Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: Juli-August 2023

Schwerpunkt

Theologie des Streitens

Ein offener Streit kann ein Baustein zum Wohle des Ganzen sein. Als Teil der Gestaltung der Gemeinschaft ist er ein Weg zu Gott und ein Prüfstein für die christliche Botschaft.  Foto: Giorgio / Adobe stock

Wir werden uns in Zukunft mehr und konstruktiver auseinandersetzen, um als  Kirche zu wirken und uns geistlich weiterzuentwickeln. Dafür brauchen wir eine neue Streitkultur. Sie ist die Antwort auf den Umbau der Gemeinden – und auf den Wandel der Arbeit mit Wissen.

Nie gab es mehr Gründe, sich zu streiten. Nicht, weil wir schlechtere Menschen geworden wären; sondern je komplexer jetzt Organisationen und das Leben werden, umso weniger funktionieren sie nach Befehl und Gehorsam, umso mehr Schnittstellen gibt es, umso mehr berechtigte Interessenskollisionen entstehen, muss mehr ausverhandelt werden, ringen Träger unterschiedlicher Kompetenzen um die bessere Lösung. Je mehr es in der Arbeitswelt darum geht, Wissen anzuwenden, umso mehr müssen verschiedene Spezialisten zusammenarbeiten. Ihre Kultur der Zusammenarbeit, ihre Fähigkeit, sich konstruktiv auseinanderzusetzen, zu streiten – das entscheidet in Zukunft über Wohlstand und politische Stabilität. Nun ist die Kirche eingebettet in ihr Umfeld. Dieselben Menschen, die mit Wissen in wechselnden Teams arbeiten, Verantwortung übernehmen und jeden Tag auf das Neue Konfrontationen mit Chef und Kollegen aushalten müssen – das sind dieselben, die dann im Pfarrgemeinderat oder in den kirchlichen Verbänden engagiert sind.

In der Kirche erleben sie dann eine völlig andere Welt: Meist gilt hier der, der kritische Diskussionen anzettelt, als „böse“; persönliche Beziehung ist oft wichtiger als Inhalt; Macht, Status und Gesichtswahrung spielen eine große Rolle. Die bisherigen Abläufe in der Kirche passen nicht mehr zu den neuen Verhaltensweisen, die sich in der säkularen Berufswelt herausgebildet haben, um produktiv mit Wissen zu arbeiten. Dabei hätten wir auch in Kirchenkreisen mehr Planken und Regeln nötig, um uns konstruktiv auseinanderzusetzen: Vom Streit im Pfarrgemeinderat oder in Verbandsgremien, vom Streit zwischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in kirchlichen Sozialeinrichtungen oder Problemen mit dem oder der Vorgesetzten, bei Glaubens-Auseinandersetzungen, ja bis in die Deutsche Bischofskonferenz und dem Tauziehen der Kurienkardinäle im Vatikan verhalten sich Menschen in der Kirche oft nicht besser als die in der sie umgebenden Gesellschaft.

Manchmal wird gar nicht erst gestritten, weil viele den Aufwand und die möglichen Verletzungen scheuen oder fürchten, ausgeschlossen zu werden. So bleiben Konflikte unterschwellig weiter bestehen, werden im Partisanenkrieg der alltäglichen Arbeit weiter am Köcheln gehalten und behindern eine gute Zusammenarbeit. Haupt- wie Ehrenamtliche kündigen innerlich, Gläubige ziehen sich zurück. Dabei ist dieses Verhalten weit von den Maßstäben des Evangeliums entfernt, das Christen und ihre Kirche in die Welt tragen wollen. Papst Franziskus hat in seiner Weihnachtsansprache an die Kurie 2014 einige destruktive Verhaltensweisen beim Namen genannt: Schlechte Absprache, Rivalität und Ruhmsucht; Vorgesetzte zu vergöttern, anstatt vom Gesamtwohl und der Aufgabe her zu denken; die Krankheit der geschlossenen Kreise; Statusorientierung, Ausnutzen der eigenen Macht. Und natürlich, so der Papst, betreffe diese Krankheiten „jeden Christen und jede Verwaltung, Gemeinschaft, Orden, Pfarrei und kirchliche Bewegung und können sowohl beim Einzelnen als auch in der Gemeinschaft vorkommen.“

Lob des Streitens

Jemanden aber konkret damit zu konfrontieren, dass er hintenherum agiere, statusorientiert sei und sich in seiner Kirchenarbeit um sich selbst drehe, endet in der Regel in einem Fahren gegen die Wand, einem Abstreiten, einem destruktiven Kampf, dem Abbruch von Beziehungen und Grabesstille. Und Kritik am Bischof oder Vorgesetzten, dass sein Verhalten kaum evangeliumsgemäß sei, wird oft von der Macht abgebürstet. Wo auf Kritik mit Gegenangriff, Blockade oder Entzug der Kooperationsbereitschaft reagiert wird, wird sich kaum jemand trauen, Kritisches anzusprechen – das Risiko, selbst ausgegrenzt oder beschädigt zu werden, ist einfach zu groß. Doch ohne Kritik gibt es weder eine realistische Sicht auf die Wirklichkeit noch neue Lösungen für neue Probleme.

