Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: Juli-August 2023

Schwerpunkt

Zwischen Rückzug und Neubeginn

Transformierung statt Säkulierung: Die klassischen Pfarreien haben ihre Aufgaben und Funktionen neu auszurichten, um den Menschen Hilfe leisten und Begleitung angesichts ihrer Bedürfnisse und Lebensherausforderungen geben zu können. Foto: Poloir / Adobe stock

Über Transformationen des Christentums

Die katholische Kirche steht momentan erheblich unter Druck. Nicht zuletzt aufgrund des Vertrauensverlustes, der durch die nicht enden wollenden Aufdeckungen sexuellen und spirituellen Missbrauchs sowie systeminterner Vertuschungsstrategien entstanden ist, verliert die Kirche derzeit massiv an gesellschaftlicher Zustimmung und Beteiligungsbereitschaft. Doch der Rückzug der Kirche ist nicht erst seit diesen Aufdeckungen im Gange.

Schon in der Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 bis 1965) deuteten zentrale Parameter darauf hin, dass der Kirche gravierende Veränderungen ins Haus stehen, auf die das Konzil Antworten finden wollte. Doch es wäre zu kurz gesprungen, würde man das Lagebild der Kirche ausschließlich negativ zeichnen, gibt es doch auch zahlreiche Anzeichen, dass der Transformationsprozess von Kirche und Christentum hin zu einem Neubeginn in Deutschland gelingen kann.

Säkularisierung oder Transformation?

Es scheint so, als ob sich die alte Säkularisierungsthese heute bewahrheiten würde. Diese ging davon aus, dass gesellschaftliche Modernisierungsprozesse und Religion in Konkurrenz zueinander stünden. Die Religion, so diese Annahme, würde aus diesem Konkurrenzverhältnis früher oder später als Verliererin herausgehen, sich ins Privatleben der Menschen zurückziehen und irgendwann ganz aus der modernen Welt verschwinden. Auch wenn diese These nicht völlig falsch lag, weil bestimmte religiöse Vorstellungen und Praktiken mit der Zeit tatsächlich vergangen sind (was religionsgeschichtlich gesehen ein völlig normaler Prozess ist), sind doch bestimmte Religions- und Glaubensbestände auch heute mitunter höchst vital erlebbar. Diese sind säkularisationstheoretisch nicht gut abbildbar. So kann die These vom prinzipiellen Religionsschwund in der Moderne nicht erklären, weshalb beispielsweise Sonntagsgottesdienste in den Pfarreien kaum mehr mitgefeiert werden, persönliche Lebensereignisse und -übergänge wie Geburten und Todesfälle, überhaupt Segensfeiern anlässlich wichtiger Lebensereignisse, vergleichsweise hoch im Kurs sind. Ebenso kann die Annahme einer prinzipiellen Religionsunverträglichkeit der Moderne nicht gut erklären, weshalb die Kirche in ihrer Sozial- und Bildungsarbeit hohe gesellschaftliche Anerkennung erfährt, gleichzeitig aber unter einem eklatanten Beteiligungsmangel in den Pfarreien leidet. Und schon gleich gar nicht will die allgemeine Säkularisierungsthese zu der Konjunktur spiritueller Themen und Praktiken passen, die seit geraumer Zeit auf höchst vielfältige und autonome Weise Einzug in moderne Lebenswelten gehalten hat.

So gesehen ist es hilfreich, den sozialen und religiösen Wandel mit einem weiteren theoretischen Zugang zu ergänzen: gemeint ist die Transformationstheorie. Sie besagt, dass Religion und Kirche mit modernen Lebenswelten kompatibel sind, sie die moderne Gesellschaft sogar mitformen und sich dadurch selbst verändern. Vor diesem Hintergrund können viele aktuelle kirchliche (Krisen-)Phänomene nicht als Niedergangs-, sondern als Veränderungsphänomene gelesen werden. Der Reformprozess „Synodaler Weg“ in Deutschland kann transformationstheoretisch als Entwicklungsprozess gedeutet werden, in dem sich die katholische Kirche an die Werte des modernen Rechtsstaats und dessen demokratische Kultur anzupassen versucht: Mitbestimmungs- und Partizipationsmöglichkeiten aller, Gleichberechtigung der Geschlechter und vieles mehr. Die Auseinandersetzung um die Zugangsmöglichkeiten von Frauen zu allen kirchlichen Ämtern ist so gesehen ein Ausdruck des Transformationsprozesses einer im Kern männlich-monarchisch strukturierten katholischen Kirche hin zu einer zeitgerechteren Kirche, die Mitwirkungsmöglichkeiten am kirchlichen Weiheamt nicht aufgrund des Geschlechts per se ausschließt.

