Ausgabe: Juli-August 2023
Katholisch in Bayern und der WeltRegenbogenpastoral – Weil Kirche LSBTI-Personen akzeptiert
Allzu lange wurden Leidensgeschichten verdrängt und nicht wahrgenommen. Doch in den vergangenen Jahren haben immer mehr Menschen, die „katholisch und queer“ sind, ihre Geschichten erzählt. Vor allem der Dokumentarfilm „Wie Gott uns schuf“ hat dafür gesorgt, dass ihre Stimmen nicht mehr überhört werden konnten. Es liegt nun an den Pfarrgemeinden, zu agieren.
1. Sehen: Die katholische Lehre verursacht Leiden. Lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche (LSBTI) Menschen leiden unter der katholischen Kirche. Manuela Sabozin-Oberem, eine lesbische Frau, die früher als Gemeindereferentin gearbeitet hat, schildert zum Beispiel in dem Buch „Katholisch und Queer“, wie schmerzhaft es für sie war, dass ihre Frau und deren Tochter bei einem Gottesdienst anlässlich der Verabschiedung aus einer Gemeinde nicht neben ihr sitzen durften, weil niemand wissen durfte, dass sie eine Familie sind. Mit diesem Moment begann eine Phase, in der ihre Zweifel an der Kirche immer größer wurden. Nur um den Preis eines Doppellebens ließen sich ihre lesbische Identität und die Erwartungen der Kirche zusammenbringen. „Es war ein langer Prozess. Über 20 Jahre hat er gedauert. Dann hat meine Seele gestreikt: Ich wurde krank.“ Sie kann nicht weiterarbeiten. In der Aufarbeitung ist es ihr wichtig, ihre Beziehung zu Gott und zu den Menschen von der Kirche zu trennen, deren Lehre ihr vorschreiben will, wie sie zu leben hat. Sie konvertiert zur evangelischen Kirche und heiratet dort ihre Frau. Doch „eine katholische Kirche, die authentisch ist“, vermisst sie bis heute.
Ein zweites Beispiel: Markus, Jahrgang 1980, ist in einem traditionellen katholischen Milieu aufgewachsen. Sichtbare Homosexuelle gibt es dort nicht und „schwul“ ist nur ein Schimpfwort. Das Fehlen einer positiven Sicht auf das Schwulsein wirkt sich so auf ihn aus, dass er meint, seine homosexuelle Orientierung nicht ausleben zu dürfen. Dadurch verpasst er seine Jugend. Er schreibt: „Man gewöhnt sich an das Gefühl der Scham und an Selbstabwertung. Irgendwann fühlt man sich zwar nicht mehr sündig oder krank, aber zumindest auf eine Art beschränkt und nicht in aller Selbstverständlichkeit gleichwertig.“ Der Weg in ein zölibatäres Leben scheint ihm ein sinnvoller Ausweg. Erst kurz vor der Weihe erkennt er, dass er damit seine Lebendigkeit riskiert, weil er sich nicht entfalten kann. Er arbeitet jetzt als Seelsorger.
Suche nach Spiritualität und Identität
Dies zeigt exemplarisch, wie die Lehre der römisch-katholischen Kirche mit ihrer Kombination aus moralischer Verurteilung und Tabuisierung lesbischen Frauen und schwulen Männern Schaden zugefügt hat. Allzu lange wurden diese Leidensgeschichten verdrängt und nicht wahrgenommen. Doch in den letzten Jahren haben immer mehr Menschen, die „katholisch und queer“ sind, ihre Geschichten erzählt. Vor allem der Dokumentarfilm „Wie Gott uns schuf“ hat dafür gesorgt, dass ihre Stimmen nicht mehr überhört werden konnten. Dieser Film, der im Zusammenhang mit dem kollektiven Coming-out des Netzwerks „#OutInChurch“ entstand, erzählt vor allem die Geschichten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kirche, die LSBTIQ sind. Dabei sollte aber nicht aus dem Blick geraten, dass die meisten queeren Menschen in der Kirche „einfache“ Gläubige sind, die nach ihrer Identität suchen, auf der spirituellen Suche sind oder sich in Verbänden und Gemeinden engagieren. Hat die Kirche ihnen tatsächlich nur Steine anzubieten?
