Ausgabe: September-Oktober 2023
SchwerpunktVoll teilhaben trotz Handicap

Blinde Menschen und Rollstuhlfahrer
„Wenn man anfängt, macht man Fehler!“ Diese beruhigenden Worte nahmen Winfried Knör die Angst, als er 1984 zu ministrieren begann. Womöglich machte der junge Mann damals ein paar Fehler mehr als andere. Was daran lag, dass er extrem schlecht sieht und auch kognitiv eingeschränkt ist. Inzwischen ist der Würzburger 58 Jahre alt. Und noch immer kirchlich engagiert. In seiner Heimatpfarrei St. Lioba schlägt er zum Beispiel regelmäßig den Gong, bevor der Gottesdienst beginnt.
Mesnerin Gabi Fröhlich freut sich, dass Winfried Knör dem Ehrenamts-team der Pfarrei angehört. Menschen mit einem Handicap einzubinden, ist nach ihren Worten in St. Lioba selbstverständlich. Gabi Fröhlich erinnert sich an eine junge Frau mit Down-Syndrom, die eine Zeitlang im Advent gern Veeh-Harfe spielte. Mehr als 50 Männer und Frauen sind in der Pfarrei im Würzburger Stadtteil Lengfeld aktuell ehrenamtlich engagiert. Auch Menschen, die aus anderen Ländern kommen, werden eingeladen, mitzumachen. Auf diese Weise konnte ein nach Würzburg geflohener Ukrainer dafür gewonnen werden, in Zukunft den Lektorendienst mitzuübernehmen.
Einmal gehörte dem Ehrenamts-team auch ein Lektor an, der aufgrund von Depressionen gesundheitlich eingeschränkt war. Dass St. Lioba derart inklusiv ausgerichtet ist, kommt laut Gabi Fröhlich nicht von ungefähr: „Unser ehemaliger Pfarrer Klaus Göbel war ungemein weltoffen.“ Aus seinem biblischen Bild vom Menschen ergab sich, dass jeder willkommen ist und jeder willkommen geheißen werden sollte. Auch wenn der Priester seit 1995 in Ruhestand ist, lebt sein Geist in der Gemeinde fort.

Winfried Knör, der in der Werkstatt für Menschen mit Sehbehinderungen der Würzburger Blindeninstitutsstiftung arbeitet und in einer Außenwohngruppe in Lengfeld lebt, wird in die Pfarreiarbeit einbezogen, wann immer das möglich ist. „Ich habe auch schon bei Kindergottesdiensten mitgemacht“, erzählt er. Unter anderem las er Fürbitten mit. Winfried Knör fungiert schließlich als Brückenbauer zwischen dem Blindeninstitut und der Pfarrei, schildert Gabi Fröhlich: „Er lädt unsere Gemeindemitglieder persönlich ein, wenn das Blindeninstitut ein Fest veranstaltet.“
Dass er völlig selbstverständlich dabei sein kann, hält Winfried Knör bei der Stange. Froh ist der Endfünfziger aber vor allem auch darüber, dass er in der Pfarrei St. Lioba nicht als „Betreuungsfall“ angesehen wird. Das Team erkennt ihn als vollwertiges Mitglied mit seinen speziellen Begabungen an.
Mitunter „Down“
St. Lioba liefert ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass es gerade auch in Pfarreien möglich ist, das Menschenrecht auf Inklusion in ehrenamtlichen Teams umzusetzen. Menschen mit Beeinträchtigungen partizipieren zu lassen ist allerdings oft gar nicht so einfach. Vor allem, wenn seelische Störungen vorliegen. Davon erzählt ein Pfarrer aus Unterfranken, der anonym bleiben möchte, weil er seine ehrenamtliche Mitarbeiterin schützen will.

