Ausgabe: November-Dezember 2023
SchwerpunktTüren statt Mauern
In knapper Zusammenfassung können wir Bräuche beschreiben als ein gemeinsames Handeln einer Gruppe, das sich vom Alltag abhebt und eine bestimmte Funktion erfüllt. Zu diesem Handeln gehören spezifische Merkmale, wie zum Beispiel eine regelmäßige Ausübung und Wiederholung und – damit verbunden – natürlich auch ein gewisses Alter bzw. eine relative Langlebigkeit. Außerdem gehört dazu ein bestimmbarer Gestaltungsrahmen, also ein durch Anfang und Ende gekennzeichneter Handlungsablauf mit besonderen formalen und zeichenhaften Ausdrucksformen. All diese Elemente müssen den Ausführenden zumindest in ihren Grundzügen bekannt sein. Denn wären sie uns nicht bekannt, könnten wir an Bräuchen nicht aktiv teilnehmen.
Keine ungebrochenen Linien
Die Summe aller unserer Bräuche wird im allgemeinen Sprachgebrauch gerne unter dem Sammelbegriff „Brauchtum“ zusammengefasst. Von diesem Ausdruck hat sich die Volkskunde/Ethnologie als universitäre Disziplin allerdings stark distanziert, weil er vor allem seit dem 19. Jahrhundert als ein sogenanntes System- oder Traditionskontinuum, also als eine Art gerade, ungebrochene Linie interpretiert wurde, deren Anfänge bei manchen Bräuchen angeblich bis in vorchristliche, also in keltische oder germanische Zeiten zurückreichen sollen. Solche Deutungsbemühungen sind heute in den meisten Fällen nach wissenschaftlichen Maßstäben nicht mehr haltbar. Bräuche sind nicht statisch, sondern einem permanenten Wandel unterzogen.
Brauchen wir Bräuche?
Bei all dieser Veränderlichkeit soll aber natürlich keineswegs grundsätzlich die Bedeutung von Bräuchen in Frage gestellt werden. Die häufig gestellte Frage „Brauchen wir Bräuche?“ kann man mit einem deutlichen „Ja“ beantworten. Denn, um es ganz einfach zu sagen: Würden Bräuche keinen Sinn machen, gäbe es sie nicht. Bräuche erfüllen vielfältige, komplexe Funktionen, die hier nur knapp umrissen werden können: Bräuche heben das Leben aus dem Alltag heraus, sie geben dem Jahreslauf Rhythmus und Struktur, sie verleihen bedeutenden Momenten im menschlichen Leben einen feierlichen Charakter, sie stiften regionale Identität, gesellschaftliche Orientierung und soziale Bindung, sie vermitteln Glaubensinhalte und Wertvorstellungen, sie halten Traditionen und Erinnerungen wach, sie dienen der Gemeinschaft und der Geselligkeit, aber auch der Repräsentation und der Selbstdarstellung, sie bieten Unterhaltung und Vergnügen – ein viel zu häufig unterschätzter Aspekt – und sie können schließlich auch einen wirtschaftlichen Nutzen verfolgen, in erster Linie natürlich im Bereich des Tourismus.
Eines ist sicher: Bräuche werden sich in ihrer äußeren Form auch weiterhin verändern. Tendenzen wie eine zunehmende Kommerzialisierung, Säkularisierung und „Eventisierung“ ebenso wie ein Trend vom aktiven Brauchhandeln hin zum passiven Brauchkonsum sind unverkennbar. Dennoch müssen uns solche Transformationsprozesse nicht grundsätzlich beunruhigen, denn die Bräuche tun damit nichts anderes als das, was sie immer schon getan haben: sie wandeln sich, indem sie sich geänderten Situationen und Bedürfnissen anpassen. Sie sind leichter zugänglich geworden. Bräuche sollten daher heute keine Mauern mehr sein, die Gruppen voneinander trennen, sondern Türen, die sie miteinander verbinden.
Verfasst von:
Michael Ritter
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bayerischen Landesverein für Heimatpfege