Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: Mai-Juni 2023

Schwerpunkt

Gemeindeleitung in Lateinamerika

Foto: Julie / Adobe stock

Ein Mythos oder die Herausforderung differenzierter Betrachtung

Immer wieder wird wie selbstverständlich davon gesprochen, dass in Lateinamerika Laien oder auch Ordensschwestern kirchliche Gemeinden leiten und gar taufen. Dies mit einem gewissen Leuchten in den Augen!

Sicher gibt es diese Konstellationen, in der getaufte Frauen und Männer und überwiegend Ordensfrauen einen gestuften Anteil an der Leitung des Klerus haben. Eine Erklärung dafür ist, dass die Distanzen in den weitläufigen Regionen Mittel- und Lateinamerikas so groß sind und dort selten ein Priester vorbeikommt. Oder dass es einfach zu wenige von ihnen gibt.

Diese Tatsache macht es notwendig, kirchliche Gemeinden und Gemeinschaften mit denen zu gestalten, die vor Ort sind. Es geht darum, die Dienste wie Verkündigung, konkretes Nothelfen, Voranschreiten, Lehren, Zeremonie, Initiativen und auch Leiten zu vergeben.

In Beziehung unterwegs sein

Nicht defizitär betrachtet existier(t)en „Equipen“ aus Seelsorgerinnen und Seelsorgern, die sich gut verstehen und deren missionarische/pastorale Absicht für alle klar ausgesprochen ist. Aufgaben und pastorale Herausforderungen werden auf dieser Basis – gute Beziehung und klare Absicht – hierarchiefrei, gar geschwisterlich verteilt und angegangen. Jede und jeder hat seine Rolle, entsprechend seines Amtes und der Befähigung, einen Dienst zu übernehmen.

Alte Schwarz-weiß-Fotografien von Missionarinnen und Missionaren zeigen diese Harmonie: eine Gruppe von Frauen und Männern, die sich verstehen und missionarisch tätig sein wollen. Solche Teams schaffen es, für den Glauben zu begeistern, und sie öffnen Räume, das Leben zu gestalten.

Anteil geben und haben

In der Abgeschiedenheit Amazoniens oder des andinen Hochlandes mutet es einfacher an, die Seelsorge wie beschrieben zu organisieren und Anteil an der sogenannten Gemeindeleitung zu nehmen. Eine andere „lateinamerikanische Wirklichkeit“ sind städtische Pfarreien oder auch stadtnahe Gemeinden. Dort haben sich Koordinatorinnen, Koordinatoren, Animatorinnen und Animatoren etabliert, die mit viel Engagement und Hingabe Menschen in Bewegung setzen und zusammenbringen. Ihr Anteil an der Leitung der Gemeinde ist begrenzt und nicht vollumfänglich, denn sie haben letztlich keine Entscheidungsbefugnisse und somit keine freien Gestaltungsmöglichkeiten.

Das Schlussdokument der Sonderversammlung der Bischofssynoden für das Amazonasgebiet lässt in Absatz 88 erahnen, dass Laien oder Ordensleute nicht originär Anteil an kirchlicher Leitung haben. Dort wird festgehalten: „Es ist höchste Zeit, sich auf diesen Weg zu begehen, Verantwortlichkeiten vorzuschlagen und zu übernehmen, um Klerikalismus und willkürliche Anweisungen zu beenden.“

Deutsche Realität

In der immer noch gut versorgten deutschen Kirche, in der Entfernungen und fehlende Infrastruktur nicht wirklich ins Gewicht fallen, ist das Thema wie „Gemeindeleitung“ ebenfalls willkürlich. Die vergangenen Jahre waren ein Auf und Ab von Gemeindeleiterinnen und Gemeindeleitern und Pfarrbeauftragten. Letztendlich liegt die Leitung der Gemeinde, sei sie noch so groß, in den Händen eines Priesters.

Die Zahl der hauptamtlich engagierten Seelsorgerinnen und Seelsorgern wird in den kommenden Jahren stark zurückgehen, ebenso die Zahl der Gläubigen. Papst Franziskus mahnt zu einem Umdenken und setzt auf die Synodalität der Kirche, um dem näher zu kommen, was „Gott von der Kirche des dritten Jahrtausends erwartet“. Sicher ist es nicht, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken!

Wie könnten Gemeinden gedeihen?

Vielleicht greift die immer wieder ähnlich gestellte Frage nach Leitung einfach zu kurz. Kann es sein, dass die Frage um das Wie bzw. der Haltung bedeutender ist, als die nach dem Wer leitet? Wie gestaltet sich Leitung eigentlich: hierarchisch pyramidal oder horizontal, geprägt von guter Beziehung, einer klar definierten pastoralen Absicht, wahrhaftiger Beteiligung und gegenseitigem Vertrauen?