Beide Theorien, Säkularisierung und Transformation, beruhen auf unterschiedlichen Vorannahmen darüber, was Religion im Kern ausmacht. Während die Säkularisierungsthese vor allem auf die offiziellen „Substanzen“ des Christentums fokussiert (beispielsweise Sonntagsgottesdienst, Kirchenstrukturen, Ämter, Lehren, typische Gegenstände und anderes), sieht die Transformationstheorie Religion als anthropologisches Phänomen an, das prinzipiell jeden Menschen auf unterschiedliche Weise auszeichnet. Im Mittelpunkt steht die menschliche Eigenschaft, sich selbst, das Leben und die Welt zu transzendieren, das meint, über die Daseinsgrenzen hinausdenken und erfahren zu können. Der transformationstheoretische Blick auf Kirche und Christentum eröffnet ein sehr breites Feld, Kirche und christliches Leben in modernen Zeiten weiterzuentwickeln, ohne sich in unergiebigen Rückzugsgefechten zu verstricken. Auf der anderen Seite stellt sich so aber auch die Herausforderung, das verbindend Christliche bzw. Kirchliche überlieferungs- und zeitgerecht immer wieder neu zu formulieren, ohne Beliebigkeiten einerseits und ohne rigorosen Abgrenzungstendenzen andererseits zu verfallen. Jedenfalls muss man bereit sein, Christentum und Kirche in neuen Formen, an anderen Orten und in veränderten Zusammenhängen zu denken und zu leben.

Seelsorge und Pfarrei

Am Beispiel der Pfarreiseelsorge kann man diese Herausforderung im Moment sehr gut nachvollziehen. Die Pfarreien und Gemeinden stehen schon seit Jahren unter Druck. Die Teilnahmequoten am Sonntagsgottesdienst und am pfarreilichen Leben nehmen beständig ab und laufen in manchen Regionen Deutschlands gegen null. Dazu kommt ein notorischer Mangel an Klerikern, die man nach den Anforderungen des Kirchenrechts eigentlich bräuchte, um Pfarreien zu leiten. Dies alles kann man als Säkularisierungsphänomen deuten, insofern so zentrale Substanzen wie die hier genannten mehr und mehr verschwinden (siehe oben). Wirft man hingegen einen transformationstheoretischen Blick auf die Pfarreien und großen Seelsorgebereiche und fokussiert auf die menschliche Eigenschaft, sich selbst, Leben und Welt (auch transzendenzbezogen) deuten und begehen zu können beziehungsweise zu müssen, wird deutlich, dass die klassischen Pfarreien ihre Aufgaben neu auszurichten haben, um den Menschen Hilfe leisten und Begleitung angesichts ihrer Bedürfnisse und Lebensherausforderungen geben zu können. Im Mittelpunkt müssten dann die existentiellen Herausforderungen der Menschen stehen, die sinnvoll gedeutet und begangen werden wollen. Dazu gehört sicherlich auch der Dienst an den „Armen und Bedrängten aller Art“ (GS 1, II. Vaticanum), die in das Zentrum der Pfarreiseelsorge zu rücken sind. Auf diesem Wege würden die Pfarreien und Seelsorgeverbände neue Aufgaben und Funktionen bekommen, die von der Modernisierung nicht weggespült werden, sondern neue Perspektiven christlicher Glaubenspraxis öffnen – allerdings zum Preis, sich von manchen gewohnten Programmen und Tätigkeiten verabschieden zu müssen, um Neues beginnen zu können.

Vielleicht ist ein Projekt im Erzbistum München und Freising hierfür ein gutes Beispiel. Dort wird die katholische Kirche im Frühjahr 2024 am Münchener Ostfriedhof ein „Trauerpastorales Zentrum“ eröffnen, das Trauernden und Hilfesuchenden aller Konfessionen und Religionen offenstehen soll. Ziel ist es, den Menschen in ihrer besonderen Lebenssituation des Abschieds und Verlustes mit einem differenzierten Angebot gerecht zu werden. Professionelle seesorgliche Begleitung, Begegnungsmöglichkeiten, Gesprächsrunden und Vorträge sind auf die Bedürfnislage der Menschen ausgerichtet. Ihre Situation bildet den thematischen Referenzpunkt kirchlichen Handelns. Was manchen auf den ersten Blick womöglich als Reduzierung des kirchlichen Sendungsauftrages erscheinen mag, kann auf den zweiten Blick als Modell für den Neubeginn kirchlicher Seelsorge vor Ort interpretiert werden. Nichts spricht dagegen, dass sich an solchen Orten eine neue Dynamik kirchlichen, christlichen und nicht zuletzt auch gottesdienstlichen Lebens entwickeln wird – verstanden als Transformationsphänomene, die sich im sozialen Wandel der Zeit aus der klassischen Pfarreiseelsorge heraus neu entwickelt haben.


Verfasst von:

Johannes Först

Professor und Lehrstuhlinhaber für Pastoraltheologie an der Universität Würzburg, Forschungsschwerpunkt: Religion und Kirche im Modernisierungsprozess