Voraussetzung dafür, das Wirken des Heiligen Geistes zu ermöglichen, ist nach den Worten des Papstes daher, Konflikte bewusst zu bejahen. Die Alternative dazu wären Schweigen und verkrustete Strukturen. Wenn wir Gegensätze transparent machen, Motive klären, um Lösungen ringen, Verantwortung und Aufgaben gemeinsam verteilen, inhaltliche und Machtpositionen hinterfragen, tauchen wir in Auseinandersetzungen ein. Sie nicht zu führen, hieße, sich als Kirche nicht weiterzuentwickeln und sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen.

Kooperatives Streiten stabilisiert Kirche und Gesellschaft

Anders als in der Kirche kann man im Berufsleben einer Auseinandersetzung nicht aus dem Weg gehen, weil wir dort überindividuelle Probleme lösen müssen: Bauen wir die Maschine oder nicht? Und wer entscheidet das mit welchen Argumenten? Mit Befehlen und Strafen kann man Wissensträgerinnen und Wissensträger einschüchtern, aber sie werden ihr Bestes dann schön für sich behalten – aus diesem Grund sind in der Arbeitswelt Hierarchien aufgebrochen und durchlässiger gemacht worden. Es geht darum, nach welchen Regeln wir das Zusammenwirken organisieren.

Transparenz: Nur wenn alle Informationen für alle sichtbar auf den Tisch liegen und sie sich mit ihrem Wissen beteiligen können, werden die fachlich besseren Entscheidungen getroffen.

Projektorientierung statt Denken in Seilschaften: Wenn bei Konflikten in einem Unternehmen die meisten zu ihren Freunden halten oder zu den Machthabern, und nicht zu denen mit den besseren Argumenten, dann wird die Firma zu teuer produzieren oder die falschen Produkte anbieten und so am Markt nicht überleben.

Kooperationsfähigkeit: Wer sich nicht gegenseitig wertschätzt und motiviert, der arbeitet unproduktiv. Wichtig wird, offen auf andere zuzugehen und möglichst viele Kommunikationswege offen zu halten.

Versöhnungsbereitschaft: Wenn zwei Abteilungsleiter verkracht sind und nicht mehr miteinander reden, dann fehlt die Information, um an den großen Kundenauftrag zu kommen.

Diese Eigenschaften machen den Wettbewerbsunterschied aus. Und das ist konkrete Umsetzung des Evangeliums. Ob die Menschen das im öffentlichen Diskurs mit dem Christlichen in Verbindung bringen können, hängt auch davon ab, wie das in der Kirche umgesetzt wird – im Moment jedenfalls sieht es nicht danach aus. Dabei ist gerade jetzt die Streitkultur der Schlüssel für die meisten innerkirchlichen Probleme: Keiner theologischen oder spirituellen Richtung ist es gelungen, mit ihrer Vision für die ganze Kirche zu stehen. Die individuelle Ausdifferenzierung in der Gesellschaft ist an einem maximalen Punkt angekommen, so dass längst wieder überindividuelle Ziele und kooperative Verhaltensweisen zunehmen werden, um den Alltag besser bewältigen zu können. Die nächste Generation ist unideologisch und pragmatisch. Eine Vision von Kirche über alle Richtungen hinweg zu schaffen, das bekommt eine neue Chance – wenn die Streitkultur auf dem Weg dorthin stimmt. In den künftigen Gemeinden werden Laien ihre unterschiedlichen Begabungen einbringen, bekommt das Zusammenwirken in den größeren Pastoralteams und mit den vielen Ehrenamtlichen eine neue Qualität. Jede Diskussion verändert, lässt uns gegenseitig besser kennenlernen und zusammenwachsen.

Streiten als Weg zu Gott?

Während offener Streit in der Kirche als verpönt gilt, sollte er in Zukunft umgedeutet werden: Als Weg zu Gott. Das Himmelreich können auch wir Katholiken uns durch nichts verdienen. Aber die Art, wie wir uns verhalten, wenn unterschiedliche Interessen und Sichtweisen aufeinanderprallen, ob jemand mit Ellenbogen und Eigennutz agiert oder mit offenem Visier und am Wohle des Ganzen orientiert handelt: Erst das Tun zeigt, an welche Werte wir wirklich glauben. Das ist eine Theologie des Streitens: Wenn der Sinn des Lebens ist, Gemeinschaft mit Gott zu finden, und dies in der Gemeinschaft als Kirche und Gemeinde, dann ist die Gestaltung der Gemeinschaft zentrale Aufgabe auf dem Weg zu Gott. Der hat die Menschen vielleicht gerade deshalb unterschiedlich geschaffen, damit sie sich abstimmen und zusammenraufen müssen. Eine neue, intensiv gepflegte Streitkultur wird die Kirche nicht zerstören, sondern sie auf eine neue Ebene höherer Qualität entwickeln; sie wird zum entscheidenden Prüfstein für die christliche Botschaft. Diese kann dann über die Christen ausstrahlen in den Alltag der Firmen und in die Konfliktkultur innerhalb Familien. Kaum sind gerade mal 2000 Jahre Kirchengeschichte vorbei, gerät das, was das Evangelium ausmacht, in das Zentrum der gesellschaftlichen Entwicklung.


Verfasst von:

Erik Händeler

Freier Autor und Publizist