Die neue Lehre ist umkämpft, aber notwendig
2. Urteilen: Die traditionelle Haltung der kirchlichen Sexualmoral zur Homosexualität wurde geprägt von der katholischen Naturrechtslehre, die auf die stoische Philosophie der Antike zurückgeht. Sexualität musste demnach der Fortpflanzung dienen und durfte nur innerhalb der (heterosexuellen) Ehe praktiziert werden. Theologisch wurde dies mit der Schöpfungsordnung von Gen 1–3 begründet: Gott habe den Menschen als Mann und Frau geschaffen, die einander heiraten und fruchtbar sein sollen. Gleichgeschlechtliche Formen der Sexualität fielen aus diesem Rahmen heraus und wurden daher als „in sich ungeordnet“ abgelehnt. Unterfüttert wurde dieses Normengebäude durch einige antihomosexuell ausgelegte Bibelstellen (Gen 19, Lev 18,22; 20,13; Röm 1,26f., 1 Kor 6,9f., 1 Tim 1,10).
Inzwischen hat diese antihomosexuelle Lehre jedoch ihre Plausibilität verloren. Die Auslegung der genannten Bibelstellen ist einer gründlichen Revision unterzogen worden, deren Argumente zum Teil sogar in der päpstlichen Bibelkommission aufgegriffen worden sind. Die historisch-kritische Exegese hat gezeigt, dass die moderne Vorstellung von dauerhaften, auf Liebe basierenden Beziehungen zwischen gleichberechtigten gleichgeschlechtlichen Partnern oder Partnerinnen in der antiken Welt so nicht existiert hat. Auch die biblischen Schöpfungserzählungen können nicht einfach über den Leisten des stoischen Naturrechts geschlagen werden, da sie viel facettenreicher sind. Vor allem aber hat sich das christliche Menschenbild verändert, denn heute betrachten wir den Menschen nicht mehr vorrangig als Teil der menschlichen Gattung, sondern als individuelle Person. LSBTI-Personen sind ebenso wie alle anderen Menschen Ebenbilder Gottes, deren Würde – nicht zuletzt durch die Institution Kirche selbst – nicht systematisch angegriffen werden darf. Da die sexuelle (wie auch die geschlechtliche) Identität zum Kernbereich der menschlichen Person gehört, muss jeder Mensch diesbezüglich eine positive Selbstachtung ausbilden können. Die Qualität der Beziehungen von queeren Personen hängt von der Qualität der Liebe ab, die in ihnen gelebt werden. Sie dürfen daher nicht länger pauschal als Sünde abqualifiziert werden, nur weil sie von der Kirche nicht als Ehe anerkannt werden.
Auf der Grundlage dieses Menschenbilds und dieser Beziehungsethik hat der Synodale Weg, der Reformprozess der katholischen Kirche in Deutschland, mit großer Mehrheit den Papst dazu aufgefordert, die bisherige Lehre zu homosexuellen Handlungen zu revidieren, und beschlossen, gleichgeschlechtliche Beziehungen zu segnen. Überdies wurde das kirchliche Arbeitsrecht so geändert, dass eine gleichgeschlechtliche Eheschließung kein Kündigungsgrund oder Einstellungshindernis mehr ist. Die Kirche in Deutschland hat damit die Konsequenzen aus einer unhaltbaren Situation gezogen, in der die Kirche ihrer Bestimmung als Sakrament des Heils für queere Menschen nicht gerecht geworden ist. Doch damit befinden wir uns nun weltkirchlich gesehen in einer widersprüchlichen und umkämpften Phase des Übergangs, in der beide Botschaften gleichzeitig im Raum stehen: Die Beschlüsse des Synodalen Wegs prallen auf den Katechismus. Ergebnis offen.
