Ausgabe: März-April 2023
InterviewGanzheitliche Pflege
Mit der Corona-Pandemie haben es eine ganze Reihe von (medizin-)ethischen Fragen in die Öffentlichkeit geschafft, die zuvor nicht so breit diskutiert waren. Gwendolin Wanderer arbeitet an der Arbeitsstelle Medizinethik in der Klinikseelsorge der Goethe-Universität Frankfurt und damit an einer brandaktuellen Schnittstelle zwischen Ethik, Theologie und Medizin. Mit Gemeinde creativ hat sie über den Alltag von Klinikseelsorgern gesprochen und über die gesellschafts-politischen Stellschrauben, um dem Pflegenotstand entgegen zu wirken.
Gemeinde creativ: Medizinethische Fragen werden momentan intensiv diskutiert. Sie arbeiten an der „Arbeitsstelle Medizinethik in der Klinikseelsorge“, was ist das für eine Einrichtung?
Gwendolin Wanderer: Unsere Arbeitsstelle an der Goethe-Universität Frankfurt wurde 2006 in Kooperation mit dem Bistum Limburg eingerichtet, weil man gesehen hat, dass professionsethische Fragen für Ärztinnen und Ärzte oder auch für Pflegekräfte schon gut bearbeitet und beforscht werden, für ethische Fragen im Bereich der Klinikseelsorge war das bis dahin nicht der Fall. Diese Lücke sollte also geschlossen werden, außerdem sollte das Fortbildungsprogramm ausgebaut werden. Wir verbinden die Bandbreite der ethischen Fragen, die sich in Kliniken stellt, mit einem spezifisch theologischen und christlichen Blick.
Klinikseelsorgerinnen und Klinikseelsorger benötigen verstärkt Kompetenzen für die ethischen Fragen, die sich ihnen in ihrer täglichen Arbeit stellen – unsere Arbeitsstelle will helfen, sie sprachfähig zu machen, so dass sie sich beispielsweise auch in den Ethikkomitees der Kliniken gut einbringen können. Als Theologen brauchen sie dort auch nochmals anderes Handwerkszeug als die Ärzteschaft.
Welche ethischen Fragen sind das konkret?
Klinikseelsorgerinnen und Klinikseelsorger werden vor allem bei den ethischen Fragen am Ende des Lebens gerufen. Sie sind bei der sogenannten „Therapiezieländerung“ gefragt, also wenn für einen Patienten oder eine Patientin mit gängigen Behandlungsmethoden nichts mehr getan werden kann und daher von einer kurativen auf eine palliative Behandlung umgestellt werden soll. Es gibt auch andere Situationen, beispielsweise wenn es darum geht, ob eine Operation durchgeführt werden soll oder nicht. Seit 2020 bilden die ethischen Fragen in der Psychiatrie einen Schwerpunkt an unserer Arbeitsstelle. Hier erforschen wir in einem Praxisforschungsprojekt, welche ethischen Fragestellungen sich speziell für Seelsorgerinnen und Seelsorger in der Psychiatrie stellen und welche Kompetenzen sie benötigen, um die Herausforderungen bewältigen zu können. Vor allem geht es um das Spannungsfeld zwischen Zwang und Selbstbestimmung, also darum, inwieweit etwa das Fixieren eines Patienten ethisch legitimierbar ist. Deutschlandweit ist dieses Forschungsprojekt bislang einzigartig.
Hat die Corona-Pandemie etwas in Ihrem Arbeiten verändert?
Die Corona-Pandemie hat nicht unbedingt so viele neue ethische Fragen aufgeworfen, sie hat vielmehr wie ein Brennglas auf die Problemlagen gewirkt, die längst da waren. Unter Ressourcenknappheit müssen Priorisierungen vorgenommen werden – grundsätzlich ist das im Klinikalltag immer so. Sicher, nicht in der verschärften Art und Weise wie in den Zeiten der Pandemie, als die Intensivstationen überfüllt waren und man entscheiden musste, welche Patienten ein Beatmungsgerät bekommen, aber das Prinzip ist dasselbe. Die Fragen rund um das Thema „Triage“ haben uns an der Arbeitsstelle natürlich auch beschäftigt.
Das Problem des Aushalten-Müssens von Isolation hat speziell die Klinikseelsorgerinnen und Klinikseelsorger während der Pandemie beschäftigt. Die Situation, dass Menschen alleine sterben mussten, ohne ihre Angehörigen um sich haben zu können, war neu. Oft waren es dann die Seelsorgerinnen und Seelsorger, die den Kontakt mit den Angehörigen ermöglicht haben – sei es per Telefon oder auf dem Klinikparkplatz mit entsprechendem Abstand und Maske.
