Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: Mai-Juni 2022

Katholisch in Bayern und der Welt

Wie aus der Kirche ein Schwimmbad, und eine Kneipe wurden – und dann wieder eine Kirche.

Eine Erzählung über Wandel und Erneuerung

Genau an diesem Ort hier ist es passiert. Alles ist gegenwärtig. Die Beter. Die Trauernden, die Fröhlichen. Ihre Kraft, ihr Schmerz, ihre Freude, sie sind noch da. Wie in einem Blitzlicht ist es mir, als könnte ich alles Vergangene sehen: Die volle Kirche mit den nach Schul-Jahrgangsstufen gefüllten ersten Bänken, das ist Mitte der 70er Jahre. Die erste Jugendband mit E-Gitarre und Schlagzeug irgendwann nach dem Konzil. Die Verhärmten, die den Krieg noch in sich tragen – Frauen in meist dunkler Kleidung, mit Kopftuch wegen des Staubs auf den bis in die 60er Jahre hinein ungeteerten Straßen.

Ihr stilles Gebet, irgendwann in den 50er Jahren, blickgeschützt durch die breite Säule: vor dem bleichen, ziemlich realistischen, am Kreuz hängenden Christus-Leichnam; darunter die schmerzhaft mit einem Schwert durchbohrte Mutter. Die angezündeten Kerzen geben der Ecke die Atmosphäre einer kleinen Seitenkapelle. Sie trauern um die getöteten Söhne, den nicht mehr wieder gekommenen Ehemann. Von den vielen Vertriebenen aus dem Osten, die hier strandeten, tragen manche die Bilder der Strecke vor Gott, die erlebte Gewalt, die Kälte, geschwächt vom Hunger. Sie trauern, sie werfen Gott das Erlebte vor und erwarten gleichzeitig von ihm, ihren Schmerz zu heilen. Sie haben im Gebet immer dieselben Erlebnisse wieder und wieder im Kopf, in der Hoffnung, sie mögen enden. Wie ausgebetet diese Stelle hier ist.

Pfarrer Guttenberger läuft durch die Kirche, er, der nach 1933 Lebensrecht und universelle Ethik des Evangeliums predigte und deshalb von der Polizei verhaftet wurde – das Konzentrationslager Dachau drohte. Doch am Abend war er wieder frei – durch den Kontakt zum Vater des SS-Chefs Heinrich Himmler, der in Ingolstadt Oberstudiendirektor gewesen war. Danach lebte er mit Bedrohung und Schikanen. Für ein so kleines Dorf gibt es so viele Gefallene, vergraben in ferner Erde. Aber hier ist der Ort, an dem sich die Trauer um sie unverändert stapelt. Der Blick in diese Zeit zeigt eine volle Kirche, kontrolliert vom Pfarrer, ob denn auch alle da waren und an Ostern gebeichtet haben.

Ich rieche den Staub der Steine, als sie in den 1920er Jahren die Wände durchschlagen, um den Kirchenraum zu vergrößern. Es ist ein Aufbruch und es schien, als werde nach verlorenem Ersten Weltkrieg und Inflation doch wieder alles gut. Ein Gemeinschaftserlebnis. Die Jahrzehnte davor sind karg wie die steinigen Böden, denen sie etwas zu essen abringen. Die Menschen hier wohnen so beengt, schlafen zu mehreren Personen in einem Raum, dass für viele diese Kirche der einzige Ort ist, in dem sie mal für sich sein können – auch deswegen gibt es untertags viele, die hier sitzen oder knien. Es ist der Ort, der den Wendungen ihres Lebens die spürbare Erfahrung gibt, Kommunion, Ehe, Taufe des eigenen Kindes, meist glücklich. Nicht lange zuvor war die Kirche beinahe untergegangen, als der Staat Einwohnerregister und Schule übernahm. Einquartierte Soldaten Napoleons stellen ihre Pferde in der Kirche unter, Stroh und Mist liegen auf dem Boden.

In der Zeit vor 1700 wohnte im Wasserschloss eine Priestergemeinschaft – ein guter, pastoraler Ansatz, damit sie nicht so allein in ihren Orten sind, sogar ein Generalkapitel haben sie in Lenting abgehalten. Doch den Jesuiten in Ingolstadt und den Machthabern waren sie zuwider. Sie lösten sich wieder auf. Die barocke Ausstattung von den glänzenden Herrlichkeiten des Himmels, mühevoll vom Mund abgespart, konterkariert das Elend und die Erinnerung an den großen Krieg der damaligen Erinnerung. Von den 300 Einwohnern sterben 100 in den 1630ern, vordergründig an Krankheiten; doch sie sterben an Mangel- und Unterernährung, nachdem die Schweden die Ernten weggenommen haben.

