Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: November-Dezember 2023

Schwerpunkt

Erinnern – Vergegenwärtigen – Hoffen

Bei der Palmweihe braucht es kein Katechismuswissen, sie ist Teil eines Zyklusses, der den Menschen über das Kirchenjahr hinweg Kraft und Segen vermitteln soll. Foto: Alexander Biernoth

Eine kleine Einführung ins Kirchenjahr

Bei religiösen Bräuchen handelt es sich um Rituale an den Knotenpunkten des Lebens, die den Menschen die Möglichkeit der Teilhabe am Naturgeschehen bieten. Die religiösen Wurzeln der Bräuche sind unverkennbar. Auch wenn sie oft verschüttet sind, so können sie doch durch eine kluge Pastoral wieder freigelegt werden. Es geht um die Erschließung der Sinnmitte des Lebens, denn „Brauch“ kommt von „brauchen“ – nötig haben! Die Kirche hat sie nötiger denn je.

Im „HopfenBierGut“, dem Museum der Stadt Spalt, in dem den Besucherinnen und Besuchern die dort verbreitete Tradition des Hopfenanbaus nähergebracht wird, erläutert ein kurzweiliger Film die Ernte des „grünen Goldes“: An Maria Himmelfahrt (15. August) seien die Dolden voll ausgebildet, an Bartholomäi (24. August) beginne die Hopfenernte und an Maria Geburt (8. September) verlassen die Erntehelfer wieder die Stadt – für die Hopfenbauern war also das Arbeitsjahr mit dem Kirchenjahr identisch, der Heiligenkalender ersetzte den Terminkalender. Und nicht nur für sie: Die Datumszeilen unzähliger historischer Urkunden und die im Volksmund verbreiteten Wetterregeln zeigen uns bis heute, wie sich das Leben des Einzelnen, aber auch der ganzen Gesellschaft bis in die Neuzeit am Kirchenjahr orientierte. Erst seit der Renaissance kam es zu einer immer stärkeren Auseinanderentwicklung der „kirchlichen“ und der „bürgerlichen“ Zeit. Das hing mit der immer genaueren Zeiterfassung durch mechanische Uhren sowie mit der stets effektiver werdenden Ausnutzung der Zeit durch die Wirtschaft in der sich entwickelnden Industrie zusammen – zugespitzt könnte man also sagen, dass die Menschen immer weniger Zeit hatten, je weniger ihr Alltag vom Jahreskreis der kirchlichen Feste bestimmt war. Vielleicht lohnt es sich schon deshalb, einmal neu über das Kirchenjahr nachzudenken!

So wie der Begriff „Kirchenjahr“ überhaupt erst im 16. Jahrhundert auftaucht, war sein Beginn im Mittelalter nicht eindeutig festgelegt – heute beginnt es mit dem ersten Adventssonntag. Wichtig für das christliche Grundverständnis der Zeit ist der Gedanke, dass unser Glaube nicht von einem zyklischen, also sich wiederholenden Verständnis ausgeht: Christinnen und Christen leben ihr Leben nicht im Kreis, sondern verstehen es als Weg mit Anfang und Ende – die Heilsgeschichte hat einen klaren Beginn und ein ebenso klares Ziel. 

Die Geschichte wiederholt sich nicht

Das ist mitunter der Grund, weshalb sich Wiedergeburtsvorstellungen nicht mit dem christlichen Glauben vereinbaren lassen: Die Geschichte wiederholt sich nicht, und das gibt jedem Augenblick und jedem individuellen Leben sowie jeder einzelnen Entscheidung ihre Würde und ihren einmaligen Wert. Der Liturgiker Hansjörg Auf der Maur charakterisierte das Kirchenjahr daher als „Feiern im Rhythmus der Zeit“, denn es interpretiert die menschliche Zeit im Fokus der Geschichte Gottes mit seinem Volk. Dabei spielt eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren mit hinein: In der Natur vorgeprägte Rhythmen wie der Wechsel von Tag und Nacht, die Mondzyklen oder das Sonnenjahr sowie biologische Konstanten wie das Werden und Vergehen oder die Menstruation; das Wesen des Menschen, zu dem Feste und Feiern ohne Frage dazugehören; der jüdische Festkalender aus der Bibel; heidnische Feste aus der Urzeit unseres Volkes, aber auch die Heiligenverehrung und prägende Ereignisse aus der Kirchengeschichte.

Die Grundlage für das richtige Verständnis des Kirchenjahrs bilden die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils, insbesondere die Nummern 102–111 der Liturgiekonstitution „Sacrosanctum Concilium“. Darin wird erklärt, dass es im Kern um das Gedächtnis von Tod und Auferstehung Jesu geht, begangen jährlich am Osterfest und wöchentlich am Sonntag. Alle christlichen Feste, auch die der Gottesmutter und der Heiligen, sind letztlich auf Christus bezogen und müssen von ihm her gedeutet werden. Deswegen heißen zum Beispiel die im Volksmund „Mariä Lichtmess“ beziehungsweise „Mariä Verkündigung“ genannten Feste offiziell „Darstellung“ beziehungsweise „Verkündigung des Herrn“. Wie schon bei den in der Heiligen Schrift bezeugten jüdischen Festen geht es darum, sich an die Heilsereignisse zu erinnern, sie dadurch neu zu vergegenwärtigen und aus dieser Verheißung, aus diesem „Schon und doch noch nicht“ Hoffnung für die Zukunft zu schöpfen. Es darf uns also nie nur um ein museales Rückwärtsblicken gehen, sondern die Erinnerung muss unser Handeln in der Gegenwart prägen.

