Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: Januar-Februar 2023

Schwerpunkt

Die Menschen brauchen Essen und Wärme

Gefragt wie nie: Eine Notverpflegung. Foto: Marcus Schlaf

Die 13 Bahnhofsmissionen in Bayern haben nie so vielen bedürftigen Menschen geholfen wie in den vergangenen Monaten. Vor allem die Nachfrage nach Lebensmitteln ist drastisch gestiegen.

 

„Wurst oder Käse?“ – Hubert M. (Name geändert) entscheidet sich für die vegetarische Brot-Variante, nachdem er am Ausgabeschalter der Würzburger Bahnhofsmission mit einem freundlichen „Grüß Gott“ begrüßt und nach seinen Wünschen gefragt wurde. Bis zu 200 Gäste kommen täglich in die Hilfeeinrichtung, etwa 160 von ihnen werden wie Hubert M. mit Broten, Obst und einer Tasse Tee versorgt – das sind mehr als doppelt so viele wie vor der Pandemie. Die Hälfte der Hilfesuchenden hat eine Migrationsgeschichte, das wiederum sind „rund dreimal so viele wie früher“, so Michael Lindner-Jung.

„Der große Bedarf bringt uns an die Grenzen des Machbaren“, beschreibt der Würzburger Einrichtungsleiter die aktuelle Situation. Brote zu schmieren und zu belegen, das läuft mittlerweile im Akkord und wird jeweils von einer haupt- oder einer ehrenamtlichen Kraft geleistet. Oft stehen die Hilfesuchenden gleich zu Beginn einer Schicht am Ausgabefenster für eine Notverpflegung an. „Wir sehen seit Monaten viele neue  Menschen in Bedarfslagen, für die nicht oder unzureichend gesorgt ist, vor allem Gäste im AlG II-Bezug, mit Grundsicherung oder eben knapp darüber“, so Michael Lindner-Jung, „auch Frauen und Männern in Arbeit reicht das Geld zum Leben oft nicht mehr“.

Verzicht ist schon lange Alltag

Hilde K. (Name geändert) ist über 80 und Rentnerin. Sie sitzt auf ihrem Stammplatz im kleinen Aufenthaltsraum der Bahnhofsmission Schweinfurt, genießt „ihren“ Kaffee und die Ansprache. Der Besuch hier ist für sie ein tägliches und notwendiges Ritual, denn Geld ist knapp, „ich muss jeden Cent dreimal umdrehen, es ist alles so teuer geworden.“ Mittags ein warmes Essen in der Suppenküche, nachmittags ein Getränk in der Bahnhofsmission. Hilde K. kann Unterstützung gut gebrauchen. Wenn sie abends – um Heizkosten zu sparen „dick eingepackt“ – vor dem Fernseher sitzt und die Nachrichten schaut, sorgt sie sich noch mehr: „Wie soll man denn da gut über den Winter kommen?“

Dran bleiben: Ohne Internet-Zugang oder Mobiltelefon ist es heutzutage schwer, sein Leben zu organisieren. Die Bahnhofsmissionen, wie hier in München, helfen auch in diesem Bereich weiter. Foto: Marcus Schlaf

Susanne Brand und Ingeborg Götz, die beiden Leiterinnen der unterfränkischen Einrichtung, wissen, dass ihren Gästen Inflation und gestiegene Energiekosten besonders zu schaffen machen. Verzicht ist für viele von ihnen schon lange Alltag. Zur materiellen Not ist die Angst vor der Zukunft gekommen, „das ist in vielen Gesprächen ein Thema.“ Nicht nur bei den bekannten Gästen, „immer häufiger kommen auch ganz fremde, vor allem jüngere Menschen, die von ihrer finanziellen Not erzählen und um eine Kleiderspende beispielsweise bitten.“ Was Hilde K. gerade am Dringendsten braucht? Eine warme Mütze. Vielleicht, so ihre Hoffnung, findet sich in den Regalen der Bahnhofsmission etwas Passendes. Wenn nicht, dann sammelt sie für solche „Extra-Anschaffungen“ auch schon mal Pfandflaschen oder Dosen, „sonst langt es nicht.“

Die Armut wächst

Bereits seit Monaten spüren die Mitarbeitenden in den Bahnhofsmissionen, dass die materielle Armut wächst. Das bringt auch manche Einrichtung in Bedrängnis. Zum einen kommen mehr Menschen, um sich eine Stärkung abzuholen. Zum anderen gehen gerade Lebensmittelspenden zurück, weil auch Geschäfte sparen und anders kalkulieren müssen. Umso mehr freut sich Michael Lindner-Jung, dass ein Spendenaufruf ein finanzielles Polster geschaffen hat, um den Nachschub an Brot, Käse oder Wurst zu sichern. Denn die Ausgaben dafür sind über kein Budget gedeckt und mit Kriegsausbruch in der Ukraine und durch die allgemeinen Teuerungen sprunghaft gestiegen.

