Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: Januar-Februar 2023

Interview

„Armut hat viele Gesichter“

Foto: privat

Die Gemeinschaft Sant’Egidio steht für internationale Friedensarbeit und eine Hinwendung zu den Armen und Ausgestoßenen der Gesellschaft auf der Grundlage des Evangeliums. Ursula Kalb gehörte zu den Gründungsmitgliedern von Sant’Egidio in Deutschland – das war in den 1980er Jahren. Mit Gemeinde creativ hat sie darüber gesprochen, was Sant’Egidio von anderen Sozialdiensten unterscheidet, wie sich der Ukraine-Krieg auf ihre Arbeit auswirkt und warum sie trotz allem positiv in die Zukunft blickt.

 

 

 

Gemeinde creativ: Sie engagieren sich bei Sant’Egidio, wie sind Sie auf die Gemeinschaft aufmerksam geworden?

Ursula Kalb: Inzwischen ist Sant’Egidio international bekannt. Als ich die Gemeinschaft kennengelernt habe, war sie das noch nicht. Ende der 1970er Jahre bin ich als Schülerin bei einer Jugendfahrt, organisiert von der Katholischen Jugend in Nürnberg, das erste Mal mit Sant’Egidio in Kontakt gekommen. Dort habe ich junge Menschen getroffen, die mit großer Überzeugung ein sehr authentisches Christentum gelebt haben: sie haben uns erzählt, dass sie aus dem Evangelium Kraft und Orientierung schöpfen für ihr Engagement in der Peripherie von Rom, wo sie sich vor allem um die Armen gekümmert haben.

Wir haben schnell gemerkt, dass zwischen diesen jungen Leuten von Sant’Egidio und den Armen eine ganz andere Beziehung da war. Sie bezeichneten die ärmeren Menschen nicht als „Klienten“ oder „Kunden“, sondern als „ihre Freunde“. Und sie gingen zum gemeinsamen Abendgebet, um aus der Schrift zu lernen. Beides bezog sich aufeinander. Was ich in unseren Pfarreien daheim oft als getrennt wahrgenommen hatte, war dort eins: Gebet und Hilfe für die Armen. Das hat mich sehr fasziniert – und es hat mich überzeugt, auch weil das Christentum auf diese Weise sehr konkret wird. Die „Armen des Evangeliums“ werden so die „Armen unserer Stadt“.

Wie ging Ihre Reise mit Sant’Egidio dann weiter?

Als ich studiert habe, haben wir in Würzburg eine erste Gemeinschaft in Deutschland gegründet. Wir gingen in das Armenviertel am Stadtrand. Dort wohnten viele Sinti-Familien, aber auch sehr arme deutsche Familien – und sie alle lebten nicht nur lokal, sondern auch gesellschaftlich völlig am Rand der Stadt. Die Kinder kamen oft schon ab der ersten Klasse in Sonderschulen, hatten eigentlich keine Chance in unserer Gesellschaft.

In welchen Kontexten haben Sie bei Sant’Egidio mit „Armut“ zu tun?

Armut begegnet man überall, wenn man nur mit offenen Augen durch die Welt geht. Entscheidend ist aber, dass man hingeht, sich den Armen bewusst zuwendet, ihnen dort begegnet, wo sie leben. In München betreiben wir seit einigen Jahren die „Mensa Sant’Egidio“, die jeden Samstag geöffnet ist. Die Menschen, die zu uns kommen, bekommen gutes, warmes Essen. Die Mahlzeiten sind kostenlos. Inzwischen geben wir jeden Samstag mehr als 400 Essen aus, die Zahl der Bedürftigen wächst. Wir konnten das schon während der Corona-Pandemie spüren, jetzt durch den Ukraine-Krieg und die daraus resultierende Inflation und die Energiekrise hat sich die Situation für viele nochmals verschärft. Wir sehen aber auch: die Armut wächst insgesamt.

Ein ganz normaler Tag in der Mensa von Sant’Egidio in München – welche Menschen trifft man dort?

Armut hat viele Gesichter und mit jedem einzelnen Menschen, der zu uns kommt, zeigt sich eine andere, individuelle Seite von Armut. Deswegen kann man nicht pauschal von „den Armen“ sprechen.