Entwicklung des Kirchenjahres als Prozess

„Ostern“ ist nicht mehr allen Menschen ein Begriff. Die Osterfeier mit allen Sinnen spürbar zu machen, soll vermitteln, dass es nicht um Nostalgie geht, sondern um die Erschließung der Sinnmitte des Lebens. Foto: Alexander Biernoth

Es genügt wohl an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass das regelmäßige Gedächtnis des Todes und der Auferstehung Jesu, also das Osterfest, geschichtlich der Ausgangspunkt gewesen ist, der sich nach und nach entfaltete – es ist daher bis heute das wichtigste und zentrale christliche Fest. Erst relativ spät kam das Weihnachtsfest hinzu. Im Mittelalter wurden weitere Herren- und Christusfeste eingeführt, die Heiligenfeste immer stärker vermehrt sowie Ideen- und Devotionsfeste (wie etwa Fronleichnam oder das Dreifaltigkeitsfest) in den Jahreskreis aufgenommen. Heute, nach der Liturgiereform, die manchen Wildwuchs beschnitten hat, besteht das Kirchenjahr demnach aus dem österlichen Triduum (Gründonnerstag – Karfreitag – Ostern), dem die österliche Bußzeit („Fastenzeit“) vorausgeht und dem die 50 Tage der Osterzeit folgen; der Weihnachtszeit (vom Heiligen Abend bis zum Sonntag nach dem 6. Januar), der die Adventszeit vorgeschaltet ist, sowie aus der allgemeinen Zeit des Kirchenjahrs. Die protestantischen Kirchen folgen im Prinzip der gleichen Ordnung, während sich zu den Ostkirchen deutliche Unterschiede zeigen.

Reformation, Aufklärung, Säkularisation

Schon durch die Reformation, aber noch stärker seit der Epoche der Aufklärung (schon damals wurden kirchliche Feiertage gestrichen!) und der immer mehr um sich greifenden Säkularisierung spielt die durch das Kirchenjahr geprägte Zeit in unserer Gesellschaft eine immer schwächer werdende Rolle. Die eingangs genannte, durch die Landwirtschaft bestimmte Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung ist passé, das kirchliche Milieu schmilzt immer mehr ab. Die zunehmende Mobilität verhindert, dass die Menschen stets in der gleichen Gruppe zusammen feiern, was die Bindung an die Gottesdienstgemeinde schwächt, aber auch innerkirchliche Faktoren wie eine lebensfern gestaltete Liturgie spielen mit hinein.

Gegenwärtig befinden wir uns in der eigenartigen Situation, dass das dem Kirchenjahr zugrunde liegende theologische Programm nicht mehr im allgemeinen Bewusstsein der Bevölkerung präsent ist, dass es aber doch immer noch(!) die Zeitordnung der Gesellschaft prägt.

Indentitätsstiftende Wirkung für Gemeinde

Gerade in dieser Zeit der Krise und der Verunsicherung kann die identitätsstiftende Wirkung des Kirchenjahrs für Gemeinde und Kirche eine Chance sein, ein möglicher Ansatzpunkt für Gemeindebildung und –aufbau, denn – wie gesagt – noch, aber wohl nicht mehr allzu lange sind Worte wie „Weihnachten“ oder „Ostern“ den Menschen ein Begriff. Das Kirchenjahr sollte aufgrund seiner sinnstiftenden Bedeutung einen Schwerpunkt in der Pastoral jeder Gemeinde bilden, denn die christlichen Feste machen den Glauben mit allen Sinnen erfahrbar, und zwar derart unmittelbar und direkt wie kein anderer Bereich kirchlichen Lebens – „Sakramente muss man spüren“, sagt der bekannte Münchener Pfarrer Rainer M. Schießler dazu, und wer eine Osternacht oder eine Christmette bewusst mitfeiert, der weiß, wovon er spricht.

Glaubwürdigkeit und Schlichtheit der Liturgie

In der Praxis wird es dabei auf Stimmigkeit, Glaubwürdigkeit und Schlichtheit der Liturgie ankommen – sie sollten aus sich selbst heraus verständlich sein und das in der Verkündigung Gesagte spürbar unterstreichen. Da viele Menschen keinen Zugang mehr zu den Hochformen der Liturgie finden, sollten vielgestaltige Gottesdienste selbstverständlich sein. Niederschwellige Gottesdienstformen, die nicht allzu viel Katechismuswissen voraussetzen und den Menschen unabhängig von ihrem weltanschaulichen Hintergrund oder ihrer Lebensform Kraft und Segen vermitteln, sollten vermehrt in das Kirchenjahr unserer Gemeinden eingestreut werden. Beispiele dafür gibt es genügend: Segnungsgottesdienste, die Sternsingeraktion, Gottesdienste mit Tieren, Fahrzeugsegnungen, Hungertuchmeditationen und -wallfahrten, Pilgerwege und -gottesdienste oder Sternprozessionen in den neuen Seelsorgebereichen sind nur einige davon.

Für die mit dem Kirchenjahr verbundenen Bräuche gilt im Grunde das Gleiche wie für die offizielle Liturgie: Sie haben nicht mehr die Bedeutung wie früher und sind in vielen Fällen „hohl“ geworden – aber es handelt sich um Rituale an den Knotenpunkten des Lebens, die den Menschen die Möglichkeit der Teilhabe am Naturgeschehen bieten. Die religiösen Wurzeln der Bräuche sind unverkennbar. Auch wenn sie oft verschüttet sind, so können sie doch durch eine kluge Pastoral wieder freigelegt werden. Es handelt sich dabei keineswegs nur um Nostalgie, sondern um wesentlich mehr: Um die Erschließung der Sinnmitte des Lebens, denn „Brauch“ kommt von „brauchen“ – nötig haben! Die Kirche hat sie nötiger denn je.


Verfasst von:

Norbert Jung

Domkapitular Erzbistum Bamberg