Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: Mai-Juni 2023

Schwerpunkt

Klimawandel im Ehrenamt

Grafik: Vectormine / Adobe stock

Pure Illusion oder bereits gelebte Erfahrung? Auf dem Weg zur selbstsorgenden Gemeinde

Auf der Suche nach attraktiven Zukunftsbildern von Kirche spielt die Vorstellung von „selbstsorgenden“ Gemeinden eine große Rolle – und zwar nicht nur als Antwort auf den stärker werdenden Rückgang an hauptamtlichen Seelsorgenden, sondern auch aus theologischen Erwägungen.

Es ist ein ansprechender Gedanke, dass möglichst viele Christinnen und Christen zusammen mit anderen ihre eigenen Möglichkeiten in die Hand nehmen und am Auftrag von Kirche selbst aktiv mitarbeiten. Und: Es ist ja auch ein ungemein ansprechendes Bild von einer selbstsorgenden Gemeinde, wenn ich es mir in bunten Farben vorstelle! Gemeinden, die so viel Engagement hervorbringen, dass nur mit Mühe jede und jeder einen eigenen Arbeitsbereich findet. Oder auch: Gemeinden, die sich sorgen, sich also Sorgen machen um alle Menschen, die in irgendwelchen Nöten sind – ganz im Sinne Jesu und seiner Hinwendung zu Ausgegrenzten und Unprivilegierten und dann als Gemeinde tatkräftig anpacken und wenn möglich Abhilfe schaffen.

Bei aller Attraktivität eines solchen Gemeindebildes ist das freilich auch eine handfeste Überforderung. Wer hat so etwas je erlebt oder davon jemals gehört? – Bis vielleicht auf das Beispiel der Jerusalemer Urgemeinde aus der Apostelgeschichte (wer nachlesen möchte: Apg 2,37-47). Doch auch dort ist das vielmehr ein Ideal als eine realistische Darstellung frühchristlicher Gemeinden aus dem ersten Jahrhundert.

 

Die Rolle von ehren- und vor allem hauptamtlich Verantwortlichen ist nicht hoch genug einzuschätzen. Foto: Yury ZAP / Adobe stock

Drei Aspekte scheinen mir dazu grundsätzlich wichtig: Zum einen geht es um unseren Begriff von „Gemeinde“. Unter „Gemeinde“ ist natürlich nicht „alles mögliche“ zu verstehen, doch wird sie hier möglichst weit gefasst. Nicht nur die klassische, territorial verstandene „Pfarrgemeinde“, sondern auch beispielsweise Ortsgruppen von Verbänden fallen daher darunter. Zweitens haben sich die Bedingungen, unter denen sich die meisten Menschen ein Ehrenamt vorstellen können, deutlich geändert: Zeitlich befristet, passend zur eigenen Biographie, möglichst klar beschriebene oder miteinander ausgehandelte Aufgaben und das Erleben von Freude und Sinn sind zentrale Kennzeichen dieses Verständnisses von Ehrenamt. Zum dritten ist faszinierend, wie unterschiedlich selbstständig und selbstsorgend Gemeinden derzeit sind. Es gibt welche, die stark von Hauptamtlichen abhängig sind, andere sind in den letzten Jahren quasi zum Erliegen gekommen und es gibt durchaus Gemeinden, die einen hohen Grad an Dynamik und Selbstorganisation haben. Demnach lässt sich an bereits Vorhandenes anknüpfen und darauf aufbauen. Welche Spuren in diese Richtung könnte es also geben, dass wir mehr selbstsorgende Gemeinden vorfinden?

Hohe Bereitschaft, sich zu engagieren

Der letzte Freiwilligensurvey der Bundesregierung von 2019, der seit 1999 alle fünf Jahre erscheint, stellt über die Jahre eine steigende Engagementquote fest: Ohne hier auf Details einzugehen sind – vielleicht überraschenderweise – 39,7 % der über 14-Jährigen in Deutschland demnach ehrenamtlich aktiv. In „Kirche/religiöser Bereich“ sind dabei knapp 7 % der Befragten engagiert, übrigens ein Wert, der langjährig stabil geblieben ist. Gespannt kann man auf den Freiwilligensurvey 2024 blicken, der erstmals mögliche Veränderungen durch die Corona-Pandemie berücksichtigt. So gesehen ist die Wohnbevölkerung in Deutschland jedenfalls von vornherein deutlich bereit, ein Ehrenamt zu übernehmen, was sich grundsätzlich auch positiv auf die Bereitschaft für ein kirchliches/religiöses Ehrenamt auswirken kann. Naiv wäre es nun, kritische Faktoren auszublenden, wie schlechtes Image, Reformstau, Rechtfertigungsdruck für Ehrenamtliche oder Rückgang religiöser Bindung bei vielen Menschen. Dennoch – oder gerade wegen der Möglichkeiten und manch guter Erfahrungen: Welche Faktoren sind es außer den bereits angedeuteten, die selbstsorgende Gemeinden entstehen lassen und fördern?

