Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: September-Oktober 2023

Kommentar

Kirche kann Inklusion?!

Foto: Markus Schreier

„Können Sie mir noch ein gutes Buch zur Inklusionspädagogik empfehlen“, so die Frage einer Lehrkraft nach einer Fortbildung zu diesem Thema. Ich überlege einen Moment und gehe in Gedanken einige Veröffentlichungen durch und mir fallen einige namhafte Inklusionspädagoginnen und -pädagogen ein.

Und doch bleibe ich dann an einer Person hängen, dessen Ansätze schon sehr alt sind. Er hat keine einzige Zeile veröffentlicht, nie Sonderpädagogik studiert – und doch lässt sein Handeln eindeutige Schlüsse darauf zu, dass er Inklusion gelebt hat. Mehr zu diesem Fachmann am Ende dieses Kommentars.

Lange Zeit hat Inklusion sich vor allem mit Fragen der baulichen Barrierefreiheit befasst, um Menschen einen Zugang und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Dass sich hier schon so manches, wenngleich auch immer noch zu wenig, getan hat, zeigen Baumaßnahme auch in Kirchen und Pfarrzentren, wo Rampen, Blindenleitsystem oder Induktionsschleifen nach und nach selbstverständlich wurden. Und doch begegnen mir in meiner haupt- und ehrenamtlichen Tätigkeit noch immer Situationen und Haltungen, die ich gerne als „blinde Flecken“ bezeichnen möchte. 

Inklusion wird im engen Sinn auf die Frage der Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung und Handicap reduziert. Im Bistum Augsburg wählte die Stabsstelle „Schulische Inklusion“ der Abteilung Schule und Religionsunterricht bewusst bei ihrer Einrichtung im Jahr 2013 einen deutlich weiteren Inklusionsbegriff. Zielgruppe der Angebote sind Lehrkräfte und pädagogisches Personal, die sich mit Inklusionsfragen beschäftigen, im Blick auf Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigung und Handicap, in prekären Lebenslagen und solche, die von sozialer Benachteiligung bedroht sind; auch mit Flucht- und Migrationsbiografie.

Dieser Inklusionsbegriff umfasst also mehr als sichtbare, dauerhafte oder allein mit einer Diagnose verbundene Beeinträchtigungen. Vielmehr richtet sich der Blick auch auf Menschen mit chronischen Erkrankungen; Menschen, die in ihrer Existenz finanziell belastet und bedroht sind; Menschen, die psychische Ausnahmesituationen erleben und ihre Stabilität verloren haben; Menschen, die durch einen massiven familiären Konflikt nicht mehr in der Lage sind, ihren Alltag gut für sich und ihre Kinder zu gestalten; Menschen, die aufgrund ihres Analphabetismus weder eine Homepage noch einen Pfarranzeiger lesen können; Menschen, die …

Zudem werden Menschen in den Blick genommen, die durch Krieg, Klimawandel oder individuelle Bedrohungslagen ihre Heimat verlassen haben, um bei uns Schutz zu suchen. Es geht um die, die sich ganz neu in unserer Gesellschaft zurechtfinden müssen – aber auch um Menschen, die seit mehreren Generationen in Deutschland leben und mit ihrer Migrationsgeschichte Barrieren erleben oder das Gefühl haben, anders oder außen vor zu sein. 

Allzu lange hat Kirche sich im Bereich des Umgangs mit Fragen der Inklusion – und früher Integration – vor allem auf die Profis der „organisierten“ Caritas, auf Fachkräfte und Fachverbände verlassen. Anfragen und Bedürfnisse wurden wahrgenommen, aber nicht selten „wegorganisiert“. An vielen Orten war und ist es teilweise bis heute so, dass kaum Kontakte zu Wohngruppen oder Schulen für Menschen mit Beeinträchtigungen bestehen. Beratungsstellen liegen – auch mit der Begründung einer höheren Anonymität – nicht im Blickfeld der Pfarrei und bestimmte Personengruppe werden zwar durch Angebote wie etwa die Tafel unterstützt, aber diese Menschen spielen im alltäglichen Leben der Pfarrei kaum eine Rolle. Viel zu fremd sind uns diese Lebenswelten von Asylsuchenden oder Menschen mit geistiger Beeinträchtigung, von psychisch Erkrankten, von armutsbetroffenen Familien oder einem sozial-emotional belasteten Kind.

