Ausgabe: Mai-Juni 2024
SchwerpunktOrganisationen, die bewegen
Die Rolle der Kirche im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen
Schüler einer katholischen Schule oder Patientin in einem katholischen Krankenhaus gewesen zu sein, von einer Ordensfrau in einer kirchlichen Kita erzogen oder in einem christlichen Jugendtreff Freunde fürs Leben gefunden zu haben, ist etwas Besonderes, oder?
Trotz und inmitten kirchlicher Herausforderungen erfuhren und erfahren Menschen in den Einrichtungen und Körperschaften, im Gesundheits- und Pflegesektor, in der Pastoral oder im Bildungs- und Sozialwesen der Kirche viel Gutes! Gemeinden, Träger, Kliniken, Kitas, Schulen und viele mehr betreiben ihr Angebot im Zeichen des Evangeliums und somit im Auftrag der Kirche. Was fehlt, wenn die Kirche sich hier verabschiedet oder anders gefragt, welchen Mehrwert zeigen kirchliche Einrichtungen auf?
Hand aufs Herz, wieso haben Sie Ihr Kind aufs katholische Ursulinengymnasium geschickt? – Moderne Einrichtung, gute Ausstattung! Und wieso bevorzugen Sie die Kita St. Petri? – Weil sie ums Eck ist und die Wege kurz sind! Aber wieso arbeitet Ihr Mann im St. Marien-Hospital? Die Herz-Chirurgie hat einen exzellenten Ruf und sie bezahlen ihn als Experten auf seinem Gebiet nicht schlecht! Und das war‘s? Auf den ersten Blick scheinen diese Antworten alltagsnah zu sein. Kirchliche wie nicht-kirchliche Schulen verfolgen mitunter das Ziel guter Bildung und Begleitung junger Menschen zu integren Persönlichkeiten. Krankenhäuser streben schließlich nach Heilung und Pflege ihrer Patienten und so weiter. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Unterscheiden sich kirchliche Einrichtungen also nicht (mehr) von nicht-kirchlichen und gehören diese Einrichtungen dann überhaupt noch in das Portfolio der Kirche? Fordert doch die neue Grundordnung von allen kirchlichen Einrichtungen ein christliches Profil und eine katholische Identität.
Es lohnt sich bei dieser Frage, einen Schritt weiterzugehen und sich von der Idee der Unterscheidung zu lösen. Vorausgesetzt natürlich ein hoher qualitativer Standard und ein starkes System an Prozessen, Angeboten oder Leistungen, sollte der Blick auf Entscheidung gesetzt werden. Denn es geht nicht um die Frage, inwiefern sich kirchliche Einrichtungen zu anderen unterscheiden, als vielmehr um eine bewusste Entscheidung für einen bestimmten Umgang und eine bestimmte Haltung innerhalb der Einrichtungen, also Markenkern, Vision und Profil, aber auch um die Verantwortung und den fürsorgenden, Hoffnung schenkenden Einsatz für die Menschen und die Gesellschaft, also eine christliche Organisationskultur. Was heißt das?
Über das Minimum hinaus
Man kann wohl sagen, dass es sich um eines der bekanntesten Gleichnisse Jesu handelt: die Erzählung des sogenannten barmherzigen Samariters (Lk 10,25-37). (a) In aller Einfachheit wird dem verletzten Mann durch die Haltung der Fürsorge und das Erkennen seiner Notsituation konkrete Hilfe zuteil. Der Samariter lässt den Mann nicht allein. Er kümmert sich um ihn in einer Situation der Angewiesenheit. Mit Blick in die heutige Zeit gehört der in dieser Erzählung angedeutete Einsatz der sogenannten Ersten-Hilfe wohl kaum zu den katholischen Sonderwerten, die nur Christinnen und Christen exklusiv verfolgen. Die Pflicht, dem in Notgeratenen zu helfen, hat es längst aus einem christlich ethischen Impuls heraus in die Rechtsordnung geschafft. (b) Die eigentliche Idee des Christlichen in diesem Beispiel nennt die theologische Ethik das Prinzip der Supererogation (lat. über und verteilen) und überschreitet diese Pflicht. Der Samariter entscheidet sich darüber hinaus bewusst für eine größere Handlung, die über das eigentliche Minimum an Hilfe hinausragt, nämlich die Zusage, für die weiteren Kosten und die Obhut des in Notgeratenen aufzukommen.
