Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: Juli-August 2022

Schwerpunkt

Neue Konzepte, neue Themen

Kerstin Dick
Kerstin Dick berät in der „Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung“ des Würzburger Vereins WüSL Menschen mit Handicap.

Während der Corona-Krise mussten sich Sozialarbeiter in vielerlei Hinsicht umstellen

Kontakt ist das A und O in der sozialen Arbeit. „Meist können wir die persönliche Situation eines Klienten nur durch den direkten Kontakt richtig einschätzen“, sagt Michael Gerr. Der Peer Counselor leitet die „Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung“ (EUTB) des Vereins „Selbstbestimmt Leben Würzburg“ (WüSL). Hierher kommen Menschen mit Behinderungen, wenn sie Fragen haben oder Probleme aus eigener Kraft nicht lösen können. Durch die Corona-Krise veränderte sich die Arbeit deutlich.

Das Virus einzudämmen, steht seit 2020 im Brennpunkt des Interesses. Auch WüSL verfolgte dieses Ziel. Gleichzeitig hatte es die Beratungsstelle aber auch mit Menschen zu tun, die schwer unter den angeordneten Maßnahmen gelitten haben oder noch immer darunter leiden. Beraterin Kerstin Dick zum Beispiel sprach unlängst mit einem psychisch kranken Mann, dem es unmöglich ist, eine Maske zu tragen. „Das liegt an einem äußerst traumatischen Erlebnis in seiner Kindheit“, fand sie heraus. Kerstin Dick ließ sich dadurch nicht abschrecken: Sie beriet den Klienten dennoch live. Allerdings mit Abstand. Hinter einer Plexiglasscheibe. Wobei sie zusätzlich eine Maske trug.

Krisenbedingt fand Sozialarbeit überall verstärkt am Computerbildschirm statt. Das war auch in der EUTB von WüSL so. Laut Michael Gerr brachte die Digitalisierung sogar Vorteile mit sich: „Durch Online-Konferenzen hatten wir im Vergleich zu früher mehr statt weniger Austausch innerhalb unseres Beratungsteams.“ Gerade für Menschen, die unter gravierenden Behinderungen leiden, sei es außerdem gut, dass sie die Beratungsstelle nicht in jedem Fall persönlich aufsuchen mussten. Wobei das Team Klienten nach einem telefonischen Erstkontakt zu fast jedem Zeitpunkt der Krise persönliche Gespräche anbot, so dies als fachlich notwendig erkannt wurde.

Inhaltlich hat sich die Arbeit des Teams nicht wesentlich verändert, wobei es Probleme gibt, die sich durch die Krise zugespitzt haben. So ist es für Mehrfachbehinderte laut Michael Gerr aufgrund des immer gravierenderen Pflegenotstands sehr schwer geworden, Assistenten zu finden, die sie im Alltag unterstützen. In diesem Fall können die Beraterinnen und Berater auch nur bedingt helfen: „Zum Beispiel dadurch, dass wir Tipps geben, wie man die Assistenzsuche optimieren könnte.“ Die Problematik sei für die Betroffenen existenziell: „Ohne Assistenten bricht das Leben in der eigenen Wohnung zusammen, teilweise kommen die Menschen nicht mal mehr aus dem Bett heraus.“

Justizvollzugsanstalt Würzburg

Durch die Corona-Krise waren die Gefängnisse (im Bild die Justizvollzugsanstalt Würzburg) phasenweise für Externe geschlossen. Das erschwerte die Sozialarbeit

Für Menschen in seelischen Krisen, war die Einstellung von Präsenzberatung und Gruppenangeboten schwierig.

Der Druck ist groß

EUTB-Stellen beraten beim Einstieg in das Berufsleben, bei Umschulungen, Querelen mit der Krankenkasse oder bei unerfreulichen Auseinandersetzungen mit Kostenträgern. „Wir sind oft die letzte Anlaufstelle von Menschen, die schon überall gewesen sind, allerdings nirgends Hilfe fanden“, erläutert Kerstin Dick. Der Druck, unter dem die Betroffenen stehen, sei oft riesengroß. Entsprechend hoch sind laut Kerstin Dick die Erwartungen an die Beraterinnen und Berater. Gerade in den aktuellen Krisenzeiten wäre es vielen Klientinnen und Klienten am Liebsten, würden die angesprochenen Probleme von den EUTB-Beratern gelöst. Doch das sei nicht die Aufgabe des Teams: „Wir helfen vielmehr, eine Lösung zu finden.“

Nun kommt das Leben allmählich wieder in Fluss. Womit sich neue Probleme einstellen. „Manche unserer Klienten müssen erst wieder lernen, mit anderen Leuten in normalen Kontakt zu kommen“, sagt Michael Gerr. Schließlich handelt es sich bei Frauen und Männern mit Behinderung um eine Gruppe von Menschen, die besonders stark gefährdet ist. Die WüSL-Mitarbeiter helfen auch bei solchen sozialen Problemen. Gleichzeitig denkt das Team darüber nach, neue Wege in der Beratung zu gehen: „Wir planen gerade ein neues Angebot für Menschen mit Behinderung, die in der Justizvollzugsanstalt sind oder soeben entlassen wurden.“