Es kommen zum Beispiel viele ältere Menschen mit kleiner Rente zu uns, die, um ihre Wohnung behalten zu können, alle Angebote für kostenfreie Mahlzeiten annehmen, darunter Münchnerinnen und Münchner, viele ältere Migrantinnen und Migraten aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Ex-Jugoslawien oder Gastarbeiter. Zu uns kommen auch Menschen, die auf der Straße leben. Unter den Obdachlosen sind viele jüngere Männer aus Osteuropa, die zum Arbeiten nach Deutschland gekommen sind und dann leider oft in prekären, kaum bezahlten Jobs enden und jedes bisschen Geld, das sie verdienen, an ihre Familie schicken. Darunter sind häufig auch Roma, die in ihren Heimatländern von der Gesellschaft ausgeschlossen sind und dort keine Chance auf Arbeit hätten. Aber auch Menschen, die in Notunterkünften der Stadt leben, weil sie ihre Wohnung verloren haben. In letzter Zeit kamen natürlich sehr viele Frauen mit ihren Kindern, die aus der Ukraine geflüchtet sind, deren Angehörige oft in der Ukraine geblieben sind und die von Tag zu Tag bangen, ob es ihnen gut geht.

Sie geben den Leuten Zettel mit einer Uhrzeit für den kommenden Samstag, warum? 

Vor der Pandemie haben wir in der Mensa gemeinsam gegessen. Es war wie in einem Restaurant, nur mit dem Unterschied, dass man am Ende nichts bezahlen muss. Das war während der Corona-Pandemie nicht mehr möglich. Seitdem holen sich die Leute ihr Essen in Einmalpaketen ab. Wer möchte, kann an einigen der aufgebauten Tische und Bänke gemeinsam essen. Lange Schlangen vor der Essensausgabe fanden wir entwürdigend. Wir wollen, dass die Menschen sich bei uns willkommen fühlen, als Gäste. Wir sprechen sie mit ihrem Namen an. So entstehen freundschaftliche Beziehungen. Wir hören zu und unterstützen bei Alltagsfragen. Deswegen bekommt jeder Gast für die nächste Woche einen Zettel mit einer Uhrzeit, damit alle schnell bedient werden können.  

Sant’Egidio arbeitet viel mit Geflüchteten, wie ist die Situation hier?

Flucht ist ein internationales Problem. Wir wissen alle, wie viele Menschen auf der Flucht sterben. Sant’Egidio macht sich seit Jahren für Möglichkeiten der legalen Einreise nach Europa stark. Man löst das Problem nicht dadurch, dass man die europäischen Grenzen schließt. Die Fluchtgründe sind vielfältig – und sie werden mehr. Neben Krieg und Hunger müssen Menschen in immer mehr Regionen ihre Heimat wegen des Klimawandels verlassen. Das Thema „Flucht“ wird leider immer noch dazu missbraucht, um politische Ziele durchzusetzen. Das führt aber wieder nur zu Diskriminierung und Ausgrenzung. Wir sehen immer wieder, wie über Geflüchtete im gesellschaftspolitischen Diskurs gesprochen wird – Stichwort „Sozialtourismus“. Das schürt Angst in unserer Bevölkerung. Diese Angst bräuchten wir aber nicht zu haben. Deutschland ist eines der reichsten Länder der Erde, wir können die Integration von den Geflüchteten, die zu uns kommen, leisten, ohne dass dabei die „eigenen Leute“ auf der Strecke bleiben.

Der Krieg in der Ukraine hat vieles verändert. Plötzlich ist der Krieg sehr nahe. Anfangs war die Stimmung gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen sehr positiv, das droht zu kippen. Es muss uns gelingen, eine Willkommenskultur – für alle Geflüchteten, egal mit welchem Pass – zu schaffen und dauerhaft aufrecht zu erhalten. Wir müssen Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen, als Bereicherung für die eigene Gesellschaft sehen, nicht immer nur als Last.

Ganz konkret haben wir von Sant’Egidio uns zu Beginn des Ukraine-Kriegs dafür eingesetzt, dass Dialysepatienten aus der Ukraine, deren medizinische Versorgung dort nicht mehr sichergestellt war, hier in Bayern aufgenommen werden konnten.