Einfach immer da: Für Notleidende genauso wie für Reisende. In Nürnberg wurden beim Staatsempfang zum 125-jährigen Jubiläum der Bahnhofsmissionen in Bayern die Mitarbeitenden gewürdigt. Foto: Annette Bieber

Auch in Bayerns größter Bahnhofsmission in München ist Armut ein großes Thema. „Die aktuelle Situation ist sehr herausfordernd“, heißt es von den Leiterinnen Bettina Spahn und Barbara Thoma, „die Pandemie ist nicht überstanden, hinzukommt, dass durch Rezession und Inflation die Armut der Besucherinnen und Besucher spürbar und sichtbar zunimmt.“ Seit einiger Zeit merken sie, dass schon Mitte des Monats viele kommen, die kein Geld mehr haben. „Je nach individuellem Bedarf helfen wir mit Lebensmittelpaketen, Hygieneartikeln, Einkaufsgutscheinen. Und wir vermitteln für eine nachhaltigere Lösung weiter an geeignete Beratungsstellen“, so Spahn: „Schwerpunkt unseres Angebots ist die Sozialberatung im Sinne von Beratung, Clearing und Weitervermittlung.“ Auch außerhalb der üblichen Bürozeiten ist die Bahnhofsmission, die rund um die Uhr geöffnet hat, zentrale Anlaufstelle für in Not geratene Menschen. 80 Beratungsgespräche werden hier täglich geführt, etwa 500 Kontakte gezählt. Der Bedarf an materiellen Hilfen wie Lebensmittel, aber auch Kleidung hat sich hier seit 2019 verdreieinhalbfacht, in Bahnhofsmissionen außerhalb der Landeshauptstadt ist er in Summe um 30 Prozent gestiegen.

Letzte Zuflucht: Bahnhofsmission

Das Leben am oder unter dem Existenzminimum, der permanente Ausnahmezustand – all das geht nicht spurlos an den Menschen vorüber. Gerade für Gäste, die psychisch angeschlagen oder erkrankt sind, ist die Bahnhofsmission oft der letzte Zufluchtsort. Hier bekommen sie Zuspruch, erleben Sicherheit und Kontinuität in Krisenzeiten. „Gemeinschaft stärkt, um schwierige Zeiten durchzustehen“, betont Hedwig Gappa-Langer, zuständige Referentin beim Landesverband IN VIA Bayern, „der Mensch braucht Wärme. In jeder Beziehung.“

Wie aber dem Auftrag, für Menschen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten persönlich da zu sein, gerecht werden, wenn die Notversorgung aktuell im Vordergrund steht? Pandemie, Krieg, Inflation – die Teams der bayerischen Bahnhofsmissionen arbeiten seit Jahren permanent am Limit. Zu dieser Belastung kommt für Lindner-Jung oft „das Gefühl, dass es trotzdem nicht reicht.“ Umso glücklicher ist der Einrichtungsleiter, dass in Würzburg seit einem guten halben Jahr das „Mutmacher-Projekt“ läuft und eine Mitarbeiterin halbtags ausschließlich für Gespräche und Beratungen zur Verfügung steht. Dieser Kontakt ist für viele wichtig, denn Armut schwächt auch die sozialen Beziehungen.

Oft genug haben Menschen, die auf der Straße oder nicht mitten in der Gesellschaft leben, das Gefühl unsichtbar zu sein oder ignoriert zu werden. „Zugehört und hingeschaut“ hat der Fachverband IN VIA Bayern beim gleichnamigen Videoprojekt, in dem Gäste der Einrichtungen zu Wort kommen. Mit oft erstaunlicher Offenheit erzählten sie aus ihrem Leben, von ihren Wünschen und Träumen. Sie freuten sich besonders, dass ihre Originaltöne die „Sendezeit“ füllen sollten. Dass mit ihnen statt über sie geredet wird.

„Aufgenommen und fotografiert zu werden, bedeutet auch, gehört und gesehen zu werden“, sagt Hedwig Gappa-Langer, „das ist etwas, was viele Gäste nur selten erleben.“ Neben Armut, Kälte und Hunger ist das Gefühl, nicht wahrgenommen zu werden, sehr zermürbend. Für Obdach- und Wohnungslose genauso wie für Menschen, die nicht den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen.

Aus den verschiedenen Gesprächen ist für die Arbeitsgemeinschaft der kirchlichen Bahnhofsmissionen in Bayern eine fünfminütige Videoshow entstanden. Gefördert wurde das Projekt von der Stiftung Obdachlosenhilfe Bayern.

Bei Instagram und Facebook gibt es unter @bahnhofsmission.bayern die einzelnen Porträts und Wunschzettel zum Anschauen. Der folgende QR-Code führt zum kompletten Beitrag.

 Hintergrund: Insgesamt leisteten die 13 größtenteils ökumenisch geführten Bahnhofsmissionen in Bayern 2021 knapp 460.000-mal Hilfe. Neben der konkreten Hilfe in Notsituationen gehört dazu auch die klassische Unterstützung für Reisende am Bahnhof, für Menschen, die von Obdachlosigkeit bedroht oder betroffen sind. Eine besondere Rolle spielten sie 2022 bei der Betreuung von Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten in der Ukraine.


Verfasst von:

Annette Bieber

Freie Journalistin