Angesichts der hier nur kurz skizzierten Auseinandersetzung um die richtige Lehre lohnt es sich, sich daran zu erinnern, dass das II. Vatikanische Konzil die pastorale Praxis gleichrangig neben die dogmatische oder moralische Lehre gestellt hat. Beide haben ihre Wurzel gleichermaßen im Leben Jesu: in seiner Praxis und in seiner Predigt. Papst Franziskus hat sich immer wieder mit Schwulen und trans Personen getroffen, ihnen zugehört und seelsorglichen Beistand gegeben. Durch sein gezielt gegebenes Beispiel für einen respektvollen pastoralen Umgang mit LSBTI-Personen hat er deutlich gemacht, dass es darauf ankommt, sich in die Nachfolge der Praxis Jesu zu stellen und die Frage der Lehre von diesem Standpunkt aus zu entscheiden.
Ein guter Zeitpunkt für eine LSBTI-inklusive Gemeinde
3. Handeln: Für Gemeinden und Seelsorgerinnen und Seelsorger bedeutet diese komplexe Widersprüchlichkeit, dass sie sich nicht mehr einfach an Vorgaben „von oben“ orientieren können, sondern sich ein eigenes Urteil bilden müssen. Gerade wegen dieser offenen Situation ist jetzt ein guter Zeitpunkt, um als Gemeinde in die Auseinandersetzung einzusteigen. Manche Gemeinden haben dies schon 2021 im Rahmen der Aktion „#Liebegewinnt“ getan, indem sie gleichgeschlechtliche Paare gesegnet oder als öffentlich sichtbares Zeichen der Solidarität an ihrem Kirchturm Regenbogenfahnen wehen ließen. Oft waren es Messdiener- oder Jugendgruppen, die dafür den entscheidenden Anstoß gaben. Selbst dort, wo es in gemeindlichen Gremien dafür einhellige Unterstützung gab, konnte dies nicht verhindern, dass es hier und da zu Protest- oder Störaktionen kam – bis dahin, dass die Regenbogenfahnen verbrannt worden sind. Wenn die tief verinnerlichten Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität berührt werden, sind fast immer starke Affekte im Spiel und nicht selten prallen dabei zusätzlich kulturelle Unterschiede aufeinander. Einen Raum zu schaffen, in dem es mit und trotz dieser Emotionen zu einem konstruktiven Austausch kommen kann, der den Beteiligten die Chance bietet, sich weiterzuentwickeln, ist eine wichtige pastorale Aufgabe.
Ausgangspunkt ist dabei die Frage, wie eine Gemeinde oder eine kirchliche Einrichtung LSBTI-Personen willkommen heißen kann. Damit dies glaubwürdig gelingen kann, müssen im Seelsorge-Team und im Pfarrgemeinde-/Pfarrverbandsrat eine Reihe von Fragen beantwortet werden: Sind alle damit einverstanden, dass LSBTI-Personen als Lektorinnen und Lektoren oder Kommunionausteilerinnen und Kommunionausteiler gleichberechtigt liturgische Dienste übernehmen dürfen? Wie kann etwa eine vielleicht unterschwellig noch vorhandene Erwartung überwunden werden, dass die sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität von LSBTI-Personen unsichtbar bleiben sollte, damit sich niemand gestört fühlt? Werden queere Paare etwa beim Valentinssegen nur mitgemeint oder sollen sie ausdrücklich eingeladen werden? Wie reagieren die Seelsorgerinnen und Seelsorger, wenn ein gleichgeschlechtliches Paar aus ihrer Gemeinde um einen kirchlichen Segen für sich bittet? Welche Begriffe und welche Sprache verwenden sie, wenn sie über und mit queeren Menschen sprechen? An Fragen dieser Art entscheidet sich, ob eine Gemeinde LSBTI-inklusiv ist oder nicht. Und davon hängt nicht mehr und nicht weniger ab als die Frage, ob sich die Kirche auf die radikal inklusive Reich-Gottes-Botschaft Jesu ausrichtet oder nicht.
Seit dem 1.9.2022 gibt es im Erzbistum München und Freising das Projekt „Regenbogenpastoral“. Wenn Engagierte in der Gemeinde für LSBTI-Personen offener werden wollen und sich damit auseinandersetzen wollen, bietet Dr. Michael Brinkschröder Unterstützung an: regenbogenpastoral@eomuc.de.
Verfasst von:
Michael Brinkschröder
Promovierter katholischer Theologe und Soziologe, Religionslehrer an einer Berufsschule in München, Projektleiter "Regenbogenpastoral" im Erzbistum München und Freising