Ausgabe: Januar-Februar 2023
SchwerpunktArmut und Nächstenliebe

Der achtungsvolle Umgang mit Benachteiligten und von Armut betroffenen Menschen ist elementar für unser christliches Glaubens- und Selbstverständnis: Achtung der Würde, Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft sind zentrale und von Jesus uns mit auf den Lebensweg gegebene Botschaften.
Doch wie mit Armut umzugehen ist, bleibt oft strittig: Arme seien nicht benachteiligt, die staatliche Grundsicherung sei hinreichend. Arme hätten in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern gute Lebensbedingungen. Oder Armut sei oft eine Folge persönlicher Untätigkeit. Oder Armut wäre meist nur von kurzer Dauer. Oder Armut könne gesellschaftlich nie behoben werden. Oder Armut sei eine notwendige „Lohnpeitsche“, um Menschen mit geringen Lohn- und damit Anerkennungschancen zu Erwerbsarbeit zu zwingen.
Das alles widerspricht – so pauschal – wissenschaftlichen Erkenntnissen. Es vergleicht zum Beispiel hier Lebende mit fernen Gesellschaften und gliedert Arme damit (ohne es zu sagen) aus unserer Gesellschaft aus. Oder Menschen werden als Wirtschaftsfaktor – wie eine würdelose Sache – behandelt. Zudem zeigen statistische Modellrechnungen, dass Armut durchaus behebbar ist, das notwendige Umverteilungsvolumen wäre gegeben.
Arm und Reich
Sinnvollerweise muss sich ein Armutsbegriff – als Maß für die Achtung der Würde – am Lebensstandard in der Gesellschaft orientieren. In volkswirtschaftlich sehr schwachen Ländern gilt als arm, wessen physisches Überleben akut gefährdet ist (Hungersnot, Wassermangel, fehlende Gesundheitsversorgung usw.). Demnach sind laut Weltbank derzeit weltweit etwa zehn Prozent der Menschen arm – mit steigender Tendenz (Stichworte: Corona, geopolitische Auseinandersetzungen, Folgen des Klimawandels). Eine gemäßigte Armut war in den Ländern der sogenannten Dritten Welt in den vergangenen Jahrzehnten nie rückläufig.
In entwickelten Volkswirtschaften orientiert sich das Armutsverständnis meist daran, was Menschen brauchen, um in ihrer Gesellschaft nicht gänzlich ausgegrenzt und missachtet zu sein. Eine solche Armutsschwelle definiert sich EU-weit am Lebensstandard in der Mitte der Gesellschaft (genauer: am medianen Nettoäquivalenzeinkommen), vermindert um 40 Prozent. Wie weit sich der Lebensstandard in der oberen Hälfte der Gesellschaft von der unteren Hälfte entfernt (Zunahme von Millionären usw.), ist für die Armutsquoten bedeutungslos (nur Erfassung der Ungleichheit in der unteren Hälfte der Gesellschaft). Das gilt auch für die Vermögensarmut: Wer weniger als 60 Prozent des medianen Nettovermögens hat, gilt als vermögensarm.
Ein Hinweis zur Inanspruchnahme der Grundsicherung: Die Grundsicherung hat keinen Bezug zu einem mittleren gesellschaftlichen Lebensstandard, denn das Existenzminimum wird von den 20 Prozent der Einkommensschwächsten in der Gesellschaft mit nochmaligem Abschlag abgeleitet (2018: 792 Euro monatlich für einen Ein-Personen- Haushalt). Dabei nehmen etwa 25 bis 50 Prozent der Berechtigten (je nach Haushaltstyp) die Grundsicherung aufgrund verschiedener Faktoren (Ängste, Unkenntnis, Überforderung) nicht in Anspruch, womit dieses Maß für Armutsbeschreibungen untauglich ist.
