Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: Mai-Juni 2022

Interview

Das demokratische Gesicht der Kirche

Irme Stetter-Karp wurde im November 2021 als zweite Frau nach Rita Waschbüsch (1988 bis 1997) zur neuen Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) gewählt. Mit Gemeinde creativ spricht sie über ihren Start in innerkirchlich und gesellschaftlich stürmischen Zeiten, über die „Juckepunkte“ der Gesellschaft, an denen kirchliches Ehrenamt gefragt ist, und warum sie in Zeiten wie diesen zwar manchmal mit ihrer Kirche hadert, aber trotzdem bleibt.

Gemeinde creativ: Wo sehen Sie aktuell die größten Herausforderungen für die Kirche insgesamt und für das Engagement in Räten und Verbänden im Besonderen? 

Irme Stetter-Karp: Ich möchte das mit drei Begriffen umreißen: Wir haben eine markante Führungskrise in der katholischen Kirche. Wir stehen in einer Vertrauenskrise gegenüber der Gesellschaft. Als dritten Begriff würde ich eine kulturelle Krise nennen, in der es gilt, die „Zeichen der Zeit“ stärker zu deuten. Momentan ist es eine Gratwanderung: Ich halte es für eine ordentliche Herausforderung, Glauben zu leben in einer Kirche, die diskriminiert, statt eine gerechte Kirche zu sein. Und da Veränderungen einzufordern und dennoch im Gespräch zu bleiben, dennoch standzuhalten und sich nicht zu verabschieden, auch Geduld aufzubringen und Dialog zu pflegen, das ist für uns Christinnen und Christen nicht leicht. Das ist eine große Anstrengung, aber sie ist notwendig.

Das ZdK befasst sich mit vielen unterschiedlichen Themen. Welche sind Ihnen besonders wichtig?

Ich stehe für eine caritative, eine dienende Kirche. Die Frage nach einem stärkeren gesellschaftspolitischen Engagement und die Frage danach, welchen Mehrwert wir in die Politik mit christlichen Werten einbringen können, treiben mich um. Aufgrund meines persönlichen Hintergrundes – ich komme ja aus dem sozialen Bereich – ist das für mich selbst eine Verpflichtung, aber sicherlich auch eine Erwartung von außen her an meine Person.

Ich bin seit November 2020 auch Präsidentin des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, in dem alle Wohlfahrtsverbände, aber auch die Kommunen und die Wissenschaft vertreten sind. Auch diese Erfahrungen möchte ich natürlich im ZdK einbringen.

Welche Themen wollen Sie konkret in der Politik forcieren?

Da sehe ich momentan zuvorderst die Frage nach Zusammenhalt und Solidarität in der Gesellschaft. Alle reden von Selbstbestimmung, ich habe das Gefühl, dass das nicht ausgewogen ist, daher ist es notwendig, die Frage der Mitsorge stärker zu artikulieren. Aktuell zeigt sich das an der Diskussion um eine Impfpflicht, aber auch bei den ethischen Fragen am Anfang und am Ende des Lebens. Als ZdK stehen wir für ein klares „Nein“ zu Rassismus und Antisemitismus. Wir sind inzwischen mittendrin im dritten Corona-Jahr. Da müssen wir uns die Frage stellen, was wir bisher aus der Krise gelernt haben. Als Christinnen und Christen haben wir gerade in dem Bereich eine ganze Menge „Juckepunkte“. Ich denke da an die Situation von Kindern und Jugendlichen, aber auch von Familien, die immer weiter an den Rand gedrängt werden. Reich und Arm, die fortschreitende Spaltung der Gesellschaft dürfen wir nicht einfach unkommentiert geschehen lassen. Die sozialverträgliche Ausgestaltung des öko-sozialen Wandels ist ebenfalls ein Megathema, bei dem wir die Menschen mitnehmen müssen. Und wenn ich jetzt weiterspreche, dann fallen mir sicher noch eine ganze Menge anderer Themen ein!

Was erwarten Sie sich vom Umzug des Generalsekretariats des ZdK von Bonn nach Berlin?

In der Debatte um den Standortwechsel hat es einige Reibepunkte gegeben. Ich habe damals dafür gestimmt und stehe auch dazu. In Berlin ist die Nähe zur Politik, aber auch zum Katholischen Büro beispielsweise und zu anderen wichtigen Organisationen der Zivilgesellschaft stärker als in Bonn, davon können wir als ZdK sicherlich profitieren.