Sant’Egidio steht auch für Friedensarbeit – sehen Sie den sozialen Frieden gefährdet?

Ja. Ich sehe mit großer Sorge, wie die Gesellschaft auseinanderdriftet. Solidarität ist vielfach nicht mehr selbstverständlich. Man geht weniger aufeinander zu, man spürt weniger Mitgefühl gegenüber Menschen in Not. Eine Solidargemeinschaft zu leben, bedeutet, zu akzeptieren, dass die Stärkeren die Schwächeren mitziehen müssen. Immer mehr Menschen beharren auf dem Eigenen, haben Angst, vom persönlichen Wohlstand etwas einzubüßen, tun sich schwer mit dem Teilen, bleiben lieber „unter sich“. Diese Individualisierung unserer Gesellschaft ist keine gute Entwicklung. Auf der anderen Seite sehen wir aber auch, dass es Hilfsbereitschaft gibt, wenn man konkrete Vorschläge macht. 

Macht es Sie manchmal wütend, so viel Armut in einem reichen Land wie Deutschland zu sehen?

„Wütend“ ist vielleicht der falsche Ausdruck, aber besorgt, ja, das schon. Menschen auszugrenzen tut niemandem gut. Der Reichtum auf der einen und die Armut auf der anderen Seite – beide Seiten entfernen sich immer weiter voneinander und die Menschen kommen nicht mehr zusammen. Hier müssen wir neue Wege gehen, Brücken bauen, Wege des Miteinanders suchen. Wir müssen Orte schaffen, an denen Begegnungen stattfinden können. Wir müssen ein Bewusstsein aufbauen, dass der Bettler auf der Straße genauso Mensch ist wie ich, nur mit einem anderen Schicksal. Dass der Flüchtling aus der Ukraine dieselben Wünsche hat wie ich und einfach nur in Frieden leben möchte. Wir haben uns als Gesellschaft vielleicht zu sehr auf die Institutionen verlassen: „Es wird schon jemand zuständig sein.“ Als geistliche Gemeinschaft ist unsere Grundlage die Schrift. Das Evangelium ist ein Buch großer Weisheit, der Menschlichkeit, der Barmherzigkeit, aber auch des Zusammenlebens von Verschiedenen. Daraus lernen wir. Vor jeder „Mensa“ treffen wir uns zum Gebet, bei dem das Lesen der Schrift und die Predigt im Mittelpunkt stehen. So wird der Dienst mit den Armen keine soziale Arbeit, sondern gelebtes Evangelium. Daraus erwächst persönliches Engagement und persönliche Verantwortung für die Gesellschaft. Wir haben gute Institutionen und Einrichtungen. Doch wir arbeiten kostenlos, unentgeltlich. Das ändert die Beziehung. Die Mensa von Sant’Egidio ist so ein Ort, wo Begegnung geschieht und Freundschaft entsteht, ein Zuhause für die, die kein Zuhause haben. Hier werden Vorurteile abgebaut, hier wandelt sich der Blick auf andere. Ich schaue nicht pessimistisch in die Zukunft, weil ich sehe, wie viele Menschen guten Willens es gibt, die bereit sind, sich zu engagieren, zu spenden und sich einbringen wollen. Wenn uns die Pandemie eines gelehrt hat, dann das: Retten können wir uns nur gemeinsam.

Ursula Kalb (63), geboren in Nürnberg, hat Theologie in Eichstätt, Innsbruck und Würzburg studiert. Während ihrer Studienzeit in Würzburg gründete sie die Gemeinschaft Sant’Egidio in Deutschland mit. Danach hat sie viele Jahre lang als Referentin für Gemeindecaritas beim Diözesancaritasverband in der Diözese Würzburg gearbeitet. Aktuell ist sie Verantwortliche für die Gemeinschaft von Sant’Egidio in Deutschland.


Verfasst von:

Alexandra Hofstätter

Redaktionsleiterin der Zeitschrift "Gemeinde Creativ" beim Landeskomitee der Katholiken in Bayern.