Dabei hatte die Zukunft zuvor so gut ausgesehen, weil so vieles besser ging: Wissen, Wohlstand und eigenes Denken waren im Aufschwung, die religiösen Auseinandersetzungen der Nach-Reformationszeit weiteten den Blick. Auch wegen der ortsadeligen Argula von Grumbach geht es lebendig zu, die den Vertretern der bisherigen Kirchenstruktur in Ingolstadt mit Argumenten einheizt. Nachbarn zerstreiten sich darüber in Lenting, und in der Kirche würdigt mancher den anderen keines Blickes mehr. Ich sehe die noch kleinere Kirche des hohen Mittelalters, die bunten Ausmalungen an den Wänden, die längst nicht mehr existieren. Das weite Land rundherum mit nur wenigen Häusern, die Kirchenmauer, die nicht nur die Toten im Kirchhof schützen, sondern auch ein Ort der Sicherheit sind vor gewalttätigen Vagabunden. Wer heute über die glänzend geputzten Fließen an der weiß getünchten Wand vorübergeht, der hat all dies in seiner Gegenwart, ob er es erspürt oder nicht.

Wie aus der Kirche ein Schwimmbad wurde

Ebenso wie die Zukunft. Sie begann, als in den späten 1950er Jahren immer mehr Leute einen VW Käfer hatten und dem Pfarrer davonfahren konnten in eine Gemeinde drei Dörfer weiter, weil ihnen da die Predigten besser gefielen – oder gar nicht mehr kamen. Der Glaube differenzierte sich aus, die einen wurden Yippi-Yai-Yeah, die anderen Marien fromm, und die dritte Gemeinde wurde leer. Glauben aus Angst vor der Hölle? Unsinn. Am Ort dazugehören? Geht woanders auch. Sakramente? Völlig unwichtig, man kommt auch so in den Himmel. Theologen versuchten, mit abseitigen Theorien auf sich aufmerksam zu machen. Und die 70er-Jahre-Band-Lieder waren so zeitgeistig wie die ganz alten aus der Zeit der Agrargesellschaft, in denen es um  die Feldfrüchte ging, also aus einer unverständlichen Zeit. Aus Gott, der am Ende je nach Verhalten zu sich ruft oder auch nicht, der wurde ein ganz, ganz lieber Gott, der nichts krumm nimmt. Kein „Danke, dass Ihr gekommen seid“ half. Die Kirche wurde leerer; noch freuten sich die Kommunionkinder, an einem Tag im Mittelpunkt zu sein, doch das Besondere war so schnell weg, wie man ein Kleid ausziehen kann.

Der frühere Nimbus der Unangreifbarkeit, in dessen Schatten über Jahrzehnte sexueller und seelischer Missbrauch stattgefunden hatte, all das wurde konzentriert auf wenige Monate offenbar und zerstörte die Glaubwürdigkeit; dazu wurde Kirchengeld für Prunkbauten ausgegeben oder an Finanzhaie verliehen, die es verzockten – anstatt dafür Sozialwohnungen zu bauen. Es schien, als sei die Absicherung der Altersversorgung heutiger Bediensteter das einzige, was noch zählte; die Kirche selbst schien nicht mehr an die eigene Zukunft zu glauben. Niemand vertrat mehr das Ganze. Die paar mittelalten und alten, verunsicherten Priester machten halt so weiter, bis sie starben, so wie jene Gläubigen noch kamen, die lange, lange vor dieser Zeit als Kind das noch so angelernt bekommen hatten und sich daher nicht sicher waren, ob sie nicht doch ihre Ewigkeit aufs Spiel setzen würden, wenn sie fernblieben.

Doch selbst für Umweltschutz brauchte es keine Kirche mehr, das taten andere längst effektiver und öffentlich wirksamer. Ein Prozent der Gläubigen aus Professoren, Kirchenapparatschniks und Laienfunktionären stritten um die Neuverteilung ihrer Macht und über eine Sexualmoral, die 90 Prozent sowieso überhaupt nicht mehr interessierten. Sie fochten über Strukturen anstatt über den Geist in den Strukturen. Ob Gott mit mir persönlich redet und seinen Weg geht? Kein Thema. Die Kirchengebäude standen leer, fraßen viel Geld, und wurden zunehmend verkauft; wer starb, ließ sich in der Regel einäschern und im Wald und auf den Feldern verstreuen.

