Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: September-Oktober 2022

Katholisch in Bayern und der Welt

Meisterin der Strategie und Bibelauslegung

Foto: Gosebrink

Zehn Jahre Kirchenlehrerin Hildegard von Bingen (1098-1179)

Was verbinden Sie mit Hildegard von Bingen? Keine Frau aus dem Mittelalter ist in Deutschland so berühmt wie sie. Doch ihr Name ist nicht geschützt. Das führt zu einer erstaunlichen Vielfalt an Büchern und Veranstaltungen, vor allem auf dem Gesundheitsmarkt. Seit langem warnt die Stiftung Warentest vor überteuerten Hildegard-Produkten und -Ratgebern. Was also geht tatsächlich auf sie zurück?

Hildegard entstammt einer adeligen Familie aus Rheinhessen und kommt schon als junges Mädchen ins Kloster auf den Disibodenberg an der Nahe. Das bedeutet eine große Chance. Hildegard lernt und lebt den Alltag einer Benediktinerin: Lesen und Schreiben, Singen und Latein, das Studium von Bibel und Kirchenvätern. Sie bleibt von der Ehe, vielen Schwangerschaften und hoher Kindbettsterblichkeit verschont. Hildegard betont ihr ganzes Leben lang, wie ungebildet sie sei – dies entspricht mittelalterlichen Selbstzeugnissen schreibender Ordensleute. Hildegard ist eine sehr belesene Intellektuelle.

Mit Ende dreißig wird sie Leiterin der Schwesterngemeinschaft auf dem Disibodenberg. Mit Anfang vierzig beginnt sie ihr erstes Buch Scivias („Wisse die Wege“), zu dem sie ihrer Meinung nach Gott berufen hat. Hildegard nutzt einflussreiche Männer, damit ihr Buch anerkannt wird: den berühmten Zisterzienser Bernhard von Clairvaux und seinen Schüler, Papst Eugen III.

Pflanzen- und Kräuterkunde ist oft das erste, was man mit Hildegard von Bingen in Verbindung bringt. Dabei kann man von der Kirchenlehrerin so viel lernen, zum Beispiel, in Sachen Macht und Strategie, Bibelauslegung und Schöpfungsverantwortung. Foto: Behewa / Adobe stock

Hildegard wird heute manchmal als Revolutionärin dargestellt. Aber wer die Quellen liest, kann entdecken, dass sie nichts umstürzt, sondern eine Meisterin der Strategie ist. Frauen gelten zu ihrer Zeit als schwach. Hildegard schreibt keinesfalls, dass Frauen nicht schwach seien. Aber gelten nicht bei Gott andere Maßstäbe? Hat er nicht das Schwache erwählt, um das Starke zunichte zu machen (1 Kor 1,26-29)? Also ist es plausibel, dass Gott die „schwache“ Hildegard zur Prophetin beruft, wenn die männlichen Amtsinhaber der Kirche versagen. Durch seine Prophetin lässt er die Kirche wissen, was der Sinn der Bibel ist.

Von Hildegard lernen

Heute müssen wir nicht den mittelalterlichen Glauben an die Schwachheit der Frauen fortschreiben. Aber von Hildegard können Männer und Frauen, Ehrenamtliche und Hauptamtliche lernen: Es ist hilfreich, das System, in dem wir unterwegs sind – egal ob mit oder ohne Leitungsfunktion – gut zu kennen und dessen Ressourcen zu nutzen. Wir bewegen uns immer innerhalb von Grenzen. Wo Grenzen sind, gibt es auch Spielräume, die wir füllen können. Hildegard ist eine Meisterin darin, Strukturen zu nutzen und Spielräume zu füllen.

Bei aller Taktik hat sie keine Scheu vor klarer Kritik. So weist sie Kaiser Friedrich Barbarossa zurecht, weil der einen Gegenpapst etabliert und so eine Kirchenspaltung in Europa verursacht. Dem Kölner Klerus wirft sie vor, ohne Licht zu predigen und damit bestenfalls im Sommer einige Fliegen zu verscheuchen. An das Ordinariat in Mainz schreibt sie, der Teufel spreche zuweilen auch durch ungerechte Entscheidungen der kirchlichen Amtsträger.

