Ausgabe: Mai-Juni 2023
InterviewBegriffe aus einer Steinzeit
Innerhalb der Pluralisierung der Seelsorgeberufe zeigen sich ansatzhaft auch jenseits von Krisen klein und auch wenig vernetzt neue Vitalitätsformen. Matthias Sellmann forscht als Gründer des Zentrums für angewandte Pastoralforschung (ZAP) in Bochum zu Kirchenentwicklung sowie Pastoral im Schnittpunkt von kultureller Gegenwart und Kirche. Mit Gemeinde creativ hat er über das vielseitige Bild an Strukturen und Ausgestaltungen in den Pfarrgemeinden, die Rolle des Ehrenamts und über die Zukunft von Pfarrgemeinden gesprochen.
Gemeinde creativ: Vor zehn Jahren haben Sie einen Sammelband herausgegeben „Gemeinde ohne Zukunft?“. Wie würden Sie in der Rückschau nun die Gemeindeentwicklung beurteilen?
Matthias Sellmann: Ich glaube, dass die letzten zehn Jahre doch ein sehr ernüchterndes Bild über kirchliches Leben in Deutschland erbracht haben. In den Kennziffern der äußeren Vitalität einer Religionsgemeinschaft zeigen die Trends ja alle nach unten: Mitgliedschaft, Nutzungsverhalten, Sakramente, Bereitschaft zu Engagement, aber auch gesellschaftliche Reputation.
Wenn wir in die (Pfarr-)Gemeinden in Deutschland schauen, dann zeigt sich uns ein vielseitiges Bild an Strukturen und Ausgestaltungen – Fluch oder Segen?
Die Pluralisierung der Seelsorgeberufe ist nicht Ausdruck einer Krise, sondern es bilden sich auch ansatzhaft, klein und auch wenig vernetzt neue Vitalitätsformen. Diese reagieren auf die Krise und stellen sich nicht einfach als Opfer der Krise dar. In interessanter Weise bilden sich mikroskopisch und labormäßig neue Formen, von denen jemand vielleicht ablesen kann, wie Kirche in Zukunft funktionieren kann.
Wie sieht für Sie die Pfarrgemeinde der Zukunft aus?
Durch die Fusionsprozesse haben sich in den meisten deutschen Bistümern unterhalb der Pfarreiebene doch sehr interessante Formen neuerer Gemeindebildung ereignet, ich nenne nur als Stichworte „fresh expressions of church“. Wir haben kleine christliche Gemeinschaften, wir haben stärkere Leitungssituationen, also andere Formen von Gemeindeleitung, auch andere Formen von Gemeindemodellen. Ich sehe die Zukunft der Pfarrgemeinde in einer sehr klaren Idee von Dienstleistungen, allerdings in einem anspruchsvollen Sinn. Man kann diesen Begriff der Dienstleistung sehr schnell abservieren, für uns ist es jetzt ein Forschungsgegenstand, den wir hier in Bochum ausleben. Wenn man sich ansieht, wie auch die moderne Betriebswirtschaft Dienstleistung definiert, ist es echt frappierend, wie nahe das an einem theologischen Selbstverständnis von Kirche und auch von gemeinschaftlicher Kirche liegt. Deswegen ist die Pfarrgemeinde der Zukunft meiner Meinung nach eine Dienstleistungsorganisation, die von ganz hohen Qualitätsmaßstäben geprägt ist. Das bedeutet eine ganz andere Idee auch des Lernens und des Co-kreativen zwischen denen, die diese Gemeinde anbieten, denen, die die Gemeinde bilden, und denen, für die sie die Gemeinde bilden. Das Zueinander soll sehr deutlich wahrgenommen werden, welche Bedürfnisse man hat und dass man auch verbindlich miteinander umgeht.
Wir wissen, dass Leitung und Führung 75 bis 80 Prozent des Erfolges einer Gemeinde ausmacht: das betrifft qualitätsorientierten Führungsstil, multiprofessionelle Teams weit über die bisherigen Ideen hinaus, was man als Professionen zusammenführen will. Ich sehe Ehrenamtsförderungsleute, Menschen in der Sozialpädagogik, Sozialarbeit, Erziehung, Musik, Leute, die etwas von Events verstehen, und auch ganz viele Leute, die „medial“ einfach können. Alle arbeiten zusammen, um sich in einem Qualitätszirkel zu bewegen, bezogen auf die Qualität der Liturgie, der Angebote, ganz stark Qualität des Pfarrbüros als wichtige Drehscheibenfunktion. Nicht nur in bürokratischer Hinsicht, sondern darin, was in klassischer Hinsicht der Vernetzung, Aufbau von Netzwerken und Matching von Ehrenamt bedeutet.