Die Nachfolge Jesu und das Wesen der Kirche ist neben der Liturgie und Verkündigung immer schon geprägt vom diakonischen Einsatz für die Welt. Das angebrochene Reich Gottes mit zu verwirklichen, bedeutet, sich nicht um die vielfältigen Fragen, Sorgen und Nöte der Menschen zu winden oder sich aus den sozialen Bereichen zurückzuziehen. Vielmehr zeigt die Geschichte viele Beispiele herausragender und engagierter Männer und Frauen, die, von dieser Haltung und dem Glauben motiviert, ihren Anspruch einer gerechteren Welt verwirklicht haben. Die zahlreichen Gründungsgeschichten von Hospitälern, Stiften, Hospizen, Schulen und viele mehr sind auf den Einsatz dieser Menschen zurückzuführen. Dabei ging es nicht um schnelle Hilfe oder kurzfristige Lösungen (a), sondern um nachhaltige Unterstützung und kontinuierliche Verbesserung der Situation (b). Nächstenliebe ist kein kurzer Moment, sondern ein ausdauernder Prozess.
Wert christlicher Fürsorge erfahren
Drei kurz angedeutete Punkte, mit welchen Werten und aus welchen Gründen sich Kirche (dennoch) weiterhin engagieren muss:
1 Auch wenn sich Systeme wie Schule, Krankenhaus oder Pflege im Positiven weiterentwickelt und allgemein (rechtlich, ethisch, gesellschaftlich, sozial, …) aus dem primär kirchlichen Kontext gelöst und etabliert haben, gibt es innerhalb dieser Systeme zahlreiche blinde Flecken. Am Beispiel der Altenhilfe sind die Fragen rund um den assistierten Suizid, Menschenwürde und Fürsorge im Pflegealltag und andere zu nennen. Kirchliche Einrichtungen müssen verlässliche Räume sein, in denen der Mensch nicht nur im Leitbild im „Mittelpunkt“ steht, sondern in den alltäglichen Routinen und im Umgang den Wert christlicher Fürsorge erfahren kann. Das Ethos Jesu zeigt sich in der ernsthaften Auseinandersetzung mit Missständen und Ungerechtigkeiten und gibt sich nicht mit Mittelmäßigkeit zufrieden.
2 Kirchliche Einrichtungen spielen vor allem auch dort eine zentrale Rolle, wo Menschen Hilfe nicht um ihrer selbst willen erfahren, sondern es um Profit oder Ausbeutung geht. Der Samariter scheint erfolgreich gewirtschaftet zu haben, um sich des Verletzten so annehmen und für seine Kosten aufkommen zu können. Erfolg steht nicht im Widerspruch christlicher Interaktion. Einrichtungen der Kirche müssen den Menschen aber Sicherheit aufzeigen und die Zusage geben können, sie auch in turbulenten Zeiten nicht im Stich zu lassen. Kirchliche wie nicht-kirchliche Einrichtungen beispielsweise im Sozial- oder Gesundheitswesen kämpfen um gute Fachkräfte oder finanziell stabile Rahmen und werden gegebenenfalls einige ihrer Dienste und Leistungen anpassen oder reduzieren müssen. Entscheidend wird es dann sein, ob sie sich aufgrund ihres Profils dann bewusst für die Bereiche entscheiden, in denen Kirche auch heute nicht wegsehen und auch den zweiten Schritt gehen muss, weil andere es nicht mehr tun.
3 In den unterschiedlichen Aktionsfeldern der Kirche sind Menschen beruflich tätig. Manche von ihnen arbeiten, um Geld zu verdienen. Andere entscheiden sich bewusst aus ihrem Glauben heraus, aufgrund der Idee einer besseren und gerechteren Welt oder anderen bewegenden Gründen dort zu arbeiten. Diese Menschen mit ihren Werten, ihrer Überzeugung oder ihrem Glauben zeichnen die Kirche und ihr soziales Wirken aus. Mit diesen engagierten Mitarbeitenden kann Kirche auch weiterhin christliche ethische Impulse sichtbar in der Welt setzen und entschieden anders sein.
Verfasst von:
Hannes Groß
Direktor des Instituts für christliche Organisationskultur in Dortmund, Theologe, Philosoph, Ethiker