Auch in Lenting: Zuerst wurden die früheren Bauernhöfe rund um die Lentinger Kirche durch große Appartement-Blöcke ersetzt – besonders in den oberen Etagen waren sie teuer und beliebt wegen des Blickes über das Manterinbachtal hin nach Ingolstadt. Nachdem seit Jahrzehnten niemand mehr dort beerdigt wurde, verkaufte auch die Diözese die Lentinger Kirche an eine Hotelgruppe, die aber garantieren mussten, die ausgebaggerten Gebeine abzuliefern, um sie in einer anderen Grube gesammelt zu entsorgen. Wo einst über Jahrhunderte die Menschen von hier der Erde übergeben wurden, jetzt betonierten Arbeiter die Fundamente und die inneren Mauern, hievten Kräne die Stahlträger ein und riesige Glaselemente. Die Kirche wäre beinahe abgerissen worden, hätte nicht ein Architekt darauf hingewiesen, dass ein altes Gebäude ein Hotel attraktiver mache; zur Nutzung schlug er vor, den Innenraum zwischen den Säulen um zwei Meter zu vertiefen und ein Schwimmbad einzurichten. Der Platz in der ehemaligen Sakristei war günstig für Umkleideräume und zusätzliche Toiletten. Das galt als Aufwertung der Ortsmitte, als zusätzliche Lebensqualität.

Längst blieben die Menschen zu Hause, und manche nahmen über das Internet nur noch das zur Kenntnis, was sie interessierte und selbst bestätigte. Selbstoptimierung in der Persönlichkeitsentfaltung hatte oberste Priorität, und man buchte dazu Seminare über Glück und Zufriedenheit oder sah sich unterhaltsame Youtube-Videos an von gut performenden Rednern zu Lebenshilfethemen. Die wichtigsten Feiertage, die das Jahr einteilten, waren Schuljahresanfang, Jahreswechseltag und das Frühlingsfest im April, neben Halloween und Nationalfeiertag. Als Erinnerung an frühere Jahrhunderte durften die Religionsreste auch mit Tagen an sich erinnern, wobei sich da die islamischen Feiertage mit denen der Christen und Buddhisten arrangieren mussten. Kirchen gab es noch in den ärmsten Ländern der Welt mit zusammengebrochener Staatsverwaltung, in denen die Institution die einzige funktionierende Struktur darstellte und die Leute mit Hölle und versprochenem Himmelreich bei der Stange hielt.

Die Autofabrik verschwindet

Doch dann passierte etwas. Zuerst starben die eigentlichen Götter, die die Leute in der Region schon seit Jahrzehnten verehrt hatten: Sie hatten sie zur Anbetung auf einem großen Verkehrskreisel am Klinikum aufgestellt, ein übergroßes silbernes Auto, Sinnbild für eigene Macht, Status und Reichtum. Mit der Klimakatastrophe wurde es obsolet. Der örtliche Autohersteller, einst die größte Fabrik in Bayern, wurde aufgelöst, das Gelände zu einem Teil renaturiert, zu einem anderen Teil zu einem Erlebnispark umfunktioniert. Nur ein Museum mit alten Autos erinnert noch daran und ist in dieser Zukunft so beliebt wie das Ingolstädter Stadtmuseum mit seinem Schwedenschimmel. Weil die Menschen weniger reisten und die Region weniger attraktiv war, ging das Hotel auf dem Gelände der ehemaligen Kirche in Lenting in Konkurs. Das neugebaute Gebäude wurde wegen Baumängeln abgetragen, ein Gastwirt zog in die einstige Kirche ein, der das jetzt ehemalige Schwimmbad abdeckte und zu einem Lokal umgestaltete, während er auf dem ehemaligen Friedhof im Sommer einen Biergarten betrieb.

Der Laden ging gut, doch er besserte seine Kasse auch dadurch auf, dass er ihn vermietete. Neuerdings an eine Gruppe, die sich dienstagabends in der Bar traf, die Tür schloss und dann gemeinsam sang und schwieg. Das sind eigentlich recht fröhliche Leute. Während alle in ihren Einzelappartements versauern, sich unabhängig von der Tageszeit in virtuellen Welten bewegen und gemeinsame Kontakte darauf beschränken, wo der andere nützlich ist und durch einen Tausch zu einem Geschäft bewegt werden kann, sind diese hier freigiebig. Sie interessieren sich für andere, wollen Kontakte aufbauen, besuchen die Verlassenen, freuen sich über das Glück anderer, ermutigen die Gedrückten, Männer und Frauen behandeln sich gegenseitig gut. Und alle ringsherum fragten sich: Was haben diese Leute, was wir nicht haben? Hervorgegangen sind sie aus den Veränderungen im Berufsleben. Nachdem die Maschinen die materielle Arbeit übernommen haben und die Künstliche Intelligenz die strukturierte Informationsarbeit, blieb die Arbeit am Menschen und mit unscharfen Wissen zwischen Menschen in Projekten. Dabei entschieden über den Wohlstand Ehrlichkeit, Transparenz, Demut für wechselnde Wichtigkeit, konstruktives Streiten statt zur Vernichtung des anderen – Religion kehrte zurück ins Zentrum der Debatte.