Ist die klassische Unterscheidung zwischen territorialer und kategorialer Seelsorge heute noch zeitgemäß oder bräuchte es hier neue Wege?
Ich bringe darin gerne den Aspekt der Segenstheologie mit ein. Ich glaube, eine Gemeinde sollte ein Ort des Segens sein für den Stadtteil, für die Siedlung, für die Heranwachsenden. Tatsächlich kann man sehr schön zeigen, wie die biblische Idee von Segen und die betriebswirtschaftliche Idee von Qualität sehr stark miteinander zu atmen anfangen, wenn man das Miteinander zusammenbringt. Die klassische Unterscheidung zwischen territorialer und kategorialer Seelsorge klingt wie zwei Begriffe aus einer Steinzeit. Eigentlich sind beide Begriffe weiterhin wichtig und auch tragfähig, jedoch sollten mindestens drei Begriffe dazu gelegt werden: was pastoraltheologisch immer schon mit gemeint ist, aber nochmal wichtig zu betonen, ist die personale Seelsorge, das bedeutet Personalgemeinden; zweitens der Begriff der occasionalen Seelsorge, das ist die gelegenheitsförmige Seelsorge, wie zum Beispiel Gemeindeevents, Vereinsevents oder eben nationale Events, zu denen Gemeinden aufbrechen oder auch pilgern; und drittens die mediale Seelsorge, die sich zum Beispiel komplett im digitalen Raum abspielt.
Stichwort „Miteinander von Haupt- und Ehrenamtlichen“ in der Kirche – worauf kommt es hier an?
Alle Forschung deutet eigentlich seit ungefähr zehn Jahren darauf hin, dass sich gerade die Idee der Engagementbereitschaft und der Erwartung an den Engagement gebenden Akteur sich sehr deutlich verändern: je jünger die Akteure, desto stärker die Bereitschaft und Erwartung. Heute spricht man bisweilen gar nicht mehr von Ehrenamt, um diese ganze preußische Zuarbeitungsidee auch vom Wort her schon anders zu sehen. Das heißt heute eigentlich Freiwilligenarbeit oder Engagementförderung, Engagementkoordination und ich glaube, dass die Kirchengemeinden gut beraten sind, das neue Ehrenamt oder neue Engagement sehr aufmerksam zur Kenntnis zu nehmen: zum Beispiel Engagementbereitschaft. Die Engagementzufriedenheit steigt deutlich, wenn das Engagement projektförmig, also befristet ist. Das heißt gar nicht, dass man schon nach einem oder zwei Jahren wieder aufgibt, sondern dass man Markierungen in die Engagementkarriere hineinbringt, in der neu verhandelt wird.
Sie haben ein Buch mit dem Titel „Was fehlt, wenn die Christen fehlen?“ geschrieben – wie beantworten Sie diese Frage?
Meiner Meinung nach ist das Lernprogramm, das wir gerade alle bedienen sollte: Sich den üblichen Standardantworten versagen und sich in die Optik von nichtreligiösen Menschen begeben. Dann sehen wir aus der Perspektive von Menschen, die keine Bindung an Religion und an Gott haben. Wie können wir für diese eine interessante kulturelle Gruppe sein?
Ich würde das Wort Weisheit gerne einbringen. Ich glaube, dass das Christentum durch seine Praxis, aber auch durch seine Organisation als Kirche und auch durch seine Dogmatik, durch seine programmatischen, konzeptionellen Ideen, einen sehr interessanten Typ von Lebensweisheit anbietet. So kann es im Bereich der kulturellen Lebensweisheiten auch seinen Rang behaupten. Das bedeutet, auch andere haben Lebensweisheit am Start, nicht nur die Christen, aber sie bringen eben auch etwas ein und das ist wenig entdeckt. Dieses Wort Lebensweisheit oder Lebensklugheit hat natürlich etwas mit all den anderen Dingen zu tun, mit denen wir sonst auf diese Frage antworten: mit Liturgie, Ethik, Weltanschauung und mit Gottesglaube. Aber es drückt es anders aus und ich glaube, dass Christsein vor allem dadurch gelernt wird, dass man es ausübt. Also nicht nur, dass man bekennt und feiert, sondern dass man wie ein Christ zu leben versucht im Rahmen dieser Lebensklugheit. Dann macht man Erfahrung und diese Erfahrungen suchen ihren Ausdruck. Man wird merken, dass so etwas wie Eucharistie ein Ritual sein kann, das mir etwas bedeutet, wenn ich anfange, großzügig zu anderen Menschen zu sein. So werde ich verstehen, was die Kirche mit ihrer Eucharistie eigentlich feiert.