In den vergangenen Wochen wurde wieder viel über das Thema „Missbrauch“ gesprochen. Wenn man die Geschichten der Betroffenen hört – hadern Sie da manchmal mit Ihrer Kirche? 

Ja, natürlich. Wenn man mit Leib und Seele sein Engagement wahrnimmt, dann geht das auch gar nicht anders, dann ist man emotional betroffen: Da ist Trauer, Wut, Zorn, Enttäuschung. Auf der anderen Seite sind da aber natürlich das Vertrauen und die Hoffnung, dass es einen Pfad gibt, der aus dieser Situation herausführt. Das braucht es auch, sonst würde man in diesen Situationen schier verzweifeln und alles hinwerfen.

Was sind hier aus Ihrer Sicht die nächsten Schritte?

Wichtig ist, dass Amtskirche und Laien diesen Weg zusammen gehen und dass sie die Betroffenen aktiv beteiligen. Als erstes ist da die Frage nach der staatlichen Mitverantwortung für die Aufarbeitung. Dafür hat sich ja Ende Februar nochmals der scheidende Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, stark gemacht. Das heißt nicht, dass die Kirchen ihre Verantwortung einfach abgegeben können. Aber es wäre schon gut, wenn die staatliche Aufarbeitungskommission zu einer zentralen Kontroll- und Monitoringstelle entwickelt würde, die die Arbeit regionaler Kommissionen kritisch begleitet – zum Beispiel die Unabhängigen Aufarbeitungskommissionen der Kirche. Die 27 Diözesen sind ja ganz unterschiedlich vorgegangen in Sachen Aufarbeitung, Akteneinsicht, Gutachten, Bestellung von Beauftragten etc. Daher wäre es gut, wenn eine staatliche Kommission mehr Kontrollmöglichkeiten hätte als bislang. Hier wünsche ich mir eine Veränderung, auch um eine Vereinheitlichung in den Bistümern zu erreichen, damit nicht noch mehr Glaubwürdigkeit verloren geht.

Das Zweite ist die Beseitigung systemischer Ursachen. Hier arbeiten wir auf dem Synodalen Weg ganz intensiv an einer Veränderung. Drittens halte ich die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch nicht nur in den Bistümern, sondern auch in Verbänden und Organisationen der katholischen Kirche, in unseren eigenen Reihen also, für eine wichtige Aufgabe, die an vielen Orten noch nicht erledigt ist, sondern bisher eher punktuell angegangen wurde.

Der Synodale Weg ist eine Folge aus der Veröffentlichung der MHG-Studie von 2018. Nach der dritten Synodalversammlung Anfang 2022 war die Stimmung sehr positiv und hoffnungsvoll, teils euphorisch. Teilen Sie diese Einschätzung?

Für Euphorie ist die Schwäbin wahrscheinlich zu nüchtern (lacht). Was ich aber schon teile und wirklich auch anerkenne: Es ist gut, dass die dritte Versammlung geliefert hat. Aber: es gibt noch überhaupt keinen Grund, sich entspannt zurückzulehnen. Wir haben noch zwei Versammlungen vor uns. Manche Texte, auf die es ankommt, hatten wir erst in der ersten Lesung. Dazu gehören auch Handlungstexte, über die in der Kirche in Deutschland entschieden werden kann, bei denen es also um unmittelbare Veränderungen geht. Eine weitreichendere Reform der kirchlichen Grundordnung als diejenige, die vor einigen Jahren durchgeführt wurde etwa, aber auch beispielsweise die Frage nach der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare oder die Mitwirkung von Laien bei der Wahl der Bischöfe. Je nach Thema bin ich da unterschiedlich zuversichtlich. Bischof Bätzing und ich haben uns ausdrücklich dafür entschieden, dass es keine weitere Verlängerung des Synodalen Weges nach dem März 2023 geben wird. Bis dahin brauchen wir Ergebnisse. Das größte Risiko waren von Anfang die extrem hohen Erwartungen, die mit dem Synodalen Weg verbunden werden. Klar ist auch, dass wir nicht den ganzen Graben werden überspringen können, der durch jahrzehntelagen Reformstau entstanden ist, aber wir müssen dafür sorgen, dass es keine zu großen Enttäuschungen und Frustrationen gibt.

Haben Sie die Sorge, dass die Papiere des Synodalen Weges in der Schublade verschwinden, so wie zahlreiche andere aus anderen Prozessen vor ihnen?