Neuerdings werden die Treffen häufiger und die Menschenmenge so groß, dass sie auch noch den Biergarten mieten; Fremde hören von der Guttenbergerstraße aus zu. Aus Irland und Schottland kommen Redner, die die lange verstreuten Ideen der Gruppe zusammenfassen. Es kann nicht alles nebeneinander geben, Widergeburt neben dem Verlöschen im Nichts oder ein Jenseits – es gibt nur eine Wirklichkeit; und ja, es gibt ein Weiterleben der Seele, so die Iro-Schotten. Dass wir frei sind, eine Gemeinschaft mit Gott zu haben, die dränge er uns aber nicht auf, das sei ein Angebot. Nur schade, weil nach dem Tod nun mal alles öd und finster sei, wo Gott nicht ist. Und dass Gott nicht für alle sichtbar auf einer Wolke sitze, weil das uns die Freiheit nehmen würde, uns in Freiheit für das Gute zu entscheiden. Und dass, wenn Gemeinschaft der Sinn des Lebens ist, es schon hier eine Gemeinschaft brauche, in der sich jeder auf das vorbereitet, was nach dem Tod zählt.

Geldspenden kommen zusammen, diesmal nicht für die Armen. Sondern um das Lokal zu kaufen. Jeder macht mit. Auch im Betreiben der Zusammenkunft übernehmen die meisten Aufgaben: Fast alle sind dabei, die schadhaften Stellen neu zu verputzen und zu malern, wobei auch alte Malereien auftauchen, die fotografiert und dann überdeckt werden. Viele machen sich Gedanken über Gott und dürfen vor allen darüber reden. Andere geben Infotainment-Seminare zum Glauben für verschiedene Gruppen, die eher nach Interesse als nach Alter sortiert sind. Manche kümmern sich um Ehepaare und ihre Beziehungspflege. Viele machen den Raum schön, unten im ehemaligen Schwimmbad wird eine Krypta eingerichtet und ein großes Taufbecken, in dem sich jeden Sonntag viele taufen lassen. Das Netzwerk inspiriert andere Kleingruppen an anderen Orten, so dass es immer mehr Menschen gibt, die sich nur noch um diese Zusammenkunft kümmern wollen. Um sich von den verbrauchten Begriffen der Gegenwart abzugrenzen, übernehmen sie – aus unterschiedlichen Lebenslagen – den Begriff „Priester“ aus archaischer Zeit; in Eichstätt wird daher das allererste Priesterseminar Deutschlands eröffnet, seit dem kompletten Zusammenbruch der Kirche Mitte des 21. Jahrhunderts.

Die Bedürfnisse der neuen Zeit machen sie jetzt so groß, dass es zu Reibungen mit der politischen Gewalt kommt, so wie das vor Jahrhunderten auch schon mal vorgekommen sein muss. Aber das lässt sich hier abkürzen. Die Botschaft ist klar: Die Kirche geht unter. Aber nur so, wie wir sie kannten. Auslöser für den Niedergang sind  technisch-wirtschaftliche Neuerungen, die Organisationsformen verändern und Macht neu verteilen. Die Kirche entsteht aber jedes Mal neu, weil das Evangelium, die Botschaft nicht untergeht. Sie schafft sich in der neuen Zeit mit ihren neuen technisch-gesellschaftlichen Notwendigkeiten die für sie nötigen Strukturen. Die nächste Erschütterung wartet dann schon um die Ecke. Das ist ganz normal. Das ist in 2000 Jahren Kirchengeschichte immer so gewesen. Der Blick in die Zukunft, wie in einem Blitz, zeigt: In der Ecke links vorne in der Lentinger Kirche haben sie im Jahr 2150 ein großes Kreuz aufgehängt und viele Kerzen angezündet, damit dort einzelne für sich beten können. Sie fanden, der Ort habe dafür die richtige Atmosphäre.

Fotos: Erik Händeler


Verfasst von:

Erik Händeler

Freier Autor und Publizist