„Diese Frau, die seit Jahren bei uns in der Pfarrei tätig ist, ist psychisch schwer beeinträchtigt und erlebt immer wieder Tiefpunkte“, erzählt er. Ist sie „down“, kann sie ihre Dienste kaum leisten.
Die anderen Freiwilligen im Team wissen darum – und fühlen sich deshalb gerade in Krisenphasen mit der Frau geschwisterlich verbunden. „Viele versuchen, ihr Hilfestellung zu geben oder auch ihren Dienst mitzuübernehmen, wenn es wieder einmal nicht geht“, schildert der Pfarrer. Zu den psychischen Leiden der Frau kommen körperliche Krankheiten hinzu. Ein Jahr lang fiel sie deshalb nun am Arbeitsplatz aus. Aktuell versucht sie, neuerlich ins Erwerbsleben einzusteigen. Auch möchte sie bald wieder ehrenamtlich in der Pfarrei aktiv werden.
Ein Blick in verschiedene bayerische Pfarreien zeigt, dass Menschen mit Beeinträchtigung als ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch relativ selten sind. „Mir ist kein einziger Fall in unserer Pfarrei bekannt, der das Thema Inklusion betreffen würde, selbst wenn man diesen Begriff sehr weit fasst“, erklärt Georg Lindl, Pfarrer von St. Benedikt in Gauting im Landkreis Starnberg. Womöglich läge dies daran, dass Gauting als kleine Einzelpfarrei ein zu geringes Spektrum der Gesellschaft abbildet, sinniert er.
Mit Multipler Sklerose (MS) aktiv
Das scheint in Traunreut im Landkreis Traunstein anders zu sein. „In unserer Pfarrgemeinde gibt es einen ehrenamtlichen Mitarbeiter, der aufgrund einer MS-Erkrankung im Rollstuhl sitzt“, berichtet Pfarrer Thomas Tauchert. Der Mann ist Mitglied im Pfarrgemeinderat und Vorsitzender des Pfarrverbandsrates. Zum Engagement kam es so: Eines Tages tauchte der Mittvierziger erstmals im Gottesdienst auf. Anschließend kam er immer wieder. „Irgendwann habe ich ihn dann gefragt, ob er nicht Lust hätte, für den Pfarrgemeinderat zu kandidieren“, berichtet der Theologe. Das tat der Christ. Und wurde prompt gewählt.
Inklusion bedeutet, dass ausnahmslos alle mitmachen dürfen. Keiner soll dazu „verdammt“ sein, nur am Rande zu stehen und zuzuschauen. Jeder soll mit seinen ureigenen Begabungen einen Platz in der Mitte der Gemeinschaft finden. So betrachtet meint Inklusion nicht nur Menschen mit Handicap. Sondern auch Menschen, die aus finanziellen Gründen an echter Teilhabe gehindert werden. Auch solche Gläubige gibt es in Traunreut bei Traunstein, bestätigt der Pfarradministrator der Pfarrgemeinden Mariä Geburt und St. Georg.
Nicht so gut betuchte Leute aus der Pfarrei können laut Thomas Tauchert dennoch bei Fahrten mitmachen, denn hierfür stehen Mittel aus dem Caritas-Fonds zur Verfügung: „Gehandhabt wird das Ganze so, dass kein Außenstehender davon erfährt.“ Auf Schwierigkeiten stößt Inklusion im engen Sinn nach seinen Worten immer dann, wenn die bauliche Umgebung nicht barrierefrei ist. Von Pfarreien genutzte Räume lassen sich nach seinen Worten auch oft nur mit enormem Aufwand umgestalten.
Am liebsten autark
Natürlich können gehbehinderte Menschen davon ausgehen, dass sie gerade in einer Pfarrei auf helfende Hände stoßen. Aber genau das meint Inklusion eben nicht, so Thomas Tauchert: „Jeder Mensch ist am liebsten autark.“ Einzig ebenerdige Zugänge, Rampen und Behindertentoiletten ermöglichen es Menschen im Rollstuhl, „unbehindert“ am Gemeindeleben teilzunehmen.
Eindrucksvoll findet Thomas Tauchert die Band „Rolligang“, in der sich Menschen mit Körperbehinderung engagieren. Die wurde 2001 an der Bayerischen Landesschule für Körperbehinderte in München von Religionslehrer René Vollmar gegründet. Unter anderem gestaltet die „Rolligang“ Gottesdienste mit.
„In unserer Pfarreiengemeinschaft sind alle willkommen, mit oder ohne Einschränkung und ganz egal, welche Orientierung sie haben“, betont Gerhard Reitz, der bis Juli Pfarrer von St. Adalbero in Würzburg war. Dem dortigen Pfarrgemeinderat gehörte lange ein blinder Mann an: „Er hat sich auch als Lektor engagiert und es war beeindruckend, wenn er eine Lesung in Blindenschrift vortrug.“ Vor acht Jahren erhielt St. Adalbero ein neues „Haus der Kirche“: „Zeitgleich haben wir eine Rampe am Südportal bauen lassen.“ Davon profitieren nun alle Menschen mit einer Gehhilfe.