Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: September-Oktober 2023

Interview

Auch Gott spricht einfach!

Foto: Christian Burkhardt

Christian Burkhardt ist Priester und Leiter der Seelsorge für Menschen mit Behinderung in der Diözese Regensburg. Gottesdienste unterstützt er selbst in Gebärdensprache. Das erklärte Ziel seiner Abteilung lautet: Keine Grenzen. Alle sollen in der Kirche dabei sein können. Niemand soll ausgeschlossen sein. In der Kirche soll es keine Barriere geben. Für „Gemeinde creativ“ hat er uns die wesentlichen Punkte seiner Arbeit mitgeteilt.

 

 

Gemeinde creativ: Worin sehen Sie die Hauptmotivation, als Gemeinde inklusiv zu handeln?

Christian Burkhardt: Stellen Sie sich vor, Sie sitzen bei einem feierlichen Gottesdienst im Dom hinter der Säule. Sie gehen auch nicht in ein Konzert und setzen sich auf einen der Bühne abgewandten Platz. Für uns alle gehört es selbstverständlich dazu, immer alles mit möglichst allen Sinnen wahrnehmen zu können. Aber was, wenn das nicht geht? Wie fühlt sich eine Person, die aufgrund einer Behinderung genau das zwangsläufig immer erlebt? Ein sehgeschädigter Mann würde vielleicht auch gerne den Bischof sehen – geht aber nicht! Und die gehörlose Jugendliche würde gerne hören, wie Musik klingt oder was die anderen Jugendlichen beim Gottesdienst vortragen – geht aber nicht!

Manches geht wirklich nicht! Aber manches (um nicht zu sagen: vieles) geht, wenn man will! Und da sind wir mitten im Thema „Inklusion“. Wenn die ehrliche Absicht vorhanden ist, alle einzubeziehen, alle mitzunehmen, alle teilhaben zu lassen, dann kann Inklusion gelingen. Das gilt für jede einzelne Pfarrgemeinde vor Ort. Vielfach steckt ja kein böser Wille dahinter, wenn es hakt. Es wird einfach nicht daran gedacht. Man hat es nicht im Blick. Vielleicht auch, weil kein konkretes Gegenüber dazu vorhanden ist.

Was wäre der erste Schritt, den eine Gemeinde in Richtung Inklusion gehen kann und sollte?

Einfach mal zu überlegen: Kennen Sie diesen Gottesdienstbesucher, der in der dunklen Kirche die Lieder nicht aus dem Gotteslob lesen kann? Oder die alte Dame mit ihrem Rollator, die kaum die schwere Eingangstüre öffnen kann? Oder den alten Mann mit seinen Hörgeräten, der verzweifelt versucht, das eine oder andere Wort der Predigt aufzuschnappen? Oder das gehörlose Ehepaar, das die Kommunion des Enkelkindes mitfeiern möchte, aber in der zehnten Bankreihe nicht über die Köpfe der anderen sehen kann und deshalb nicht mitbekommt, was vorne gerade passiert?

In meiner Arbeit erlebe ich sehr oft, dass Inklusion immer dann gelingt, wenn ein konkretes Gesicht, ein Mensch, ein Gegenüber damit verbunden ist. Dann findet sich plötzlich eine Möglichkeit, wie Teilnahme und Teilhabe gesichert werden kann. Dann wird zum Beispiel der Pfarrbrief kontrastreich gestaltet mit einer klaren, serifenfreien Schrift und es werden einige Exemplare in Großdruck aufgelegt. Oder es wird eine Induktionsanlage eingebaut für Menschen mit Hörsystem. Vielleicht findet sich auch eine Lösung für die schwere Kirchentür, die sich
dann elektrisch öffnen lässt?

Wie können sich Gemeindemitglieder für Inklusion sensibilisieren?

Ich selbst arbeite schwerpunktmäßig im Bereich „Menschen mit Hörschädigung“ beziehungsweise „gebärdensprachlich orientierte Menschen“. Deshalb möchte ich alle um folgendes bitten: Stellen Sie sich Ihre Gottesdienste ohne Ton vor! Was bleibt? Es heißt doch: Glaube kommt vom Hören! Schön, wenn ich hören kann! Was aber, wenn nicht?

Hier greift noch eine zusätzliche Besonderheit, die mitberücksichtigt werden muss: Gehörlosen Menschen fehlt nicht nur das unmittelbare Hören; ihnen fehlt auch das Drumherum beim Hören, der Zusammenhang. Der Klang einer Stimme. Die Sprachmelodie, mit der wir „zwischen den Zeilen“ etwas aussagen. Der Tonfall, der den Unterschied zwischen Behauptung und Witz ausmacht. Und es fehlt – mehr oder weniger – auch das Sprachverständnis. Dazu kommt noch die Mehrfachbedeutung von Worten. Beispiel: Woran denken sie ganz spontan beim Wort „Taube“? Ich wage einmal zu behaupten, an das Tier mit zwei Flügeln. Gehörlose denken zuerst an eine gehörlose Frau! Deshalb brauchen gehörlose Menschen die Gebärdensprache.