Ihr Werk

Hildegards frühes Bemühen um Anerkennung geht auf. Bald gründet sie bei Bingen ein eigenes Kloster. Weitere Schriften folgen, die in der klostereigenen Schreibstube kopiert und an befreundete Klöster versandt werden. Durch die Handschriften, die bis heute erhalten sind, können wir verlässlich sagen, bei welchen Werken sie tatsächlich die Autorin ist: Scivias ist der erste Teil einer dreibändigen Theologie, in der Hildegard in gewaltigen Bildern die Bibel auslegt. Außerdem sind ihre Auslegungen zu den Evangelien der Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres erhalten, die für ihre Schwesterngemeinschaft entstanden. Ihr Briefwechsel ist überliefert: Hildegard war im Kontakt mit kirchlichen und weltlichen Mächtigen, Päpsten und Bischöfen, Kaisern und Gräfinnen, mit anderen Klöstern und Einzelnen, die sie um Rat fragten. Hildegard schuf eigene Schriftzeichen und Vokabeln einer eigenen Sprache. Sie dichtete und komponierte: Überliefert sind 77 Gesänge inklusive Noten, die in ihrem eigenen und in befreundeten Klöstern im Gottesdienst gesungen wurden, außerdem ein Singspiel über den Weg der Seele zu Gott.

Die neue Abtei St. Hildegard im Weinberg oberhalb von Eibingen. Foto: Gosebrink

Zu Hildegards Zeit wird die Kirche erschüttert durch die Katharer. Das war ursprünglich eine Protestbewegung gegen Missstände in der Kirche. Die Katharer glauben, dass alles Materielle nicht Gottes gute Schöpfung sein kann, sondern ein Werk des Teufels ist, vor allem der Leib – und der vor allem unterhalb des Bauchnabels, wo Verdauung und Sexualität ihren Platz haben. Daher predigen sie Askese; die Ehe ist ihnen suspekt. Hildegard liest jedoch in der Genesis, dass Gottes Schöpfung gut ist – inklusive seinem Auftrag an Mann und Frau, fruchtbar zu sein (Gen 1,28). Also hat auch die Ehe ihren Platz in der Kirche; und die Sexualität ist gut. Wenn Gott in Christus Mensch wird, sagt er Ja zu allem, was er geschaffen hat. Die Menschwerdung Gottes liest Hildegard als Gottes große Liebeserklärung an seine Schöpfung.

Mensch und Schöpfung

Hildegard hat wie ihre Zeitgenossinnen und Zeitgenossen ein anthropozentrisches Weltbild. Das bedeutet: Der Mensch steht im Mittelpunkt. Heute gibt es kritische Anfragen zu dieser Haltung, dass sich alles um uns Menschen drehen müsse. Aber Hildegards Menschenbild ist kein Freibrief. Gott hat den Menschen mit allen guten Gaben vor den anderen Geschöpfen ausgezeichnet und ihm eine große Aufgabe zugedacht. Sie sieht den Menschen vernetzt mit dem ganzen Kosmos. Beutet er die Schöpfung aus, schadet er letztlich sich selbst. Sie hört die Elemente – das heißt im mittelalterlichen Verständnis: Feuer, Wasser, Erde, Luft – klagen, dass die Menschen sie missbrauchen. Die Luft stinkt vor Schmutz; die Wasser geraten aus den Fugen; die Erde verliert ihre Grünkraft. Der Mensch wird krank. Von Hildegard lässt sich lernen, dass die biblische Vorstellung, der Mensch sei Ebenbild Gottes und berufen, über die übrige Schöpfung zu „walten“ (so die aktuelle Einheitsübersetzung in Gen 1,26), eine verantwortungsvolle Leitungsaufgabe bedeutet, für die Gott den Menschen zur Rechenschaft zieht.

Hildegard stirbt mit 81 Jahren in Bingen. Der bald angestrengte Heiligsprechungsprozess versandet. Erst 2012 spricht Papst Benedikt XVI. Hildegard offiziell heilig und ernennt sie zur Kirchenlehrerin. Sie ist die vierte Frau und die dritte Deutsche unter den 37 Kirchenlehrerinnen und Kirchenlehrern. Heute gilt sie vielen als Urheberin von Rezepten. Das passt zu unserer Sehnsucht nach raschen Antworten. So einfach ist es mit den Schriften der großen Benediktinerin aus dem zwölften Jahrhundert nicht. Auch Kirchenlehrerinnen und Kirchenlehrer sind Kinder ihrer Zeit. Nach katholischem Verständnis sind ihre Werke nicht irrtumsfrei. Aber uns wird empfohlen, uns mit ihnen auseinander zu setzen. Wer den Dialog mit Hildegard wagt, erfährt reiche Inspiration: zu aktuellen Themen wie Frauen und Männer, Macht und Strategie, Bibelauslegung und Schöpfungsverantwortung. Bei dieser Kirchenlehrerin können wir in die Schule gehen für unsere Verantwortung in der Kirche und der Welt von heute.


Titelfoto: Häuserwand in Bingen mit Bild Hildegards zwischen Bildern ihres Klosters Rupertsberg.


Verfasst von:

Hildegard Gosebrink

Leiterin der Arbeitsstelle Frauenseelsorge der Freisinger Bischofskonferenz