Armut in Zahlen
Im Jahr 2021 lag die Armutsschwelle in Deutschland beispielsweise für einen Ein-Personen-Haushalt bei 1.148 Euro Nettoeinkommen pro Monat (für jede weitere Person im Haushalt zusätzlich etwa 50 Prozent). Das mediane Einkommen in einem von Armut betroffenen Ein-Personen-Haushalt betrug circa 920 Euro. Die Armutsquote (oft auch als Armutsgefährdungsquote bezeichnet, weil nicht jeder mit niedrigem Einkommen wirklich arm sei – wobei „vergessen“ wird, dass auch viele Menschen über der Armutsgrenze durch hohe Belastungen unter die Armutsschwelle sinken, was sich quantitativ in etwa ausgleicht) lag 2021 bundesweit bei 16,6 Prozent, trendmäßig hat sie sich seit 2010 erhöht (Quote in Bayern 2021: 15,5 Prozent, gemessen am bayerischen Medianeinkommen, um u.a. das in Bayern höhere Preisniveau und den damit geringeren Realwert von Einkommen zu berücksichtigen).
Bundesweit von Armut betroffen waren 2021 insbesondere unter 25-jährige und über 65-jährige, Erwerbslosen- und Rentner-Haushalte, Alleinerziehende und Haushalte mit drei und mehr Kindern, Personen mit niedrigem Schulabschluss und mit Migrationshintergrund. Ähnliches gilt für Bayern, nur mit einer noch ausgeprägteren Altersarmut. Prognoserechnungen sagen für Deutschland eine langfristig erheblich zunehmende Altersarmut voraus.
Vermögensarmut
Extrem ist die Vermögensarmut in Deutschland: 50 Prozent der Bevölkerung hat nur etwa 1,4 Prozent des gesamten individuellen Nettovermögens, allein das oberste Prozent der Bevölkerung hatte etwa 35 Prozent, die obersten 10 Prozent circa 67 Prozent. Die unteren 25 Prozent der Bevölkerung hatten nur Schulden oder kein nennenswertes Vermögen. Politische Aussagen, die mit einem Durchschnittsvermögen der Haushalte in Deutschland argumentieren, sind damit hinsichtlich der sozialen Lage „Ablenkungsmanöver“. Die Vermögensarmutsquote liegt demzufolge bei mindestens 40 Prozent, eher 50 Prozent (je nach Datenbasis) – mit langfristig steigender Tendenz unter anderem aufgrund der hohen Inflation, die besonders kleine Geldsparbeträge „im Zeitraffer“ real vernichtet.
Die wichtigsten Auslöser von Einkommens- und Vermögensarmut sind eigene Kinder in Verbindung mit Niedriglohn, Erwerbslosigkeit und Trennung, aber auch die Pflege Angehöriger sowie zunehmend hohe Mieten und Nebenkosten und unterschiedlich vererbte Vermögen.
Und wie sieht es mit Vorschlägen zur Armutsbekämpfung aus? Das ausgeprägte Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahrzehnte hat die Armut wenig vermindert: So nahm das mediane Nettoäquivalenzeinkommen Armutsbetroffener innerhalb von 16 Jahren von etwa 620 Euro im Jahr 2005 nur auf circa 765 Euro im Jahr 2021 zu (pro Monat, in Preisen von 2021, Ein-Personen-Haushalt).
Da hier kein Raum für eine ausführliche Maßnahmendiskussion ist, werden im Folgenden – neben dem wichtigen privaten christlichen Wirken im eigenen Lebensumfeld – stichwortartig nur einige Punkte genannt, die Armut nachhaltig mindern könnten: Eine besseres Grundsicherungsniveau (Bürgergeld) mit positiven Tätigkeitsanreizen (ohne Familien- und Pflegearbeit noch weiter abzuwerten), gelingende Integration von Zugewanderten, eine Kompensation überbordender Energie- und Wohnkosten, eine drastisch verminderte Inflation (keine reale Vernichtung von Bargeld-Sparbeträgen einkommensschwacher Sparer), ein wesentlich intensiverer staatlich geförderter und organisierter Vermögensaufbau für Einkommensschwächere und beispielsweise eine Berücksichtigung des Existenzminimums durch Freibeträge bei den Sozialversicherungsbeiträgen.