In den allermeisten Fällen ist dies keine bewusste Entscheidung gegen diese Personengruppen. Vielmehr fehlt an vielen pfarrlichen Orten oder in den vorhandenen Strukturen und Angeboten bei den Verantwortlichen (noch) das Bewusstsein dafür und vor allem fehlt es an Kontakt- und Berührungspunkten. Aus meiner Erfahrung deckt sich das übrigens auch mit dem System Schule im Kontext der Inklusion. Mit der Existenz einer Vielzahl von unterschiedlichen Förderschulen wurde lange Zeit begründet, dass es keine Inklusion brauche. Verkannt wurde dabei aber, dass beides nötig ist, um Menschen die Wahl zu lassen, zwischen einem besonderen Förderort (vielleicht auch nur für eine bestimmte Zeit) und Lernorten, die so umgestaltet werden, dass sie besonderen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen gerecht werden, aber gemeinsames Lernen aller ermöglichen.

Inklusion ist herausfordernd, weil ich aus meiner vertrauten und sicheren Wahrnehmung herausgeführt werde. Mir begegnen Dinge, die mir fremd sind: in der Sprache, im Fühlen, im Denken, in der Art und Weise der Kommunikation, im Verhalten. Das macht es herausfordernd und anstrengend. Aber auch spannend! Aus diesem Grund brauchen wir in allen Bereichen des Zusammenlebens, damit also auch in der Pfarrgemeinde, im Bildungssektor, in der Jugendarbeit etc., diesen sehr weiten Inklusionsbegriff.

Erst ein solcher kann (auch innerkirchlich) sensibilisieren für Barrieren, die (scheinbar) unsichtbar, jedoch vorhanden sind, wie etwa:

  • die Anmeldung zum Zeltlager, bei der der Eigenbeitrag und der Hinweis, "Outdoor geeignete Kleidung" mitzugeben, den finanziellen Rahmen einer Familie sprengt und zur Absage führt.
  • die Homepage einer kirchlichen Stelle, deren Komplexität und sprachliche Fülle weit weg ist von Leichter Sprache und Lesbarkeit.
  • die Predigt, die aufgrund der schlechten Lautsprecheranlage in Verbindung mit Schachtelsätzen zur akustischen und inhaltlichen Herausforderung für ältere Menschen oder Menschen mit Migrationshintergrund wird.
  • der dreiseitige Elternbrief zur Erstkommunion, der eine Mutter, die Analphabetin ist, überfordert und die aus Scham darüber ihr Kind wieder abmeldet.
  • die spürbare Ablehnung gegenüber dem psychisch kranken Mann, der nach dem Gottesdienst Kontakt sucht und doch mit den immer gleichen Themen und fehlendem Gespür für Nähe und Distanz Gemeindemitglieder "nervt" und "abstößt".
  • das Kind mit ADHS, dass die Mini-Gruppe stört und „am besten nicht mehr kommen sollte“.
  • die geflüchtete Mutter mit ihren Kindern, die durch ihre andere Religion, fehlenden Sprachkenntnissen und eine uns fremde Kultur kaum Anknüpfungspunkte bei anderen Müttern findet.

Inklusion hat mit der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention deutlich mehr Gewicht bekommen, auch in der Kirche. Und doch ist Inklusion „bei kirchens“ eigentlich nichts Neues.

Der eingangs erwähnte "Inklusionspädagoge" ist Jesus von Nazareth.

Seine Haltung, zu Menschen hinzugehen, zu hören, was sie brauchen, Bedürfnisse ernst zunehmen, ohne Menschen zu bevormunden, die Bereitschaft, auf Augenhöhe zu kommunizieren, setzt Maßstäbe für gelingende Inklusion. Die blinden Flecken machen uns deutlich, dass es sich lohnt, auch heute seiner Expertise und seinen Spuren zu folgen, damit Inklusion –  auch in der Kirche – gelingen kann!


Verfasst von:

Kristina Roth

Leiterin der Stabsstelle Schulische Inklusion, Bistum Augsburg