Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: Mai-Juni 2023

Schwerpunkt

Partizipation aller und gelebte Solidarität

Foto: Laci / Adobe stock

Gemeindepraxis im Neuen Testament

Es ist bekannt: Jesus dachte nicht daran, eine Kirche zu gründen. Sein Projekt war es vielmehr, die anbrechende gute neue Welt Gottes zu verkünden und sie erfahrbar zu machen. Mit dieser Botschaft wandte er sich an die Menschen in den Dörfern Galiläas und besonders rund um den See Gennezaret.

Erstaunlich genug: Jesu Tod bedeutete nicht das Ende seiner Botschaft. Im Gegenteil: In Windeseile verbreitete sie sich rund um das Mittelmeer, überall entstanden Gemeinschaften von Menschen, die an Jesus als Messias und Gottessohn glaubten. Wie war das möglich? Die neutestamentlichen Schriften sagen: Weil es Menschen gab, die Verantwortung übernahmen und die Botschaft glaubwürdig weitertrugen.

Auf Herrschaft wird verzichtet

Die Evangelien zeigen Jesus, wie er Menschen – die Zwölf ebenso wie eine größere Gruppe von 72 Jüngerinnen und Jüngern – mit Vollmacht ausstattet, um genau das gleiche zu tun wie er selbst: die neue Welt Gottes, das »Reich Gottes«, verkünden, Kranke heilen, Dämonen austreiben (Mk 6,7–13; Lk 10,1–12). Jesus teilt sein Charisma mit denen, die ihm nachfolgen, lässt sie teilhaben an seiner Macht – und ermöglicht es damit, dass sie eigenständig handeln und auch nach seinem Tod den gemeinsamen Weg weitergehen können. Dass dabei Frauen ebenso bedeutsam sind wie die männlichen Jünger, zeigen nicht zuletzt die Erzählungen rund um Karfreitag und Ostern.

Das Miteinander in der Nachfolgegemeinschaft soll nicht durch Herrschaft, sondern durch das Teilen von Macht und gegenseitiges Dienen geprägt sein. Eindrücklich zeigt das Markusevangelium, wie Jesus dies der Jüngergruppe auf dem Weg von Galiläa sogar zweimal ins Stammbuch schreibt (Mk 9,33–37; 10,42–45). Dabei geht es um wirklichen, echten Dienst und nicht um als Dienst getarnte Herrschaft. Für das Lukasevangelium ist dies sogar so wichtig, dass es das Gespräch über das Herrschen und Dienen in die Stunde des letzten Mahles verlegt, so dass der Herrschaftsverzicht zu so etwas wie einem letzten Willen Jesu für seine Nachfolgegruppe wird (Lk 22,24–27). Das Johannesevangelium schließlich zeigt Jesus in der Stunde des Abschieds, wie er den Seinen die Füße wäscht, also Sklavendienste übernimmt, und dies der Jüngergruppe als Modell für ihr zukünftiges Handeln aufträgt (Joh 13,1–17).

Teilhabe aller Getauften

Diese grundlegenden Impulse werden auch in den Gemeinden des Paulus aufgenommen und weitergeführt. Paulus versteht die Gemeinde als einen Leib mit vielen Gliedern (1 Kor 12). Zum Leib gehört, wer getauft ist. In der Taufe empfangen alle die Heilige Geistkraft und diese wiederum schenkt allen ihre besonderen Gaben, die Charismen. Jeder, jede Getaufte ist also Träger, Trägerin des Geistes und hat spezielle Gaben erhalten, die nun in die Gemeinde eingebracht werden können und sollen: »Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt.« (1 Kor 12,7)

Die Bügerversammlung (ekklesia) einer Gemeinde bestand nicht nur aus freigeborenen Männern mit einheimischem Bürgerrecht, sondern aus allen: Nichtfreie, Nichteinheimische, Nichtbürger, Nichtmänner. Foto: Tutye / Adobe stock

Die Gemeinde besteht also aus vielen Geistträgerinnen und Geistträgern, die alle ihre Fähigkeiten in die Gemeinschaft einbringen. Entsprechend dieser Fähigkeiten werden Aufgaben in der Gemeinde übernommen. Dabei geht es nicht darum, bestimmte Befugnisse bestimmten Menschen zuzuteilen oder andere Menschen von bestimmten Befugnissen fernzuhalten. Vielmehr soll den Charismen Raum gegeben werden. Die Grußliste am Ende des Römerbriefs zeigt, dass Frauen ebenso wie Männer, Einheimische ebenso wie Fremde, Versklavte und Freigelassene ebenso wie Freigeborene, Menschen jüdischer Herkunft ebenso wie Menschen nichtjüdischer Herkunft verschiedenste Aufgaben in den Gemeinden von Rom übernahmen (Röm 16,1–16, vgl. Gal 3,26–28).