Angelehnt an den lateinamerikanischen Kontext, wo Distanzen in der Kirche gelebt werden, den franziskanischen Synoden, die Wege für die Kirche Amazoniens und der Weltkirche des dritten Jahrtausends suchen, wird kurz die Geschichte der Firma „Pressto“ in Lima, Peru umrissen. Grundlage dafür ist die Studienarbeit von Berta de Vicente Garcia, Polytechnische Universität Madrid, die den Prozess der Transformation analysierte.

Inhaber auf Distanz oder Delegation als Willkür

Olivier Gesbert – Gründer und Inhaber der Wäschereikette mit rund 100 MitarbeiterInnen – musste aus verschiedenen Gründen Peru verlassen und zurück in seine Heimat Frankreich. Seine Firma übergab er an seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und delegierte Aufgaben und Verantwortungsbereiche. Mittelfristig zeigt sich, dass sie keine weiteren Delegationen annehmen wollten. Diese würden keine Freiheit lassen, die Aufgaben selbst zu gestalten. Vielmehr wurden sie als Anweisungen, gar als Befehle betrachtet. All das führte dazu, dass die Firma in Schieflage geriet.

Echter Wille zur Beteiligung oder Umsetzung von Selbstverwaltung

Gesbert fühlte sich seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verpflichtet und sah sich ihnen gegenüber in der Verantwortung. Gleichzeitig sah er es als Herausforderung an, die Zukunft der Firma nicht einfach aufzugeben. Folglich kam es zu den nächsten intuitiven Schritten. Sie gingen in Richtung Selbstverwaltung und das in einer Umgebung „in der Angestellten im Allgemeinen nicht getraut werden kann“.

Eine kleine Gruppe von fünf Personen – von denen im Verlauf keiner die pyramidale Spitze besetzen wollte – legte einen Plan vor, in dem der Eigentümer nicht mehr vor kam. Trotzdem entschloss er sich, den Angestellten zu vertrauen:

Die Analyse arbeitete fünf Schritte heraus, die dazu führten, dass seine Vision aufging.

    1. Eine klare Absicht bzw. Zweck: „Die Kleidung unserer Kunden so behandeln, als wäre es die eigenen.“ Kurz und bündig und mit wenig Deutungsspielraum!

Auch wenn es sich banal anhört, aber die gemeinsame Absicht/Zweck setzt den Rahmen für eine gemeinsames Handeln und gibt letztendlich die Richtung vor.

    2. „Ermöglicher“ von Beteiligung sein

Diese Haltung muss aktiv eingenommen werden und setzt Vertrauen in alle Beteiligten voraus. Zu ihr gehört aktives Zuhören und Aufgreifen der Anregungen aller Beteiligten, Entscheidungen auf eine breite Basis zu stellen und Konflikte – auch von außen begleitet – zu lösen.

    3. Dezentralisierung

Die vielschichtige Hierarchie der Firma wurde zu einem Netz aus Teams. Jede Filiale wurde eigenständig geführt bis hin zu strategischen Entscheidungen, der Verwaltung, der Abrechnung und der Einstellung neuer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

    4. Transparenz

Um für das Unternehmen gut Handeln zu können, wurden alle Informationen offen zugänglich gemacht. Auch die Bilanzen konnten alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einsehen und wurden wenn nötig erläutert.

    5. Kein erzwungener Wandel

Dem Wandel des Miteinanders wurde Zeit eingeräumt, damit sich die veränderten Formen des Umgangs ergeben, erschließen und etablieren konnten. Letztendlich wirkten sich die Veränderungen positiv auf die Zufriedenheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Fluktuation, den Umsatz und den Gewinn der Wäschereikette aus.

Vom Mythos ins dritte Jahrtausend

Der zu Beginn beschriebene Mythos der geteilten Verantwortung für die Seelsorge, welcher sich auf den alten Schwarz-Weiß-Fotos der Equipen der Missionarinnen und Missionare zeigt, kann durch gute Bedingungen eines Miteinanders umgesetzt werden. Förderlich scheinen dafür: die gemeinsame Definition der Absicht/des Zwecks, die Aufteilung der Verantwortungsbereiche und die Benennung der Verantwortlichen (Rolle), ein gegenseitiges Zuhören und Beraten und eine gute Beziehung zueinander. Die Bedeutung der guten Beziehung soll nicht unterschätzt werden, denn den Rat der Person, die ich schätze, kann nicht komplett außer Acht gelassen werden.

So könnte ein gedeihliches Voranschreiten mit vielen – ehren- und hauptamtlich Engagierten – umgesetzt werden und durch ein gutes Miteinander in die Gesellschaft wirken – weltweit.


Titelfoto: Große Distanzen und fehlende Priester machen es notwendig, kirchliche Gemeinden und Gemeinschaften mit denen zu gestalten, die vor Ort sind, nicht selten Ordensfrauen.


Verfasst von:

Alexander Sitter

Diözese Würzburg, Referent "Weltkirche" für Lateinamerika und die Zusammenarbeit mit den Hilfswerken