Ausgabe: März-April 2023
SchwerpunktIn Zeiten von Krieg und Ressentiments
Ethische Fragestellungen gewinnen in Pfarreien zunehmend an Bedeutung
Da saß sie und Tränen überströmten ihr Gesicht. Es ging um ihre Tochter. Die hatte ihr vor kurzem offenbart, sie hätte ihr Glück gefunden. Ein merkwürdiges Glück. Ein verstörendes Glück. „Sie hat eine Partnerin“, brachte die Frau schließlich heraus. Ihr ganzes Weltbild, sagt Pfarrer Sven Johansson aus Lohr im Landkreis Main-Spessart, war dadurch zusammengebrochen. Der Priester hörte der Frau lange zu. „Gerade auch bei solchen sexualethischen Fragen müssen wir Stellung beziehen“, sagt er.
Ein gutes Wort vermag viel. Vor allem, wenn es fundiert ist. Ethisch fundiert. Zu Sven Johannsen kommen die Menschen mit vielen privaten Anliegen. Sie wissen, dass der Pfarrer sie nicht mit Moraltheologischem abspeist. Sven Johannsens Einfühlsamkeit in die sehr persönlichen Fragen seiner Gemeindemitglieder kommt nicht von ungefähr. „Ich habe auch Sozialethik und Caritaswissenschaften studiert“, erzählt der Pfarrer. Ethische Fragen fließen dadurch automatisch in seine Arbeit in der Pfarrei St. Michael in Lohr ein. Nicht zuletzt die Predigten haben in aller Regel ethische Implikationen: „Die Gläubigen wollen nicht, dass man einfach das Evangelium nacherzählt.“
In polarisierenden Zeiten, in denen Ressentiments wuchern, ist ein Gespür für ethische Fragestellungen wichtiger denn je. Vor allem die Corona-Krise warf für Sven Johannsen ethische Fragen auf: Was von dem, was aus der säkularen Sphäre heraus vorgeschrieben wurde, war aus theologischen und ethischen Gründen vertretbar? „Ich selbst hätte zum Beispiel niemals Menschen, die sich nicht impfen lassen wollten, vom Gottesdienst ausgeschlossen“, unterstreicht der Theologe. In seinem Pfarreiteam war eine Mitarbeiterin, die die Impfung abgelehnt hatte: „Sie wurde zu Schutzmaßnahmen angehalten, aber sie musste nicht ins Home-Office.“
Einige Erfahrungen aus den vergangenen zwei Jahren hätten sich revidiert, manche Regelungen würde es so heute wohl nicht mehr geben. Gerade dieser Rückblick verdeutlicht für Sven Johansson, wie wichtig es ist, das, was von außen als Anforderung an die Menschen herangetragen wird, unter ethischen Aspekten abzuklopfen. Das betrifft für ihn Themen wie „Impfen“. Das Thema „Familie“, dazu gehöre „Homosexualität“. Und viele Themen mehr: „Auch Frieden“.
Faire Preise
Aber auch die Besitzverhältnisse werfen ethische Fragen auf, die weit in die Pfarreiarbeit hineinreichen. „Bei uns ist es zum Beispiel schon sehr lange so, dass wir die Preise etwa bei Pfarrfesten sehr familienfreundlich gestalten“, sagt Pfarrer Sven Johannsen. Ihm persönlich sind auch arbeitsethische Fragen, etwa nach Arbeitszeiten und Lohngerechtigkeit, äußerst wichtig. Sehr schade sei vor diesem Hintergrund, so Sven Johansson, dass die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) zunehmend überaltert. Früher seien arbeitsethische Fragen von KABlern aktiv in die Pfarreiarbeit hineingetragen worden. Dies sei nun kaum noch der Fall.
Ethische Fragen wirft in vielen Pfarreien auch die Tatsache auf, dass immer mehr Menschen schwer pflegebedürftig oder dementiell verändert sind. Und dass es aufgrund von Personal- und Finanzmangel aktuell viel Kraft kostet, diese Menschen zu versorgen. Edith Fecher kümmert sich sowohl um Pflegebedürftige als auch um Pflegerinnen und Pfleger. Dies tut die Theologin in den Pfarreiengemeinschaften „Unter der Homburg, Gössenheim“, „Pagus Sinna – Mittlerer Sinngrund, Burgsinn“, „Main-Sinn, Rieneck“, „Sodenberg, Wolfsmünster“ sowie „An den drei Flüssen, Gemünden am Main“ im Landkreis Main-Spessart.
