Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: Mai-Juni 2023

Schwerpunkt

Werden und Vergehen

Foto: Ohsuriya / Adobe stock

Die Kirche geht unter – so wie wir sie kannten. Das ist in der Geschichte immer wieder so gewesen, wenn eine neue, grundlegende Technik die Gesellschaft neu formatierte. Dampfmaschine oder Computer verändern zu ihrer Zeit die Art, wie Menschen ihre Güter herstellen, Arbeit organisieren und als Gesellschaft zusammenleben. Kirche ist eingebettet in die sie umgebenden wirtschaftlichen und sozialen Strukturen.

Wer die Arbeitsprozesse verändert, der verändert Machtverhältnisse, Erfolgsmuster und das nötige Verhalten, um produktiv zu wirtschaften. Auch die Kirchenorganisation trägt dann nicht mehr und bröckelt, die bisherigen Antworten erscheinen nicht mehr schlüssig, Zweifel und neue Fragen nagen am ausformulierten Glaubensgebäude. Bis sich die Gesellschaft auf einem höheren Ressourcenniveau und auf einer Ebene höherer Komplexität neu stabilisiert hat – und die Kirche qualitativ besser und wirkmächtiger ist als zuvor.

200 Jahre Industriegeschichte hindurch haben wir die materiellen und energetischen Arbeitsprozesse verbessert, doch das ist weitgehend durchrationalisiert. In der Wirtschaft geht es zunehmend weniger um den Einfluss von Technik auf den Erfolg als vielmehr um die Frage, wie produktiv Menschen zusammenarbeiten und Wissen anwenden. Denn drei Mittelmäßige, die gut zusammenwirken, sind viel produktiver als der Super-Crack, bei dem es leider nicht gelingt, die Ergebnisse der Arbeitsteilung zusammenzuführen. Deswegen investieren Unternehmen stärker in Persönlichkeitsbildung, Sprachfähigkeit und eine konstruktive Führung. Das ist genau das, worum es im Glauben geht: Kommunikation – in der Gemeinschaft, in der Verkündigung, im Gebet, im Apparat und im Gemeindeleben. Es ist also gut, wenn wir uns jetzt im aktuellen Strukturwandel auch von theologischem und organisatorischem Ballast anderer Zeiten trennen, der Kommunikation zwischen Gläubigen behindert, und neu auf den Kern des Evangeliums schauen.

Worum geht es da? Was ist im Angesicht Gottes wichtig? Zwei-Punkt-Christen geraten da an ihre Grenzen: Die reden nur über Zölibat und Frauenpriestertum. Oder über Abtreibung und Homosexualität. Oder nur noch über Klimaerhitzung. Für eine neue Kirche braucht es als erstes eine ehrliche Debatte, was „christlich“ denn eigentlich bedeutet. Machen mich die Sakramente zum Christen? Oder das Bekennen? Können Trump-Unterstützer Christen sein? Oder jene, die dem orthodoxen Patriarchen Kyrill in seiner Haltung zum Leben und zum Krieg folgen? Meine Ahnung aus dem Evangelium ist, dass es vor Gott um mein Verhalten gegenüber anderen geht. Das Himmelreich kann ich mir nicht verdienen, soviel habe ich als Katholik auch verstanden. Aber wie sich jemand in den zahlreichen Konflikten im Leben und in der Arbeit, bei knappen Ressourcen und überschneidenden Interessen verhält, ob jemand fair streitet mit offenem Visier oder hinterhältig zur Vernichtung des anderen, das kann sich erst jetzt in den Prozessen der Wissensarbeit so richtig zeigen. Kein Bauer des Mittelalters und kein Industriearbeiter an der Stanzmaschine wurde ethisch so gefordert wie der Wissensarbeiter, der ständig reflektieren muss, ob nicht der andere recht hat, warum er ihn nicht mag und ob er egoistisch handelt. Die Kirche, die neu entsteht, wird sich an den Verhaltensweisen der Wissensarbeit orientieren und so dem Evangelium wieder einen Schritt näher kommen.

Wissensarbeit benötigt neues Verhalten

Alle Fachgebiete sind so komplex geworden, dass sie ein einzelner nicht mehr überblicken kann. Nie waren wir so angewiesen auf das, was andere wissen. Wenn jemand in der Firma dann nur von seiner Kostenstelle her denkt und von seiner Karriere, dann wird er Herrschaftswissen für sich behalten und so das ganze Projekt schädigen, ja vielleicht sogar scheitern lassen. Eine am Eigennutz orientierte Kultur, die die Wirtschaftswissenschaftler und sogar die Wirtschaftsethiker vielfach als gegeben hingenommen haben, ist in Zukunft weder produktiv, noch entspricht dieses Bild den tatsächlich da draußen herumlaufenden Menschen. Die haben erkannt, dass sie den Gesamtnutzen vom Zulieferer bis hin zum Kunden verfolgen müssen, wenn das Unternehmen überleben soll.

Um Millionen Euro teure Investitionsentscheidungen treffen zu können, müssen Verantwortliche eine möglichst realistische Sicht der Wirklichkeit haben. Doch weil Menschen dabei ihre Wahrnehmung eher anpassen als ihre Meinung zu ändern, besteht die Gefahr, am tatsächlichen Bedarf vorbei zu handeln. Deswegen wird in Unternehmen dafür gesorgt, dass möglichst viele Köpfe auf das Projekt schauen. Transparenz ist wichtig, damit alle nachvollziehen können, aus welchen Gründen welche Entscheidungen getroffen werden – damit sie ihr Spezialwissen einbringen können, das teure Fehler vermeidet. Dass sie Kritik üben, ist erwünscht, um die eigene Entscheidung gegen jeden Einwand wasserdicht zu machen.

