Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: März-April 2023

Schwerpunkt

Moral und Ethik gehören zum Menschen

Foto: Brian Jackson / Adobe stock

Die einen schreiben Gott* mit Sternchen. Andere möchten, dass in öffentlichen Verwaltungen das Gendern verboten ist. Die einen wollen der Ukraine Panzer zur Verfügung stellen. Andere lehnen das ab, weil das nur den Krieg verlängern würde. Die einen fordern mehr Aufklärung der sexualisierten Gewalt in der Kirche. Andere meinen, dass sich die Kirche mehr um Evangelisierung kümmern sollte. Drei Beispiele, die eins verbindet: Die Frage nach dem, was richtig und falsch ist. Und dass das offensichtlich umstritten ist.

Das Ringen um richtig und falsch ist anthropologisch grundgelegt. Denn das praktische Handeln des Menschen folgt nicht allein Naturgesetzen, Instinkten oder Reflexmechanismen. Es bleiben für das Handeln des Menschen alternative Sichtweisen. Zumindest in Grenzen kann der Menschen wählen, sein Handeln selbst und frei bestimmen. Das ist die Basis aller ethischen Fragen. Denn ohne Freiheit ist es sinnlos, nach richtig und falsch zu fragen. Und daraus folgt auch: Die Suche nach dem sittlich Guten ist keine künstliche Frage, sondern gehört zum Menschen.

Wie lässt sich aber nun erkennen, was richtig und falsch ist? Was sittlich gut und was sittlich schlecht ist? Eine brennende Frage angesichts der vielen aktuellen Herausforderungen.

Moral und Ethik

Zunächst muss allerdings daran erinnert werden: Im Regelfall wissen Menschen ganz gut, was gut und richtig ist. Das zeigen Urteile wie „Das geht nicht!“, „Das ist unmenschlich!“ oder „Das hast du gut gemacht!“ Mit solchen Urteilen beziehen sich Menschen meist auf das, was die Gesellschaft für allgemein richtig hält. Das ist das Feld der Moral. Der Begriff Moral hat kein besonders gutes Renommee. Er wird oft mit Anpassung, Zwang und Unterdrückung verbunden. „Tu dies nicht!“ und „Lass das!“ sind seine Sätze.

In der wissenschaftlichen Diskussion ist Moral allerdings ein neutraler Begriff. Er steht für Wertvorstellungen und Überzeugungen der Gesellschaft, die sich in Regeln, Normen und Geboten, in Bräuchen und Traditionen niederschlagen. Moral beschreibt so all das, was eine Gesellschaft als gut und gesollt empfindet. Darin leistet Moral etwas für die Gesellschaft. Wenn alle wissen, was zu tun ist, dann macht es das Zusammenleben vorhersagbar und stabil. Es entlastet, weil ich nicht in jeder Lebenssituation neu überlegen muss, was zu tun ist. Allerdings können die Regeln auch unterdrücken, einengen und oft auch willkürlich erscheinen.

Ein weiteres Problem der Moral: Bei vielen, vor allem neuen Handlungsproblemen, hilft sie nicht weiter. Gendern, Panzerlieferungen, sexualisierte Gewalt – aber auch Maskenpflicht, sich auf der Straße festkleben, vegan leben: Es braucht dauernd auch neue Entscheidungen darüber, ob etwas sein soll oder nicht. Und darauf bietet die Moral keine Antworten. Hier kommt die Ethik ins Spiel.

Der Begriff Ethik bezeichnet die wissenschaftliche, systematische Reflexion auf Moral und das Handeln von Menschen. Anders formuliert: Ethik untersucht, reflektiert und beurteilt Gewohnheiten, Üblichkeiten, sittliche Urteile wie die Moral von Mensch und Gesellschaft. Dabei blickt die Ethik in zwei Richtungen. Zum einen reflektiert sie auf die Handlungspraxis des Menschen. Auf das, was einzelne Menschen tun und lassen. Sie fragt: Was ist gut? Was ist das gute Handeln? Zum anderen richtet sie ihren Fokus auf Institutionen, auf gesellschaftliche Einrichtungen wie Schule und Pfarrgemeinde, Familie und Staat, Medien oder Unternehmen. Hier fragt sie: Was ist gerecht? Wie müssen Institutionen eingerichtet sein, damit sie dem Menschen oder der Welt dienen?

Ethik reflektiert also auf das Gute und Gerechte und versucht es immer wieder neu zu bestimmen. Sie bemüht sich damit auch um konkrete Antworten auf Fragen wie: Ist es gerecht, wie Zuwanderung bei uns geregelt ist? Ist es gut, wenn Menschen Geflüchtete aus der Ukraine aufnehmen? Ist es gut, wenn Menschen kein Fleisch mehr essen? Die Ethik sucht hier nach Begründungen für Entscheidungen und Handlungen. Ethik fragt so nach sittlicher Rechtfertigung: Ist etwas gut oder gerecht – und warum?

Gut und gerecht

Zu einer Antwort, einem ethischen Urteil kommt man in drei Schritten. Es gilt erstens alle Sachaspekte zusammenzutragen, wissenschaftliche Informationen zu sichten und zu fragen, was genau das ethische Problem ist und was man für die Beantwortung einer ethischen Frage wissen muss. Zweitens ist nach Normen, Regeln, Urteilen zu suchen, die bereits angeboten werden – von Staat, Gesellschaft, Kirchen, Parteien oder auch NGOs. Es ist zu prüfen, ob sie für das Problem etwas sagen können und ob ihre Urteile überzeugend sind. Und drittens ist dann ethisch zu prüfen, wie das Problem bewertet werden kann. Dafür müssen Argumente gesichtet, Positionen kritisch reflektiert, Handlungsalternativen geprüft werden. Diese drei Schritte sind auch dann wichtig, wenn es um alltägliche Entscheidungen geht. Wenn jemand Hunger hat oder etwas zum Anziehen braucht oder sich für eine Arbeitsstelle entscheiden muss.

Das Besondere der Ethik ist, dass immer die Frage nach dem Guten und Gerechten im Mittelpunkt steht. Das ist auch der Fall, wenn die ethische Reflexion im religiösen Horizont erfolgt. Denn grundsätzlich ist es so: Religiöse Überzeugungen ersetzen nie die Pflicht, Argumente für ein bestimmtes ethisches Urteil zu finden. Aber, so könnte man sagen, es gibt doch etwa im Christentum die Zehn Gebote, das Dreifachgebot der Liebe (die Liebe zu Gott, zum Nächsten und sich selbst) oder die Goldene Regel. Doch was helfen diese allgemeinen Regeln und Normen in Fragen des Ausstiegs aus der Atomenergie, des Tempolimits auf deutschen Autobahnen oder der Diskussion um die Reduktion des Fleischkonsums? 

Die Ebene des Glaubens

Es ist deshalb ein Basissatz Theologischer Ethik: Religion liefert keine überzeitlichen und allgemeingültigen Normen, Regeln oder Gesetze für das menschliche Handeln. Die Bedeutung des Glaubens liegt auf anderen Ebenen, wenn es um die Frage nach dem Guten und Gerechten geht. Der Bamberger Moraltheologe Volker Eid hat das so verdeutlicht: „In der Frage nach dem »Wer« und »Wie« Gottes steckt die Frage nach dem »Wer« und »Wie« des Menschen, aber nicht nur, wer und wie er ist, sondern wie er sein kann und sein soll.“ Der Rückgriff auf den Glauben lässt sich also für die Ethik als Deutungshorizont begreifen. Er hilft, das Handeln und Urteilen des Menschen besser zu verstehen. Zugleich eröffnet der Glaube in seiner Rede von Gott und dem Menschen eine Grundvorstellung davon, was es heißt, wenn Leben gut und gerecht ist. Außerdem kann der Glaube als Quelle moralischer Intuitionen dienen. Intuitionen, die sich an Jesus, an Franz von Assisi, Mutter Teresa oder Nikolaus Groß festmachen lassen. Glaube hat zudem kritisches Potential. Das zeigt sich beispielhaft am Propheten Amos, der den Reichtum der Oberschicht kritisiert, oder Martin Luther King, der für ein Ende der Rassentrennung auf die Straße geht. Schließlich kann der Glaube auch den Blick auf konkrete moralische Probleme orientieren. Denn Glaube favorisiert bestimmte Haltungen und Optionen für das Handeln des Menschen: Nächstenliebe, Altruismus, Solidarität, Gerechtigkeit, Frieden oder auch die Bewahrung der Schöpfung.

Das mühsame Geschäft der Normenbegründung und der Suche nach Kompromissen kann einem keine heilige Schrift, kein Papst und keine Religion abnehmen. Ethik – auch religiöse Ethik – heißt, zu fragen: Was ist gut und gerecht – und welche Argumente finden sich dafür? Auch in Sachen Genderstern, Panzerlieferungen und sexualisierter Gewalt.


Verfasst von:

Thomas Laubach (Weißer)

Professor für Theologische Ethik am Institut für Katholische Theologie der Otto-Friedrich-Universität Bamberg