Durch die zunehmende Mobilität wohnen Kinder, Enkel oder andere Angehörige nicht mehr in der Nähe oder wenn es so ist, sind sie in der Regel selbst so beschäftigt, dass nur wenig Zeit bleibt, sich zu kümmern.

Depression spielt bei alten Menschen oft eine große Rolle, so die Wahrnehmung auf geriatrischen und psychiatrischen Stationen im Krankenhaus. Ein großes Problem dabei ist, dass sie oft im Verborgenen schlummert und nicht erkannt wird, selbst wenn es noch ein gutes Familiengefüge gibt. Deutlich wird es dann, wenn die Menschen ins Krankenhaus kommen. Es gibt großen Redebedarf, die Sehnsucht nach Aufmerksamkeit, körperlicher Nähe, Berührung ist stark. Die Krankenschwestern erzählen, wie gerne sich die Patienten dann eincremen lassen oder die Pflegeperson festhalten wollen.

Zuwendung heilt

Der Psychiatriekrankenschwester fallen im Gespräch auf Anhieb drei alte Menschen ein, die sich suizidiert haben, bei denen ihrer Meinung nach Einsamkeit eine große Rolle gespielt hat. Es war ein Mann, dessen Lebensgefährtin gestorben ist und der ins Pflegeheim kommen sollte. Ein anderer Mann, dessen Frau sich scheiden ließ, und eine allein lebende Frau, deren Tochter nach Kanada ausgewandert ist. Mir fällt eine Frau ein, die aus dem Pflegeheim weggelaufen ist und sich auf die Zuggleise gelegt hat, dabei schwer verletzt wurde und in die Psychiatrie kam. Auch bei ihr war die Einsamkeit groß.

Ärztinnen und Pflegepersonal erzählen davon, dass körperliche Schmerzen häufig deutlich besser werden, wenn die Patienten Zuwendung erfahren oder einfach erzählen können und ein Gegenüber haben, das zuhört.

Wie groß der Redebedarf ist, spüre ich bei Besuchen im Pflegeheim. Die oft traumatischen Kriegs- oder Nachkriegserlebnisse oder auch persönliche Kindheitserfahrungen werden im Alter nochmal in besonderer Weise wach. Aber auch andere Geschichten, oftmals berührend und kostbar, wollen mit anderen geteilt werden. Dazu braucht es Zeit, Offenheit, Präsenz und echtes Interesse.

Nicht selten spielen in den Erzählungen auch Glaubenserfahrungen eine Rolle oder auch das Erleben von Gottferne. Gerade hier sind die Menschen oft alleine gelassen, weil diese Fragen für ihre Kinder und Enkel häufig heute wenig Relevanz mehr haben oder Antworten auf Fragen nach Sinn und Spiritualität nicht mehr in der Kirche gesucht werden.

Der Relevanzverlust der Kirchen macht sich auch deutlich in familiären Gefügen. Immer wieder begegne ich diesem Phänomen bei Trauergesprächen und manchmal gibt es da bei den Angehörigen auch eine Trauer darüber, nicht mehr über diese Fragen mit den Verstorbenen gesprochen zu haben.

Große Einsamkeit mag es auch bei Trauernden geben, sowohl bei alten Menschen, die nach jahrelanger Verbundenheit den Partner oder die Partnerin verlieren, wie auch bei jungen Trauernden, die oft niemanden als Gesprächspartner haben, der sie versteht und ihre Situation nachvollziehen kann.

Was heißt das nun für unsere Pfarrgemeinden?

Ich denke, dass dieser Bereich für unsere Gemeinden Herausforderung und Chance ist. Im Rahmen eines vierjährigen Projektes mit dem Titel „Mach den Raum deines Zeltes weit“ (Jesaja), in dem es darum ging zu schauen, was brauchen aus dem Krankenhaus entlassene Patienten, mit dem Fokus auf Psychiatrie, führte ich viele Gespräche mit ganz unterschiedlichen Menschen.

Es wurde dabei deutlich, dass die Sehnsucht da ist nach Begegnung mit anderen Menschen, auch aus anderen Kontexten, in verschiedenen Lebenssituationen. Niedrigschwellig und barrierefrei  (äußerlich und innerlich!) entstand so das Angebot „Kaffee unterm Kirchturm“.