Wer behauptet, eine Pflegeeinrichtung wäre etwas ganz Normales und es bestünde kein Anlass zu irgendwelchen inneren Widerständen, ein Heim zu betreten, ist wahrscheinlich nicht ganz aufrichtig. „Ein Pflegeheim ist etwas völlig anderes“, sagt Edith Fecher. In einem Heim trifft man auf Menschen, die sich so weit von ihrer ursprünglichen mentalen und körperlichen Kraft wegentwickelt haben, dass das mulmige Gefühle auslösen kann: Wird man selbst einmal so werden? Man sieht Dinge, die sehr traurig machen: „Und man ist mit ungewohnten Gerüchen konfrontiert.“ Deshalb kostet es mitunter ein wenig Überwindung, in ein Heim zu gehen. Genau hier wird seelsorgerliche Arbeit ethisch.
„Gehen Sie kurz mit?“
Während es ein Jugendpfarrer mit Aufbrüchen und verheißungsvollen Neuanfängen zu tun hat, muss sich eine Seelsorgerin, die zu sehr alten und sehr kranken Menschen geht, auf Sterben und Tod einstellen. „Eine Patientin von mir liegt gerade im Palliativzimmer und ich hatte noch keine Zeit, nach ihr zu schauen, würden Sie für zehn Minuten mit mir gehen?“ Das wurde Edith Fecher vor Kurzem von einer Betreuungskraft in einem der Pflegeheime, um die sie sich kümmert, gefragt. Natürlich ging die Seelsorgerin mit. Sie betrat mit der Betreuungskraft das Zimmer der Seniorin. Die beiden stimmten zusammen ein Lied an. Und warteten, ob die Patientin die Augen öffnen würde.
Ethik ist für Edith Fecher nicht die Kehrseite jener Medaille, auf der vorne „Seelsorge“ steht. All das, was Jesus gelehrt hat, ist für sie hochethisch: „Und die Grundfolie, auf der ich mein Handeln verorte.“ Was Edith Fecher seit September 2020 in Heimen für Pflegebedürftige und psychisch Kranke in und um Gemünden tut, das tut sie nicht als klassische Altenheimseelsorgerin. Ihr ist es ein Anliegen, Kontakte zu knüpfen zwischen den Teams der Pfarreien und jenen Menschen, die in Heimen leben und arbeiten. „Ich will zeigen, dass ich als Frau der Kirche präsent bin und dass es jederzeit möglich ist, mich anzusprechen“, sagt sie.
In der Pfarreiarbeit Ethik mitzudenken, bedeutet natürlich auch, darauf zu achten, durch das eigene Tun die Umwelt nicht zu sehr zu verschmutzen. „Auch wir versuchen, stromsparend unterwegs zu sein“, sagt Bodo Windolf von der Pfarrei „Christus Erlöser“ in München. Noch sehr viel stärker treibt den Theologen mit Blick auf den Ukraine-Konflikt im Moment allerdings die ethische Frage danach um, ob es denn einen „gerechten Krieg“ geben kann. Und ob es ethisch zu rechtfertigen ist, dass man ein Land mit Waffen unterstützt.
Für Pazifisten ist es aus ethischen Gründen vollkommen ausgeschlossen, irgendetwas mit Waffengewalt erzwingen zu wollen. Zumal es in Zeiten nuklearer Vernichtungswaffen für sie keinen „gerechten Krieg“ geben könne. Für Bodo Windolf allerdings gibt es, wie er sagt, eine „gerechte Verteidigung“. Seine ethischen Reflexionen zu diesem Begriff legte er im letzten Pfarrbrief des Jahres 2022 nieder. „Um der Wehrlosen willen ist eine Verteidigung gerade auch unter christlichen Gesichtspunkten unumgänglich“, meint er mit Blick auf die Ukraine.