Um Frauen, die in der JVA Aichach eine Haftstrafe abbüßen, kümmert sich Bärbel Marbach-Kliem vom Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) in Augsburg. Durch die Krise wurde die Arbeit massiv erschwert. „2020 waren die Gefängnisse fast bis in den Herbst hinein für externe Mitarbeiter geschlossen“, berichtet die Sozialpädagogin. Neu inhaftierte Frauen lernte das Team des SkF überhaupt nicht kennen. Das war laut Bärbel Marbach-Kliem sehr schwierig. Denn Frauen, die nicht schon im Gefängnis Kontakt zur Straffälligenhilfe geknüpft haben, wenden sich auch hinterher nur selten an die entsprechenden Organisationen.

Ein Problemberg wartet

Gefangene wie auch Haftentlassene sind in vielen Fällen auf Hilfe angewiesen. „Gerade am Anfang, also direkt nach der Inhaftierung, ist eine ganze Menge zu regeln“, schildert Bärbel Marbach-Kliem. So bringt ein Großteil der Frauen Schulden mit hinein in den Knast. Viele haben Kinder: „Dann heißt es zum Beispiel, Kontakt mit den Pflegefamilien aufzunehmen.“ Nach der Haftentlassung wartet ebenfalls in aller Regel ein Problemberg auf die Frauen: „Denn das, was vorher schon schwierig war, ist ja nicht dadurch gelöst, dass die Frauen längere Zeit inhaftiert waren.“

Gefangene können nach Verbüßen der Haftstrafe nicht einfach an ihr altes Leben anknüpfen. Sie haben zum Beispiel keine Wohnung mehr. „Weil der Wohnungsmarkt so katastrophal ist, landen einige unserer Frauen in der ‚Mietprostitution‘“, so Bärbel-Kliem. Um die Frauen aufzufangen, hatte die Beratungsstelle des SkF lediglich ganz am Anfang der Corona-Krise für zwei Tage geschlossen. Seitdem wird ohne Unterbrechung bis heute beraten. Nur die Gruppenveranstaltungen mussten eingestellt werden. Online-Beratung anzubieten, wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, sagt die SkF-Abteilungsleiterin: „Viele unserer Frauen haben ja nicht einmal ein Telefon.“

Die Corona-Krise traf die junge Generation anders als die ältere. Und Gesunde anders als Kranke. In einer sehr speziellen Situation befanden sich Menschen, die beim Ausbruch der Krise seelisch krank wurden. So erging es Patrick Maier. „Ich bin zufällig in den ersten Lockdown hinein erkrankt“, erzählt der 47-Jährige aus München, der unter chronischer Verstimmung und Depressionen leidet. Zunächst war dies sogar ein Glück für ihn: „Aufgrund der Situation traten viele Patienten ihren Klinikplatz nicht an.“ So wurde er rasch aufgenommen. Nach seiner Entlassung aus der Klinik allerdings mangelte es krisenbedingt an Unterstützung durch Sozialarbeiter und Therapeuten.

Zu wenig Hilfe

Menschen in seelischen Krisen, so Patrick Maier, fühlten sich im Frühjahr 2020 sehr alleine gelassen: „Bei mir hat das für große Verunsicherung gesorgt.“ Zwar sei er direkt nach der Klinikentlassung therapeutisch unterstützt worden: „Allerdings nur über eine Videosprechstunde, was ich als nicht sehr angenehm empfunden hatte.“ Patrick Maier hätte rein zeitlich mehr, und er hätte persönlichere Hilfe gebraucht. Denn der Sprung aus der Klinik zurück in den Alltag war mit sehr großen Herausforderungen verbunden gewesen.

Das durchdrang so gut wie alle Lebensbereiche. Selbstverständlichste Dinge fielen Patrick Maier plötzlich schwer: „Die Post, das Einkaufen, das Wäschewaschen.“ Man wisse nach einem Klinikaufenthalt erst mal überhaupt nicht mehr, wie man sich wieder im Leben zurechtfinden soll.

„Ich muss rückblickend sagen, dass es in der damaligen Situation einfach unfassbar wichtig für mich gewesen wäre, hätte mich jemand im persönlichen Kontakt aufgefangen“, so der Münchner. Nachdem so viele Profis aus dem psychosozialen Bereich auf Tauchstation gegangen waren, begannen die aus der Klinik entlassenen Patienten, sich untereinander zu helfen. Auch Patrick Maier gewann unter seinen Mitpatienten eine gute Freundin. Mit der er „draußen“ viele Klippen bewältigte: „Sie hat mich zum Beispiel zu Terminen begleitet, was sehr gut war, denn ich hätte oft das Haus aus eigener Kraft nicht verlassen können.“

Fotos: Pat Christ


Verfasst von:

Pat Christ

Freie Autorin