In Ihrer Arbeit haben Sie immer wieder auch über den Tellerrand der Kirche in Deutschland hinausgeblickt. Wie sehen Sie gerade das Zusammenspiel von unseren Ortskirchen und der Weltkirche, insbesondere in synodalen Prozessen?
Es gibt ein paar große Weichenstellungen, die man erst mal vornehmen muss, um das ganze Verhältnis irgendwie in der richtigen Weise zu klären. Der deutsche Synodale Weg hat einen anderen Ursprung und auch andere Ergebnisse. Eigentlich müsste man zwei verschiedene Worte finden, nicht weil der deutsche nicht synodal wäre und auch nicht, weil der weltkirchliche nicht auch ein Ziel hat, sondern weil es verwirrend ist, dass um Deutschland herum die Wege alle anders organisiert werden als in Deutschland. Den deutschen Synodalen Weg versteht man nur, wenn man sagt, hier wird Synodalität eingesetzt, um die Wahrscheinlichkeit für Missbrauch zu senken. Alle Ideen, den deutschen Synodalen Weg mit Evangelisierung oder mit Glaubensvermittlung anzureichern, gehen an dieser Idee vorbei. Ich sehe tatsächlich in keinem anderen Land einen so wichtigen und auch so konkreten Weg zur Behebung der systemisch erkannten Ursachen. Nur dafür will er ja überhaupt eine Antwort darstellen. Das macht Rom jetzt in mehrfacher Hinsicht so nervös, weil die Lösung, die wir da finden, ganz deutlich eine Erweiterung des Bischofsamtes impliziert. Wenn man das jetzt ablehnt, dann muss man eigentlich entweder sagen, wie man denn alternativ das Problem von systemischen Ursachen bekämpfen will.
Sie haben das Zentrum für angewandte Pastoralforschung (ZAP) gegründet. Wo liegen aktuell die Forschungsschwerpunkte des Instituts?
Wir werden über die Pfarrei der Zukunft nachdenken und in dieser Hinsicht der Frage nach Dienstleistung und Organisation nachgehen und suchen, was wir dabei aktiv haben. Wir gehen hier in zweifacher Weise vor: wir wollen die Kompetenzen klar identifizieren, die man für die Transformation der Pfarrei braucht, und diese Kompetenzen wollen wir in einer eigenen Akademie schulen. Wir bauen gerade eine eigene Fortbildungsakademie auf - wir nennen es auch Führungsakademie für Pfarrer und pastorale Berufe. Auch für alle, die in Leitungsfunktionen sind: Welche Kompetenzen braucht man, um in eine Pfarrei Gestalt hineinzubekommen? Für die Gestaltung und Wirksamkeit dieser Pfarrei konzipieren wir derzeit eine Evaluation, um die Qualität pastoraler Arbeit abzusichern, das ist unsere zweite große Forschungsidee. Wir machen dabei spannende Experimente und auch Erfahrungen mit vielen evangelischen Landeskirchen, aber auch katholischen Bistümern.
Prof. Dr. Matthias Sellmann ist Gründer und Leiter des Zentrums für angewandte Pastoralforschung (ZAP). Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Pastoraltheologie an der Ruhr-Universität Bochum. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in Kirchenentwicklung, Pastoral im Schnittpunkt von kultureller Gegenwart und Kirche (v.a. Jugendpastoral, Citypastoral, Medienpastoral) sowie Wissenschaftstheorie der Pastoraltheologie. Neben seiner Mitgliedschaft im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) als Einzelpersönlichkeit des öffentlichen Lebens berät er in der Kommission XII (Jugend) die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) und ist Mitglied der Schriftleitung der Zeitschrift „Lebendige Seelsorge".