Wie kann Liturgie und Verkündigung als zentrale kirchliche Aufgabe inklusiv werden?

Mit dem liturgischen Geschehen im Blick bedeutet Inklusion: Benötigt wird eine gebärdensprachkompetente Person. Die Gehörlosen brauchen einen Platz in der Kirche, der möglichst nah am Geschehen ist, damit sie die Personen sehen und das Mundbild der gebärdenden Person ablesen können. Weiter muss auf eine entsprechende Ausleuchtung des Raumes und der Personen geachtet werden. Dazu kommt, dass die biblischen und liturgischen Texte „vorbereitet“ werden müssen. Hier ist die Herausforderung besonders groß.

Viele biblische Texte setzen ein gewisses Hintergrundwissen voraus. Eine hörende Person eignet sich dies in der Regel durch Religionsunterricht, Bildungsarbeit und regelmäßige Teilnahme an Gottesdiensten im Laufe des Lebens an. Bei gehörlosen Menschen fehlt das häufig. Andererseits bietet die Bibel auch viele „Bilder“, die einer gebärdensprachlichen Vermittlung sehr entgegenkommen.

Theologische Texte wiederum sind vielfach sehr philosophisch angehaucht und können so nicht gebärdet werden. Sie müssen zuerst in eine einfache Sprache gebracht werden. Dies setzt allerdings voraus, dass die Person, die das macht, ein gewisses Maß an theologischer Bildung mitbringt. Aus meiner persönlichen Erfahrung als Priester, der bei Gehörlosengottesdiensten auch selbst gebärdet, kann ich sagen: diese Aufgabe fordert! Aber sie ist notwendig und wertvoll.

Vieles in einem Gottesdienst wird von den Gläubigen nicht mehr verstanden. Wäre das eine allgemeine Chance für die Verkündigung?

Hier kommt ein weiteres Element in den Blick, das zum Themenkomplex „Inklusion“ gehört: Leichte Sprache. Ich sehe gerade hier eine große Herausforderung an die Kirche als Ganze. Wenn Glaube vom Hören kommt, dann muss unsere Verkündigung so gehalten sein, dass sie von allen verstanden werden kann. Dafür ist eine einfache Sprache unabdingbar; und das nicht nur den hörgeschädigten Menschen zuliebe.

Meine persönliche Erfahrung über viele Jahre hin zeigt: Ausnahmslos alle, die an einem Gottesdienst teilnehmen, sind dankbar für einfache Sprache. Ich appelliere an dieser Stelle ganz eindringlich an alle, die liturgische und theologische Texte verfassen: Denken Sie an einfache Sprache! Sie baut Barrieren ab! Und glauben Sie mir: auch Gott spricht einfach!

Diese kurzen Hinweise sollen hauptsächlich eines verdeutlichen: Inklusion ist nicht in erster Linie „Etwas, das man machen muss“. Inklusion ist zuerst eine Frage der Sensibilität, der Achtsamkeit.

Mit welchen Schritten kann Inklusion konkret in der Pfarrgemeinde umgesetzt werden?

Diese können so unterschiedlich sein, wie es die Menschen sind. In der konkreten Umsetzung sind immer die persönlichen Bedürfnisse der betroffenen Menschen und die Gegebenheiten vor Ort in den Blick zu nehmen. Warum nicht eine blinde Lektorin oder einen gehörlosen Ministranten? Für die Pfarrgemeinde vor Ort heißt das: Inklusion ist nicht eine Sache, die im Pfarrgemeinderat einmal besprochen wird; wo einmal etwas gemacht wird oder gemacht werden muss und dann passt es.

Inklusion ist eine Haltung, ein Denken, das immer und überall mit einfließen muss. In der Erstkommunionvorbereitung ebenso wie beim Seniorencafe; bei der Vortragsreihe der Kolpingfamilie und bei der Planung des nächsten Familiengottesdienstes. Bei der Aufstellung des Haushalts durch die Kirchenverwaltung wie auch bei der Planung der nächsten Baumaßnahme.

Inklusion vor Ort in den unterschiedlichsten Bereichen des kirchlichen Lebens ist ein weites und schier unendliches Feld, an das man sich schrittweise herantasten muss. Aber es lohnt sich!

Christian Burkhardt , geboren 1962 in Eschenbach/Oberpfalz; gelernter Bankkaufmann; später Studium der Theologie und Philosophie an der Universität Regensburg; 1992 Priesterweihe in Regensburg; nach vier Kaplansjahren zunächst Pfarrer in Weiden-Neunkirchen (1995 bis 2002), danach Pfarrer in Oberviechtach-Pullenried-Wildeppenried (2002 bis 2007); seit 2004 zusätzlich im Bereich Hörgeschädigtenseelsorge tätig und parallel dazu Erlernen der Gebärdensprache; seit 2007 Hörgeschädigtenseelsorger für das Bistum Regensburg, seit 2010 auch für das Bistum Passau; seit 2016 Beauftragung zur Seelsorge für Menschen mit Behinderung.

 


Verfasst von:

Hannes Bräutigam

Redaktion