Einmal monatlich, Sonntag nachmittags, mit oder ohne Programm. Vom ersten Mal an war der Saal voll. Zwischen 60 und 80 Personen aus unterschiedlichen Situationen trafen sich. Da ist die ehemalige Psychiatriepatientin, allein lebend, die sich freut, andere Menschen zu treffen. Da ist die Witwe, die zum ersten Mal ohne ihren Mann ausgeht, daher ziemlich Angst hat, dann aber jedes Mal gerne kommt. Da ist die Gruppe von Menschen mit Behinderungen aus dem Nachbarort, die sich freuen, mit anderen zusammen zu kommen, und die für alle eine große Bereicherung sind. Da ist der Leiter der Selbsthilfegruppe „Depression“, der für Gespräche zur Verfügung steht. Da sind zwei allein lebende Männer, die sich finden, da der eine gerade einen Hausumbau macht und der andere dabei helfen kann. Da ist die syrische Familie, Eltern und vier Töchter, die sich in Deutschland auch oft einsam fühlen und gerne beim Bedienen mithelfen.

Dies sind nur ein paar Blitzlichter. Das Angebot wird getragen von Ehrenamtlichen, die selbst Kuchen backen und Kaffee kochen, zum Teil selber Einsamkeitserfahrungen kennen und sich freuen, auf diesem Weg aktiv zu sein. Leider konnten wir coronabedingt seit zwei Jahren keine Treffen mehr durchführen, also überlegten wir, was wir stattdessen anbieten können.

Entstanden ist ein Friedhofstreff im Sommer. In Vernetzung mit der Stadt, dem Bestattungsinstitut und dem Friedhofsgärtner, stellten wir den vergangenen Sommer über einen Tisch, zwei Bänke und Getränke einmal wöchentlich an den Eingang des Friedhofs und luden die Menschen zum Verweilen ein. Sehr gerne wurde das Angebot angenommen, manche kamen extra, um eine Weile mit uns zu reden. Eine Besucherin sagt: „Jetzt habe ich heute mit jemandem gesprochen und ich gehe leichter nach Hause.“

Im Advent bieten wir „Lichtblicke“ in der Kirche an und in der Fastenzeit „Lebenswege“, jeweils sonntags am späteren Nachmittag. Dieses Format ist entstanden durch die Corona-Situation. Ein niedrigschwelliges spirituelles Angebot mit Texten, Musik und persönlichen Statements. Hier fehlt zwar der persönliche Austausch, aber es kommen auch viele „Kirchenferne“, gerade auch einsame Menschen, die manchmal dann durch dieses Angebot auch andere kennenlernen. Dieses Format soll die Sehnsucht nach Spiritualität aufgreifen, gerade für Menschen, die keinen Zugang mehr zur Eucharistiefeier oder einem Wortgottesdienst finden.

Gemeinde weit denken

Sicherlich mag der Ansatz da in jeder Gemeinde anders sein, braucht es andere Ideen oder Zugänge. Das kommt ja immer auch auf die konkreten Mitmacherinnen und Mitmacher an. Wichtig ist zunächst die Fragestellung, was Menschen heute brauchen. Ich denke, wir müssen raus aus unseren Binnenräumen, oftmals Gemeinde viel weiter denken und uns für die Menschen in ihren Lebenssituationen öffnen. Oder eben Räume für Begegnung schaffen. Unsere Gemeinderäume und Kirchen sind oft sehr schön gestaltet, jetzt geht es darum, sie zu nutzen, einladend zu sein, gerade auch für die, die sonst fern stehen oder eben keinen Bezug zu Kirche haben.

„Wer Gott umarmt, findet in seinen Armen die ganze Welt“, sagt Madeleine Delbrel. Und diese Welt ist bunt, vielfältig und kennt keine Grenzen. Begegnung und Austausch auf Augenhöhe, den anderen besuchen, einladen, verstehen, achten, so wie er/sie eben ist, wo es keine Rolle spielt, welche Konfessions- oder Religionszugehörigkeit jemand hat oder vielleicht auch schon lange nicht mehr hat. Danach wird nicht gefragt. Offene Türen – vor allem im Herzen – ich glaube, das ist Kirche der Zukunft.

Titelbild: Grandfailure/Adobe stock


Verfasst von:

Beate Limberger

Gemeindereferentin