Es ist viel vom Pflegenotstand und fehlendem Personal in allen Pflegeberufen die Rede. Wie sieht es bei den Klinikseelsorgern aus, gibt es da genügend?
Momentan ja, allerdings sehen wir schon heute, dass es hier einen Nachwuchsmangel geben könnte. Zwar ist der Bereich der Klinikseelsorge vergleichsweise beliebt, allerdings sind die Studierendenzahlen im Bereich der katholischen Theologie rückläufig.
Es gibt bereits Überlegungen und erste Modelle, wie das abgefedert werden könnte. Unter anderem denkt man darüber nach, vermehrt Ehrenamtliche für diesen Bereich zu qualifizieren. Dies bringt natürlich eine ganze Reihe von Herausforderungen, da die Klinikseelsorge ein nicht nur emotional und psychologisch sehr anspruchsvolles Feld ist. Es bedarf einer hohen Fachkompetenz, aber auch einer ethischen Kompetenz, um den Patientinnen und Patienten, den Mitarbeitenden im Krankenhaus wie auch dem Anspruch, gute Seelsorge zu leisten, gerecht zu werden.
Wie sieht ein typischer Tag eines Klinikseelsorgers aus?
Für Klinikseelsorgerinnen und Klinikseelsorger steht der Kontakt mit den Patientinnen und Patienten und deren Angehörigen im Mittelpunkt: neben der „Arbeit am Bett“, die vor allem darin besteht, den Patienten in seiner existentiellen Ausnahmesituation zu begleiten und ihn bei deren Bewältigung zu unterstützen. Wie kann das Leben des Patienten auch angesichts einer schweren, vielleicht sogar unheilbaren Krankheit gelingen? Diese Fragen haben fast immer auch eine ethische Dimension. Auch liturgische Tätigkeiten nehmen einen gewissen Raum ein, etwa das Angebot von Gottesdiensten.
Gleichzeitig werden Klinikseelsorgerinnen und Klinikseelsorger immer mehr auch in Ethikkomitees der Kliniken eingebunden und etablieren auch Angebote wie etwa Ethik-Gesprächskreise für die Pflegekräfte.
Sie kommen aus dem Bereich der Altenpflege. Wie schätzen Sie hier die momentane Situation im Spannungsfeld zwischen Personalmangel und einer würdigen Pflege ein?
In einem idealen Pflegeheim wird die Autonomie der Bewohnerinnen und Bewohner größtmöglich gewahrt, es gibt genügend Personal, das auch die entsprechende Zeit hat, sich um die Menschen im Haus zu kümmern. Die Realität in den Heimen ist jedoch meist eine andere. Zu wenige Pflegekräfte sind für zu viele Bewohnerinnen und Bewohner zuständig. Dass hier eine Überlastung gegeben ist und dem Bewohnerwohl nicht in gewünschtem Umfang entsprochen werden kann, liegt auf der Hand. Die Pflegekräfte sind ständig gefordert, Entscheidungen zu treffen: Um welchen Bewohner kümmere ich mich zuerst? Welcher muss warten? Das ist für die Pflegekräfte eine enorme Belastung. Viele haben das Gefühl, ihren eigenen Ansprüchen nicht mehr gerecht werden zu können. Das führt zu einer enormen Fluktuation beim Personal, was wiederum nicht gut für die Bewohnerinnen und Bewohner ist, die eigentlich ein stabiles Umfeld bräuchten.
Was müsste Ihrer Ansicht nach getan werden, um dem Pflegenotstand in Klinken und Pflegeheimen zu begegnen?
Es wird momentan schon an einigen Stellschrauben gedreht. Beispielweise ist die generalisierte Ausbildung ein erster Schritt. Dadurch müssen alle Pflegekräfte während ihrer Ausbildung alle Bereiche der Pflege durchlaufen. Ein Altenpfleger hat dann den gleichen Abschluss und somit auch grundsätzlich den gleichen Status wie eine Pflegekraft im Krankenhaus. Die Aufwertung der Berufe durch Akademisierung ist ein anderer Ansatz. Eine bessere Bezahlung ist ebenfalls wichtig.
Aber: das Hauptproblem ist die Arbeitsbelastung. Solange sich in diesem Bereich nichts entschieden ändert, werden wir den Pflegenotstand nicht lösen. Es muss die Möglichkeit einer ganzheitlichen Ausübung des Berufs geben. Das heißt, Pflegekräfte müssen Zeit für Gespräche, für Zwischenmenschliches mit Patienten und Bewohnern haben – und nicht nur für medizinische Handgriffe, das Verabreichen der Medikamente oder die Wundversorgung.