Klar ist, wir brauchen konkrete Umsetzung. Gerade bei der Frage nach dem Zugang von Frauen zu allen Ämtern der Kirche sind extrem hohe Hürden aufgebaut worden. Die Bischöfe sind da sicherlich auch unterschiedlich mutig. Bei Fragen dieses Kalibers denken die meisten an die Hierarchie der Kirche, an Rom und die Entscheidungsmacht des Papstes. Ich finde, wir müssen aber auch horizontal denken. Denn, Reformbewegungen gibt es nicht nur in Deutschland. Mit diesen stehen wir auch in Kontakt und da zeigt sich deutlich: Die Frauenfrage ist nicht nur eine deutsche oder eine europäische Frage, sondern eine weltweite. Ich will allerdings das Risiko, dass sich gerade in dieser Frage nichts bewegt, nicht kleinreden und ich weiß auch nicht, was die Frauen tun werden, wenn wir wieder an einer umfänglich gerechten Kirche scheitern.

Wie kommt der Synodale Weg auch in den Pfarrgemeinden vor Ort an?

Das ist aus meiner Sicht aller Anstrengungen wert. Letztlich ist das auch nicht nur eine Anfrage an das ZdK und die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) als Organisatoren des Synodalen Wegs. Es ist auch die Aufgabe aller Delegierten, die Themen und Informationen aus den Synodalversammlungen, aus den Foren und Gesprächsrunden in ihre Pfarreien zu tragen. Sie sind unsere wichtigsten Multiplikatoren.

Die meisten Engagierten vor Ort werden nicht bereit sein, 20-seitige Texte zu den einzelnen Themen zu studieren. Papier ist geduldig, Texte sind schwerfällig, komplex und kompliziert. Hier werden wir noch einiges an Kommunikation und Informationsarbeit betreiben müssen. Wir übersetzen die Texte des Synodalen Wegs in andere Sprachen, am liebsten möchten wir auch Kurzfassungen für ein besseres Verständnis machen. Das alles braucht Ressourcen, die wir anfangs nicht bedacht haben. Deswegen ist es auch nicht einfach, bis auf die Gemeindeebene durchzudringen. Dankbar bin ich für das große Interesse der Tagesmedien, damit hätte ich ehrlicherweise nicht gerechnet. Auch so erreichen wir die Leute vor Ort.

In Bayern sind gerade die neuen Pfarrgemeinderäte gewählt worden – welche Bedeutung schreiben Sie den Pfarrgemeinderäten angesichts der aktuellen gesellschaftlichen und kirchlichen Entwicklung zu? 

Die Ehrenamtlichen vor Ort sind das demokratische Gesicht der katholischen Kirche. Ich bin überzeugt, dass es in der aktuellen Zeit wichtig und richtig ist, dass wir sagen können, wir sind von unten nach oben und von oben nach unten miteinander verbunden und vernetzt und wir denken eben nicht in Kategorien der Herrschaft. Sondern wir denken in der Breite des Volkes Gottes. Die Wahl ist hierfür die beste Basis überhaupt.

Für unsere Räte ist das Hineinwirken in die Politik aktuell sicherlich eine der wichtigsten Aufgaben überhaupt. Das buchstabiert sich auf den verschiedenen Ebenen vom Pfarrgemeinderat über den Diözesanrat bis zum ZdK zwar anders aus, der Auftrag bleibt aber derselbe: hinauszutreten aus der katholischen Blase, zu schauen, wo sind die Juckepunkte in unserer Stadt, unserer Gesellschaft, wer braucht uns, um sich dann zu Wort zu melden, die Stimme zu erheben und sich aktiv an der Gestaltung des Zusammenlebens zu beteiligen.

Warum bleiben, wenn Kirche momentan zum Davonrennen ist? Diese Frage stellen sich viele Engagierte, was ist Ihre Antwort?

Ich bleibe, weil ich es wert finde, für eine Zukunft der katholischen Kirche zu streiten. Ich bin überzeugt, dass wir vom Evangelium her auf einer starken Spur unterwegs sind. Dafür lohnt es sich zu kämpfen.

Dr. Irme Stetter-Karp (*1956) ist seit November 2021 Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK). Die Sozialwissenschaftlerin war zuvor (2010 bis 2022) Vizepräsidentin des Deutschen Caritasverbandes und Bundesvorsitzende des katholischen Verbandes für Mädchen- und Frauensozialarbeit IN VIA (2007 bis 2019). Seit 2020 ist sie ebenfalls Präsidentin des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge.

Foto: ZdK/Harald Oppitz


Verfasst von:

Alexandra Hofstätter

Geschäftsführerin des Landeskomitee der Katholiken in Bayern.