Kommt es zum Streit, welche technische Lösung die Bessere ist, sind Emotionen in Ordnung, weil sie das „Warum“ transportieren sowie eine Fülle von Informationen, die sich auf die Schnelle gar nicht versprachlichen lassen – solange immer nur eine Seite emotional ist. Wenn zwei Abteilungsleiter zerstritten sind, fehlt die Information, die man gebraucht hätte, um den großen Kundenauftrag zu bekommen – deswegen gibt es einen ökonomischen Druck, sich auszusprechen und zu versöhnen.

Bei Meinungsverschiedenheiten stellt sich die Frage: Hält man zu seinem Freund oder zu demjenigen, der inhaltlich die besseren Argumente hat? Setzt sich die Fachfrau durch oder der mit dem besseren Draht zum Vorstand? Am freien Markt überlebt eine Firma nur, wenn sie ausreichend produktiv ist. Damit verschwinden die, in denen persönliche Beziehungen, Status und Macht wichtiger sind als Sachargumente; umgekehrt bedeutet das, dass in der Wirtschaft ein Kulturwandel stattfindet, in der langfristig Inhalt an erster Stelle kommt, an zweiter die Verantwortlichkeit und erst an Dritter die persönliche Beziehung. Das ist eine Kultur, in der der einzelne nicht in die Konformität einer Gruppe gezwängt wird, und das ist auch nicht mehr die Zeit der individualistischen Ellenbogen-Selbstverwirklicher. Produktiven Umgang mit Wissen gibt es nur in einer Kultur, in der der einzelne sich in Freiheit entfalten kann, um diese für das Gesamte einzusetzen. Das ist eine neue Arbeitskultur und sie macht Hoffnung auf das Evangelium, das sich in der Weltgeschichte erst allmählich entfaltet: Wahrhaftigkeit und Transparenz, Demut, Versöhnungsbereitschaft; das allmähliche Lernen, in Gemeinschaft zum Gemeinwohl zusammenzuwirken.

Kirche aus einer Zeit mit anderen Wirtschaftsstrukturen

Und in der real existierenden Kirche? Die funktioniert als absolutistische Monarchie, in der der Bischof theoretisch die alleinige Macht hat: er delegiert sie, kann die vielen Angelegenheiten aber gar nicht verfolgen; so entscheiden oft persönliche Amigo-Beziehungen die Konflikte. „Rom“ hat gesprochen, oder „das Ordinariat“; aber wer jetzt was warum entschieden hat, lässt sich meist nicht feststellen oder beeinflussen. Mit der mangelnden Transparenz fehlt auch die nötige Qualität hinter Entscheidungen, die intern nicht breit diskutiert und vorbereitet werden. Foren, in denen unzufriedene Gläubige aus den Gemeinden oder Kirchenmitarbeiter ihre Kritik vorbringen können, fehlen; und wenn es sie gibt, haben sie keine Relevanz. Kritik am Bischof oder am Pfarrgemeinderatsvorsitzenden ist nicht als Verbesserung willkommen, sondern eher Majestätsbeleidigung; früh wird man sozialisiert, bei kritischen Eingaben eher keine Antwort zu bekommen oder deutlich zu spüren, dass man sich unbeliebt macht. Mitarbeiter äußern ihre Kritik hauptsächlich hinter vorgehaltener Hand, um sich nicht zu schaden. Am Ende ist die systemische Vertuschung des sexuellen Missbrauchs nur ein Symptom eines viel schlimmeren Problems: Dass die Kirche in den sozio-ökonomischen Strukturen früherer Zeiten atmet. Im richtigen Leben ist ein Weiterbildner hoch angesehen, je besser es ihm gelingt, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Inhalte zu vermitteln, neue Lösungen aufzuzeigen und emotional aufzurichten, und das gelingt am besten in einem diskursiven Gespräch. Die Kirche dagegen hat die Universitätstheologie an die Spitze der Nahrungskette gesetzt, deren Blähsprache und statusorientiertes Verhalten den Bischof und die Professorenkollegen bedient, anstatt den Menschen in ihrem Glauben und Kirchenleben zu helfen, zu nützen und zu motivieren. Das alles haben die Menschen nicht mehr mitgemacht und sind einfach gegangen, obwohl sie an Gott glauben und sich gerne für sein Reich engagieren; das tun sie nun woanders. 

Der Weg zur neuen Kirche

Die Themen der Wissensarbeit sind auch die des Evangeliums; die neuen Strukturen der Kirche werden sich daran orientieren, wie Wissen produktiv angewendet werden kann. Käme Bonifatius heute nach Germanien, er würde mit diesen Themen seine Mission beginnen. Das Problem ist, dass das Thema „Wirtschaft“ für die Mehrheit der Berufskirchenleute „böse“ ist und sie nur bereit sind, es unter dem Aspekt von Profitgier und Ausbeutung in Südamerika zu diskutieren, nicht aber als gestaltende Kraft der Gesellschaft. So bleibt die Kirche sprachlos gegenüber der Lebenswirklichkeit von 45 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland. Die sehen ihre Arbeit als Beitrag, die Probleme der Welt zu lösen und sie zu verbessern. Dabei müssen sie vor allem ihre Kommunikation mit der Chefin und dem Chef und mit Kolleginnen und Kollegen meistern. Dass die Kirche sie dabei alleinlässt, zeigt sich an den Modebuddhas in den Managerbüros, den „Bestellungen an das Universum“ oder einer individualistischen Selbstoptimierung. Bei der Industrialisierung hat die Kirche zwei Generationen gebraucht, bis sie ihre Sprachlosigkeit überwunden hatte. Diesmal, in den Strukturen der Wissensarbeit, sollte es nicht wieder so lange dauern.


Verfasst von:

Erik Händeler

Freier Autor und Publizist