Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: September-Oktober 2022

Interview

"Kirche ist ohne Frauen nicht vorstellbar"

Foto: KNA

Seit etwas mehr als einem Jahr ist Beate Gilles Generalsekretärin der Deutschen Bischofskonferenz (DBK). Mit Gemeinde creativ hat sie über ihr Verständnis von Führungskultur gesprochen, über die Zusammenarbeit mit den Bischöfen und die Herausforderungen, vor denen Kirche momentan steht. Ihr ist wichtig, dass das Gute, das durch Kirche in der Gesellschaft geschieht, gesehen wird und nicht nur die Mängel.

Gemeinde creativ: Sie sind die erste Frau und Nichtgeistliche in Ihrem Amt als Generalsekretärin der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) – was bedeutet Ihnen das persönlich und liegt da auch eine besondere Verantwortung auf Ihren Schultern?

Dr. Beate Gilles: Die Veränderung in der Besetzung dieser Position in der Deutschen Bischofskonferenz wird wohl mit meinem Namen verbunden bleiben, auch wenn es in anderen Bischofskonferenzen schon Frauen und Männer gab, die diese Rolle ausfüllen. Viele Menschen haben diese Entscheidung der Bischofskonferenz positiv aufgenommen; sie haben es als Zeichen, dass Veränderung möglich ist, gesehen. Ich habe diese Rückmeldung als Ermutigung verstanden, mit Freude und Zuversicht das Amt anzutreten. An dieser positiven Grundstimmung hat sich auch nichts verändert.

Erzählen Sie doch mal, wie sind die Bischöfe damit umgegangen, dass da plötzlich eine Frau auf dem Chefsessel der DBK gesessen hat?

„Chefsessel“ ist nicht das richtige Bild für die Rolle der Generalsekretärin. Da kann ich nur daran erinnern, dass mein Vorgänger noch bescheidener den Titel „Sekretär“ trug. Aber ich erlebe die Zusammenarbeit mit den Bischöfen als sehr selbstverständlich und von großer Wertschätzung getragen. Vieles findet natürlich im Hintergrund statt, aber wenn ich direkt mit den Bischöfen im Gespräch bin, treffe ich auf offene Ohren.

Frauenquoten und Quotenfrauen, diese Debatte beherrscht schon seit Jahren die Diskussion in Unternehmen, aber eben auch in der Kirche. Wie stehen Sie dazu?

Dazu habe ich meine Einstellung im Lauf der Jahre verändert. Als jüngere Frau habe ich noch gedacht, dass Qualität sich einfach durchsetzt. Das sehe ich inzwischen anders und ertappe mich selbst dabei, dass bei mir bestimmte Rollenmuster immer noch greifen. Wir brauchen an bestimmten Stellen klare Vereinbarungen in der paritätischen Besetzung von bestimmten Ämtern und Funktionen oder Regeln, dass Frauen und Männer sich abwechseln. Dass nur Personen in eine Funktion berufen oder auch gewählt werden können, wenn sie diese auch ausfüllen können, versteht sich von selbst. Ich selbst bin mir bewusst, dass es jetzt eine Generalsekretärin gibt, weil die Bischöfe das wollten und ich finde, das ist gut so!

Die katholische Kirche erscheint nach außen hin immer noch sehr hierarchisch und klerikal – und damit auch sehr männlich – geprägt. Muss sich das ändern?

Sie sprechen ein Thema an, mit dem wir uns beim Synodalen Weg intensiv beschäftigen: Die Synodalforen „Macht und Gewaltenteilung in der Kirche – Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag“ und „Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche“ befassen sich genau mit diesen Themen. Wir stehen also nicht mehr vor der Frage „muss sich etwas ändern?“, sondern „wie ändern wir das?“. Aber es ist auch schon vieles in Bewegung geraten – seit Jahren: Kirche ist ohne Frauen nicht vorstellbar. Ob das die Ministrantinnen, Gemeinderefentinnen, Theologieprofessorinnen oder viele andere Aufgaben sind. Ich bin sehr froh, dass Frauen im Vatikan mittlerweile in Führungspositionen sind – und zwar da in der Kurie, wo normalerweise ein Erzbischof sitzen würde.

Sind es trotz wohlmeinender Programme für Frauen in Führungspositionen immer noch die Männer, die die entscheidenden Posten – also die, in denen es um Einfluss, Macht und Finanzen geht – besetzen?

Immer mehr Bistümer setzen auf eine Doppelspitze von Generalvikar und (in den meisten Fällen) Amtschefin und machen damit sehr gute Erfahrungen. Auch gibt es einige Finanzdirektorinnen, Leiterinnen von Katholischen Länderbüros, die Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes ist eine Frau. Nichtsdestotrotz: Wie in jedem Unternehmen werden offene Stellen mit der besten Bewerberin/mit dem besten Bewerber besetzt, wobei Frauen bevorzugt behandelt werden. Männliche Führungskräfte, die eine Stelle innehaben, können aber auch nicht einfach abgesetzt werden. Vielleicht ist meine Wahl zur Generalsekretärin für viele Einrichtungen auch ein Ansporn. Wir haben bei uns im Sekretariat mehrere Frauen auf wichtigen Führungspositionen. Und doch möchte ich Frau und Mann nicht ausspielen. Das ZdK hat es uns ja gezeigt: Eine Präsidentin wurde gewählt, aber die Stelle des Generalsekretärs ist mit einem Mann besetzt worden. Ihre Beispiele zeigen auch, wir müssen in beide Richtungen, vielleicht so gar in viele Richtungen schauen, Perspektiven, die unterrepräsentiert werden, müssen bei Nachbesetzungen verstärkt berücksichtigt werden.

Wenn Sie gekonnt hätten, aus welchen Gründen hätten Sie den Weg zur Priesterin eingeschlagen? Oder war das nie ein Ziel für Sie?

Ich bin als Kind ja schon über die Schwelle zur Messdienerin gekommen. Das war eine wirkliche Sehnsucht für mich. Ob sich hier etwas verschlossen hat, was bei einer offenen Tür vielleicht andere Fragen eröffnet hätte, kann ich jetzt nicht mehr sagen. Für mich war es nie ein Ziel, Priesterin zu werden und ich glaube, dass dies auch eine wichtige Bedingung war für die Aufgaben, die ich dann übernommen habe. Denn in den verschiedenen Positionen, die mir übertragen worden sind, konnte ich meine Berufung auf sehr unterschiedliche Weise einbringen und entfalten.

Die katholische Kirche hat es in der Gesellschaft gerade nicht leicht. Missbrauch, explodierende Austrittszahlen und fehlende Glaubwürdigkeit. Wie bekommen wir das in den Griff?

Die Aussage, dass wir es nicht leicht haben in der Gesellschaft, würde ich so nicht formulieren. Die tiefgreifenden Krisen sind ja nicht von außen auferlegt, sondern legen die Probleme der Kirche offen, an denen wir arbeiten müssen. Die MHG-Studie und die Aufarbeitungsstudien der Bistümer zeigen uns immer wieder das erschreckende Ausmaß von Missbrauch und Vertuschung auf. Die Austritte und die fehlende Glaubwürdigkeit sind eine Folge dessen. Wir dürfen in unseren Bemühungen nicht nachlassen, Strukturen zu verschärfen und zu schaffen, die Missbrauch verhindern. Wir brauchen eine konsequente Aufarbeitung und müssen uns Fehlern ehrlich stellen.

Eine Folge der MHG-Studie ist der Synodale Weg, der die verschiedenen Fragestellungen bearbeitet, die uns gestellt werden. Dennoch gibt es natürlich kein Patentrezept, wie wir Menschen von uns und der Frohen Botschaft überzeugen können. Das heißt aber nicht, dass wir aufgeben – ganz im Gegenteil! Eines ist klar: Die sinkenden Zahlen können wir nicht umdrehen, aber wir müssen daran arbeiten, dass der Trend verlangsamt wird. Ja, es gibt ein großes Skandalisierungspotential in der Kirche, aber es gibt auch viele Chancen. Müssen wir immer nur eine Negativbetrachtung durchführen, so wie in Ihrer Frage? Warum sehen wir – bei allen Problemen – nicht auch das Positive? 908 katholische Schulen, 780.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Caritas, engagierte Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger gerade bei den Katastrophen der vergangenen Monate. Es gibt auch das positive Bild von Kirche und nicht nur die Mangelverwaltung. Und die, die Kirche als Gemeinschaft, die trägt, erleben, dürfen davon erzählen.

Es ist viel von der „Lebenswirklichkeit der Menschen“ die Rede und dass die Kirche diese nicht ignorieren dürfe. Kardinal Reinhard Marx hat einmal gesagt, die Kirche könne nicht neben der Gesellschaft existieren – wie viel „Weltliches“ aber verträgt die katholische Kirche?

Die Kirche ist Teil der Gesellschaft. Die Zahl der Priester beträgt 12.280 von insgesamt 21.645.875 Katholikinnen und Katholiken. Das lasse ich einmal so stehen. Es gibt notwendige Änderungen, die passieren müssen, und um diese wird beim Synodalen Weg gerungen. Wenn wir uns als Kirche rein auf die Kirchenmauern zurückziehen, wenn wir uns aus der gesellschaftlichen Debatte verabschieden, dann verraten wir das Evangelium. Wir müssen das Salz in der Gesellschaft bleiben, mit unseren Werten, mit der Botschaft des Evangeliums. Dass diese Botschaft nicht unhinterfragt bleibt, zeigt ja gerade, dass sie in und zu der Gesellschaft gehört.

In Deutschland gibt es den Synodalen Weg, in den einzelnen Diözesen laufen Strategieprozesse. Man kann den Eindruck bekommen, die katholische Kirche ist in Bewegung. Aber: sind es die Verantwortlichen, die die Reformen aus Überzeugung antreiben, oder sind sie eher Getriebene?

Hier zitiere ich aus dem Pressebericht des damaligen Vorsitzenden, Kardinal Reinhard Marx, der Frühjahrvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz 2019 in Lingen: „Einstimmig haben wir beschlossen, einen verbindlichen synodalen Weg als Kirche in Deutschland zu gehen, der eine strukturierte Debatte ermöglicht und in einem verabredeten Zeitraum stattfindet und zwar gemeinsam mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Wir werden Formate für offene Debatten schaffen und uns an Verfahren binden, die eine verantwortliche Teilhabe von Frauen und Männern aus unseren Bistümern ermöglichen. Wir wollen eine hörende Kirche sein. Wir brauchen den Rat von Menschen außerhalb der Kirche.“

In Bayern stellen wir fest, dass wir uns als kirchliche Akteure immer schwerer tun, mit unseren christlichen Positionen in Zivilgesellschaft und Politik gehört zu werden. Wir erleben teils heftige Kritik bis hin zur Ablehnung. Machen Sie ähnliche Erfahrungen?

Diskussionen und Ringen um Positionen sind wichtige Elemente unserer Gesellschaft. Dass manche politischen Entschlüsse entgegen unserer christlichen Überzeugung entschieden werden, wie beispielsweise bei der Debatte um Schwangerschaftsabbrüche und § 219a StGB, bedauern wir natürlich. Auch wenn wir Kritik oder Ablehnung erfahren, ist es doch wichtig, uns weiterhin einzubringen und zuzuhören. Hier wird es auch darauf ankommen, dass wir nicht nur Überzeugungen formulieren, sondern sie auch leben; wenn ich in die Geschichte schaue, dann ist mein Vertrauen groß, dass dies Wirksamkeit entfaltet.

Was macht für Sie spirituelle Führungsstärke aus?

Da kommt mir eine Bibelstelle in den Sinn, Exodus 16, 2: „Die ganze Gemeinde der Israeliten murrte in der Wüste gegen Mose und Aaron.“ Der Kontext ist, dass das Volk sich auf den Ruf Gottes hin auf den Weg gemacht hat. Und Führung wird dann wichtig, wenn es schwierig wird. So auch auf dem Weg des Exodus; es kommt der Punkt, an dem die Frage gestellt wird, war es richtig, zu gehen? Da gilt es, auch ein „Murren“ auszuhalten und ich finde es großartig, dass unser Glaube viele Geschichten erzählt, in denen genau im Zweifel, in der Verzweiflung und dann, wenn es nicht gut läuft, Gott sichtbar wird. So auch in dieser Geschichte, in der die Antwort Gottes das Brot vom Himmel ist und es ist eben Gott und nicht Mose, der dies bewirkt, auch dies gehört zur Führungsstärke. Und dann: immer wieder eine Gruppe zu finden und zu bilden, die aufbricht in eine offene Zukunft hinein. 

Dr. Beate Gilles (*1970) ist seit Juli 2021 Generalsekretärin der Deutschen Bischofskonferenz (DBK). Sie ist die erste Frau und Nichtgeistliche in diesem Amt. Die promovierte Liturgiewissenschaftlerin war von 2000 bis 2010 Geschäftsführerin des Katholische Bildungswerk Stuttgart. Anschließend war sie Dezernentin für Kinder, Jugend und Familie im Bistum Limburg. Beate Gilles ist Mitglied von pax christi und engagierte sich viele Jahre lang im Bundesvorstand von IN VIA, dem katholischen Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit.


Verfasst von:

Alexandra Hofstätter

Geschäftsführerin des Landeskomitee der Katholiken in Bayern.