Gute Rahmenbedingungen schaffen

Eine der Grundfragen ist, welche Rahmenbedingungen haupt- und übrigens auch ehrenamtlich Verantwortliche für Engagement setzen und aktiv kommunizieren. Prüffragen können da sein: Dürfen sich bei uns nur Menschen engagieren, die sich jahrelang auf ein Ehrenamt verpflichten oder sind wir in der Lage, auch kurzfristige Engagements wirklich zu schätzen? Danken wir Menschen für ein Ehrenamt oder vermitteln wir den Eindruck, dass sie sich eher schämen müssen, wenn sie „schon wieder“ aufhören? Können wir unterschiedlich starke Bindungen von Ehrenamtlichen an „die“ Gemeinde zulassen? Suchen wir eher Leute für bereits vorhandene Aufgaben oder fragen wir noch mehr als bisher: Welche Fähigkeiten und Interessen haben Menschen in unserem Umfeld? Und: Was ist es, das die Menschen brauchen, das sie interessiert, sodass „Angebot“ und echte „Nachfrage“ zusammengebracht werden? Immer wieder geht es darum, die Balance zu gestalten aus vorhandenen Gaben und Aufgaben. Denn eine Zukunftsaufgabe für die Motivation von selbstsorgenden Gemeinden ist es, wirklich relevante Aufgaben zu haben. Aktivitäten reduzieren, Dinge mit anderen im Verbund kooperativ angehen und – ja unbedingt! – auch weglassen wird wichtiger werden. In der Wirtschaft und in aktuellen Debatten zur Nachhaltigkeit fällt dabei der Begriff der „Exnovation“. Gemeint ist damit das Fallenlassen von überkommenen Praktiken, Gewohnheiten und Angeboten, um für Neues Platz zu machen.

Lebensdienlichkeit und spirituelle Vertiefung

Damit eine Gemeinde nicht nur eine Aneinanderreihung von Projekten ist, braucht es für Nachhaltigkeit weiterhin eine gewisse Kontinuität. Strukturen werden freilich auch künftig benötigt, doch mehr als bisher auf ihre Lebens- und Sachdienlichkeit hin befragt werden. Es braucht Vernetzung, Kommunikation, Förderung, den Blick über den jeweiligen Tellerrand hinaus – auch mit regelmäßiger spiritueller Vertiefung, ausgerichtet auf die Frohe Botschaft und Jesus Christus als Mitte unseres Glaubens. Förderlich ist für eine künftige Kontinuität, wenn sich die über Jahrzehnte angestammten Gremien weiterentwickeln, wie das etwa durch neue Satzungen zum Beispiel bei den flexibleren „Gemeindeteams“ im Bistum Würzburg geschieht.

Kontrollfantasien zurücknehmen

Bei allem Nachdenken über Zukunftsbilder von Kirche werden wir auch damit umgehen lernen müssen, dass es in einem dynamischen Netzwerk von (selbstsorgenden) Gemeinden größere und kleinere Knotenpunkte gibt, genauso wie dickere und dünnere Fäden – und ebenso Lücken, die ihrerseits auch wieder Knotenpunkte werden können. Und noch einmal: Die Rolle von ehren- und vor allem hauptamtlich Verantwortlichen ist nicht hoch genug einzuschätzen. Wer eine selbstsorgende Gemeinde fördern will, muss eventuelle Kontrollfantasien zurücknehmen, eventuelles Konkurrenzdenken überwinden und eine gewisse Unklarheit akzeptieren; und im Vertrauen darauf, dass das Gute geschieht, Platz machen und Räume eröffnen.


Titelbild: Was ist es, das die Menschen brauchen, das sie interessiert, sodass Angebot und echte Nachfrage zusammengebracht werden?


Verfasst von:

Stefan Heining

Fortbildung und Begleitung im Bistum Würzburg