Diese vielen verschiedenen Getauften mit ihren vielen verschiedenen geistgeschenkten Gaben bilden gemeinsam den »Leib des Christus« oder, anders ausgedrückt, den »Körper des Messias«. Die Glaubenden »verkörpern« den Messias, der wiederum in der Gemeinschaft der Glaubenden erfahrbar wird. Eine größere Würde kann man den Getauften kaum zusprechen. Es ist aber auch ein großer Anspruch damit verbunden. Denn wenn die Gemeinde der erfahrbare Christus ist, muss in ihr etwas spürbar sein von dem, was diesen Christus ausmacht – zum Beispiel in der Zuwendung zu den Armen und Randständigen, in gelebter Solidarität, in Barmherzigkeit und Vergebungsbereitschaft, Friedfertigkeit und Gerechtigkeit. Die Gemeinden müssen glaubwürdig sein, soll in ihnen der Christus erfahrbar sein.

Bürgerversammlung Gottes

Die Gemeinschaft der Getauften, die ihr Miteinander in dieser Weise realisieren, nennt Paulus ekklesia Gottes – Bürgerversammlung Gottes. Die ekklesia ist in der demokratischen Tradition der griechischen Städte das Organ, das über die Belange einer Stadt berät und entscheidet. Im Unterschied zu den Ekklesien der griechischen Städte haben zu den Ekklesien Gottes jedoch nicht nur freigeborene Männer mit einheimischem Bürgerrecht Zugang, sondern alle, und das heißt: auch Nichtfreie, Nichteinheimische, Nichtbürger, Nichtmänner. Dass dies tatsächlich realisiert wurde, zeigt wiederum die schon erwähnte Grußliste des Römerbriefs (Röm 16,1–16), die verschiedenste Menschen mit verschiedensten Aufgaben bis hin zu Leitungsfunktionen erwähnt. Wie sehr dies in der Botschaft vom Messias Jesus selbst seinen tiefsten Grund hat, zeigt der Tauftext aus Gal 3,26–28: »Denn ihr alle seid durch den Glauben Söhne und Töchter Gottes in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.«

Solidarische Gemeinschaften

Die frühen Gemeinden waren offenbar attraktiv für viele Menschen. Sie praktizierten ein Alternativmodell zur gesellschaftlichen Praxis mit ihren Hierarchien und Ungerechtigkeiten. Dass die alternative Praxis auch und gerade einen alternativen Umgang mit Besitz einschloss, zeigt die Apostelgeschichte. Sie erzählt, wie in der Urgemeinde von Jerusalem Besitz geteilt und allen Gemeindeangehörigen zur Verfügung gestellt wurde (Apg 2,42–47; 4,32–37). Gewiss ist dies ein Ideal, das die Apostelgeschichte in späterer Zeit ihren eigenen Gemeindemitgliedern als Vorbild vor Augen stellt. Doch lässt dieses Ideal etwas von dem hohen Anspruch erkennen, den diese ersten Gemeinden mit der Nachfolge Jesu verbanden: Wenn Jesus die Armen selig preist, weil sich jetzt ihr Schicksal wendet, dann muss die Gemeinde so leben, dass es den Armen tatsächlich besser geht und sie ein Auskommen in Würde haben. Dass dies schon damals nicht immer gleich gut funktioniert hat, zeigt die abschreckende Geschichte von Hananias und Saphira in Apg 5,1–11.

Auch darüber hinaus ist die Apostelgeschichte inspirierend für die kirchliche Praxis. Sie erzählt von ermutigenden Geisterfahrungen, von einer Botschaft, die die Menschen erreicht, oder auch von der Fähigkeit der Urgemeinde, auf Herausforderungen mutig zu reagieren, pragmatische Lösungen zu finden und Neues zu erfinden. Die Beispiele könnten fortgesetzt werden.


Titelfoto: Machtverzicht mit der Geste der Fußwaschung wird beim letzten Abendmahl thematisiert, ein Zeichen des letzten Willens Jesu an seine Nachfolgergruppe. 


Verfasst von:

Sabine Bieberstein

Professorin für Exegese des Neuen Testaments und Biblische Didaktik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt