Ausgabe: November-Dezember 2023
SchwerpunktZwischen Leonhardifahrt und Traktorensegnung
Pfarrer dokumentieren Bestand und Wandel religiösen Brauchtums in den 1950er Jahren
Immer wieder in den letzten zwei Jahrhunderten mussten die Pfarrer für das Münchner Ordinariat den aktuellen Stand ihrer Pfarreien beschreiben oder schriftliche Ausarbeitungen zu pastoralen Themen einsenden. Die Pfarrer wird dies weniger gefreut haben. Doch sie schufen damit höchst aufschlussreiche Quellen, die Einblicke in das kirchliche Leben der näheren und ferneren Vergangenheit erlauben.
Im Archiv des Erzbistums München und Freising umfasst der Bestand „Pastoralkonferenzen“ den Zeitraum 1943-1965. Er versammelt die Einsendungen zu Themen, die das Ordinariat vorgab und mit denen sich die Geistlichen eines Dekanats bei ihren regelmäßigen Treffen zu befassen hatten. Darin geht es um verschiedenste pastorale Herausforderungen der jeweiligen Gegenwart (wie die Auswirkungen von Krieg und NS-Diktatur, die Integration von Flüchtlingen oder die Situation der christlichen Ehe), um Fragen des Religionsunterrichts, aber auch um historische Themen, die die Pfarrer anhand ihres Pfarrarchivs bearbeiten sollten.
Umbruchsituationen damals
Die vierte „These“ des Jahres 1958 hatte das „noch erhaltene, absterbende oder bereits abgestorbene religiöse Brauchtum des Seelsorgsbezirkes“ zum Thema. Für Vergangenheit und Gegenwart sollten sich die Pfarrer auf persönliche Erlebnisse, mündliche Berichte und historische Aufzeichnungen stützen. Sie sollten aber auch zukunftsweisende Anregungen und Vorschläge zur Erhaltung oder Wiederbelebung wertvoller Bräuche geben und Ansätze zur Bildung neuen Brauchtums aufzeigen. Schon die Fragestellung ging also davon aus, dass Bräuche neu entstehen, sich wandeln, umgestaltet und mit neuem Sinn versehen werden oder vergehen können. Zugleich ist mit der Rede von „wertvollen“ Bräuchen eine grundsätzliche Thematik angesprochen: Bei allem Eigenwert, den das Brauchtum für die Identität einer Gemeinschaft besitzt, kann die Kirche sich doch nicht damit begnügen, Bräuche um ihrer selbst willen weiterzuführen. Sie wird sie vielmehr immer auch am Maßstab der christlichen Botschaft messen und fragen, ob dadurch (noch) das zum Ausdruck gebracht wird, was man (früher) damit beabsichtigte. Dass solche Bewertungen allerdings ihrerseits zeitbedingt sind, versteht sich.
So gesehen können die Berichte von 1958 ein nützlicher „Spiegel“ sein, um sich über das Thema heute Gedanken zu machen. Denn sie stammen aus einer gesellschaftlichen Umbruchszeit, in der auch in Kirche und religiösem Brauchtum vieles in Frage stand – schon deutlich vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) und seinen Reformen, die manche gern dafür verantwortlich machen. Bisher hat niemand die circa 1.600 (!) Seiten vollständig ausgewertet. So müssen (und können hier wohl auch) einige Schlaglichter genügen.
Allein die Fragestellung des Ordinariats umfasst rund eine halbe Seite; so viele mögliche Bräuche, zu denen die Pfarrer etwas sagen könnten, sind stichwortartig aufgeführt, gegliedert in drei Bereiche: 1. „Das Mitleben des Volkes mit dem Kirchenjahr“ (von Advent bis Allerseelen), 2. „Das religiöse Brauchtum in den Häusern und in der Familie“ (von Hausweihe bis Leichengebräuche) und 3. „Das religiöse Brauchtum im persönlichen Leben des Christen“ (von Sakramentenempfang bis Stoßgebet). Die Antworten sind sehr unterschiedlich – je nach Persönlichkeit der Berichterstatter, aber auch je nach den örtlichen Verhältnissen in Stadt und Land zwischen Alpenrand und Hallertau.