Viel diskutiert ist momentan auch das Thema „Assistierter Suizid“. Die einen argumentieren mit dem Selbstbestimmungsrecht, die anderen damit, dass kranke und behinderte Menschen sich zu solch einem Schritt gedrängt fühlen könnten. Wie sehen Sie das Thema?
Dieses Thema schlägt aktuell auch bei Klinikseelsorgerinnen und Klinikseelsorger enorm auf und wir stellen auch fest, dass es noch immer viel Unsicherheit – auch der Fachkräfte in den Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft – dazu gibt. Pflegekräfte sind sich manchmal unsicher ob etwa bereits das Einstellen der künstlichen Ernährung im Kontext der Palliativversorgung als aktive Sterbehilfe zu bewerten ist oder nicht. Hier braucht es noch eine Menge Aufklärung. Gerade auch in katholischen Einrichtungen stellt sich dann die Frage, wenn Bewohner den assistierten Suizid wünschen, begleitet man in diesem Fall oder verweist man die Person an eine andere Einrichtung?
Es braucht eine intensive gesellschaftliche und auch innerkirchliche Diskussion zu diesem Thema. Der Standpunkt des unbedingten Lebensschutzes ist in den Positionierungen aus christlicher Perspektive zentral. Andererseits ist auch die individuelle Erfahrung des Nichtmehrkönnens ernst zu nehmen. Das Sollen, hier: der Anspruch, menschliches Leben zu befördern, auch das eigene, setzt schließlich ein Können voraus. Menschen dabei zu unterstützen, das eigene Leben auch angesichts von chronischer und zum Tode führender Krankheit gut leben zu können, ist hier ein wesentlicher Anspruch. Dies schließt auch eine Verbesserung des Zugangs zu Angeboten der Palliativmedizin und einen besseren Personalschlüssel in den Einrichtungen der Langzeitpflege mit ein. Natürlich müssen wir uns der Diskussion stellen, ob eine Regelung zum „Assistierten Suizid“ nicht Druck auf hilfebedürftige Menschen ausübt, wenn diese sich als Last für Angehörige empfinden. Dieser letzte Aspekt ist eine Gefahr. Deswegen müssen wir gute Regelungen finden, die Beratungspflicht und Suizidprävention einschließen, damit genau das nicht passiert. In diesem Zusammenhang braucht es auch noch mehr Information und Aufklärung über palliative Angebote und Möglichkeiten.
Über (medizin-)ethische Fragen ist im öffentlichen Diskurs in den vergangenen drei Jahren so viel diskutiert worden wie schon lange nicht mehr. Gibt es Themen, die in der öffentlichen Debatte eher untergehen?
Die sozialethischen Fragen im Gesundheitswesen werden noch zu wenig angeschaut. Wenn wir über Pflegenotstand sprechen, dann müssen wir auch über die konkreten Auswirkungen für alle Beteiligten sprechen – vom Arzt über die Patientin und seine Angehörigen bis zu den Pflegekräften. Es wird zwar immer häufiger über die (psychischen) Belastungen für Pflegekräfte gesprochen, aber es müsste noch deutlicher werden, was es auch für Patientinnen und Patienten bedeutet, wenn der Pflegenotstand die Dauersituation würde.
Mich beschäftigen auch die Fragen an den Übergängen – und genau da gibt es auch für kirchliche Akteure viele Andockpunkte. Ich meine beispielsweise den Übergang von der Klinik oder einer Psychiatrie zurück nach Hause, zurück in die Gesellschaft. Wie bringen sich unsere Pfarrgemeinden hier ein? Wie können sie Gemeinschaft und Aufgenommensein ermöglichen, wo Hilfestellung geben, dass Menschen zurück in ein eigenständiges Leben finden?
Dr. phil. Gwendolin Wanderer ist Theologin und seit 2009 Geschäftsführerin der „Arbeitsstelle Medizinethik in der Klinikseelsorge“ an der Professur für Moraltheologie und Sozialethik der Goethe-Universität Frankfurt. Als Vorsitzende des Vereins Frankfurter Ethiknetzwerk e.V. Ethik in stationären Altenpflege- und Behinderteneinrichtungen ist sie auch mit Fragen der angewandten Medizin- und Pflegeethik befasst und ist durch die Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) zertifizierte Trainerin für Ethik im Gesundheitswesen.
Ihr Forschungsschwerpunkt liegt in der Ethik in der Psychiatrie. Dabei interessieren sie insbesondere theologisch-medizinethische Grundlagenfragen zum Krankheitsbegriff in der Psychiatrie sowie sozialethische Ansätze innerhalb der Ethik in der Psychiatrie.