Sternsingen noch für die eigene Tasche
Um in letzterer zu beginnen: Der Pfarrer der knapp 700 Seelen zählenden Pfarrei Abens stellte fest, dass in seinem ländlichen Sprengel mittlerweile der „Adventskranz mit den vier Kerzen“ auch in der Schule und in den meisten Häusern seinen Einzug gehalten habe. Als weitere Neuerung gibt es zu berichten: 1948 wurde statt der Matutin in der Heiligen Nacht „eine Krippenlegungsfeier gehalten, die großen Anklang gefunden hat – sogar bei den Männern, die bis dahin als ‚Haushüter‘ der Christmette ferngeblieben waren“. Dagegen ist das „Neujahrsanschießen“ nicht mehr üblich und auch das Sternsingen wird hier „schon seit Jahren nicht mehr durchgeführt“. Dagegen hat sich im Münchner Stadtteil Allach aus den Ministranten eine Sternsingergruppe neu gebildet. Der gesammelte „Obulus in Naturalien oder Geld“ kommt dann allerdings „zu gemeinsamer Verteilung“; denn die „Aktion Dreikönigssingen“ des Kindermissionswerks, die dem alten Brauch eine neue Ausrichtung gab, fand erst 1959 zum ersten Mal statt.
Die in Abens früher am Nachmittag gehaltenen Fastenpredigten mussten mit den jeweiligen Sonntagsgottesdiensten verbunden werden, da der Besuch „zu wünschen übrig ließ und der Wirtshausbesuch nach der Predigt zur Hauptsache zu werden schien“. Das Heilige Grab wird nach wie vor aufgebaut und füllt den ganzen Altarraum aus, so dass der Karfreitagsgottesdienst an einem Seitenaltar gehalten werden muss – aus heutiger Sicht eine eindeutig falsche Akzentsetzung. Beim Brauchtum rund um das Osterfeuer sieht der Pfarrer dringenden Reformbedarf: „Sobald der Priester die Feuerstätte verlassen hat und außer Sicht ist, stürzen sich die Buben wie eine Horde von Strauchrittern mit ihren an Ketten befestigten Holzscheitern auf die Feuerstätte, wobei es regelmäßig zu Keilereien kommt; was sie nach Hause bringen, ist kein geweihtes Osterlicht, sondern angekohlte Holzstücke und rußverschmierte Gesichter und Hände. Die gesamte übrige Osternachtfeier kommt für sie nicht mehr in Frage.“
Pferde werden weniger
Die zunehmende Mechanisierung der Landwirtschaft macht sich auch in Abens bemerkbar: Vom früher üblichen „Pferdeumritt“ am Blasius-Tag (3. Februar) hat man inzwischen abgesehen, „da die Pferde von Jahr zu Jahr weniger werden“. Auch die immer noch praktizierte Pferdesegnung werde wohl „über kurz oder lang … von einer Auto- und Feldmaschinenweihe abgelöst“ werden. Ähnliche Überlegungen stellen auch zahlreiche weitere Pfarrer an; denn so manche traditionsreiche Leonhardifahrt wird in diesen Jahren aufgegeben, und die Wiederkehr der Pferde aus Liebhaberei war ebenso wenig abzusehen wie das dadurch ermöglichte Wiederaufleben von Umritten.
Der Nachbarpfarrer von Kirchdorf an der Amper wünscht sich, dass in den Familien die herkömmliche Lesung aus der Heiligen Schrift am Samstagabend wieder mehr in Übung käme, sieht sich bei seinem Kampf gegen veränderte Lebensgewohnheiten jedoch auf recht verlorenem Posten: „… freilich dürfte dann auch nicht der harte Kampf von so manchen ‚altmodischen‘ Pfarrer gegen den Samstagnachttanz ausgerechnet von der katholischen Jugend torpediert werden!“
In Aschheim bei München, wo seit 1945 zahlreiche neue Häuser entstanden sind, konstatiert der Pfarrer, eine „Hausweihe“ habe „nur ganz selten stattgefunden“. In vielen Häusern gebe es zwar noch einen „Herrgottswinkel“, in vielen anderen hänge aber kein religiöses Bild mehr. Dass nur noch wenige Familien gemeinsam das Tisch- oder Abendgebet beten, sieht er nicht nur „im allgemeinen Schwinden des religiösen Geistes“ begründet, sondern auch darin, dass „die Familie unter der Woche fast nie zu diesen Zeiten vollzählig beisammen ist“. Hier wird erneut sichtbar, wie eng sozialer Wandel und religiöses Brauchtum zusammenhängen.
Beim Lesen der angeführten Beispiele dürfte sich ganz automatisch ein Vergleich mit den eigenen Erfahrungen und lokalen Traditionen angeboten haben. Im zeitlichen Abstand von gut einem halben Jahrhundert wird auch deutlich, was sich an Bräuchen erhalten, was sich überlebt hat und welche Neuansätze es inzwischen gibt.
Für alle, die wissen wollen, wie es 1958 in ihrer Pfarrei im Erzbistum München und Freising um das religiöse Brauchtum stand: Die Berichte zur Pastoralkonferenz von 1958 sind – nach Dekanaten geordnet – online über das Digitale Archiv des Erzbistums München und Freising einsehbar.
Verfasst von:
Roland Götz
Stellvertretender Direktor und Vizekanzler, Archiv und Bibliothek des Erzbistums München und Freising