Ausgabe: Juli-August 2024
SchwerpunktIn sich sinnerfüllend
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Musik und Religion: Gemeinsamkeiten und ihre Grenzen
Religion und Musik gehören seit Menschengedenken eng zusammen. Ob sie ursprünglich einer gemeinsamen Sphäre angehörten oder zunächst selbständig bestanden und dann kooperierten, ist schwer zu entscheiden, da hier einschlägige Quellen fehlen. Aber nicht zuletzt die Christenheit verfügt über einen schier unerschöpflichen Schatz an Musik aus vielen Jahrhunderten.
Bereits in der Bibel ist der religiöse Kosmos auch ein klangdurchwaltetes Universum. Man denke nur an Psalm 57,9 oder an den Bericht über die musikalische Tempeleinweihung in 2 Chr 5,13f. – eine Stelle, die J.-S. Bach zu einer nicht ganz einfach zu interpretierenden Notiz am Rand seiner Bibel veranlasste: „Bei einer andächtigen Musik ist allezeit Gott mit seiner Gnaden Gegenwart.“ Auch wenn in Ermangelung eines Notationssystems kein einziger Klang aus biblischer Zeit auf uns gekommen ist, ist dennoch der hohe religiöse Stellenwert der Musik mit Händen zu greifen. Und trotz der mit der Renaissance zunehmend einsetzenden Emanzipation der Kunst von der Religion, die dann im 19. Jahrhundert in der „Autonomie der Kunst“ programmatisch wurde, ist das Verhältnis zwischen Musik und Religion weiterhin eng. Die Musik profitiert nach wie vor von den althergebrachten religiösen Symbolen, um der eigenen Erlebnistiefe Ausdruck zu verleihen, die Religion wiederum sucht durch die Musik verbrauchte Symbolbestände zu revitalisieren. Zudem behaupten die Spitzenprodukte der christlichen Musik ihren Platz mühelos auch im „säkularen“ internationalen Konzertbetrieb.
Doppel-Fuge
Läßt sich das enge Verhältnis verständlich machen? Nicht hilfreich scheinen mir dogmatische Platzanweisungen (etwa: „Die Musik ist die Gehilfin der Theologie“). Vielmehr soll kurz ausgelotet werden, inwiefern es strukturelle Überschneidungen zwischen den Erlebnisbereichen Religion und Musik gibt. Das Verfahren hat nicht zuletzt den Vorteil, dass nicht zwischen Musikstilen und -epochen unterschieden und auch nicht mit dem historischen Sitz im Leben, etwa Konzertsaal oder Kirche, argumentiert werden muss.
Musik wird auf verschiedenen Ebenen erlebt. Da sind zunächst die Komponistinnen oder Komponisten, die einen musikalischen Gedanken fassen, vielleicht zunächst nur einen Eindruck haben, der dann angereichert und in Tonfolgen umgesetzt wird. Wissen um die zeitgemäßen Kompositionstechniken und die dazugehörigen Regeln reicht allein nicht aus. Es bedarf zur Produktion einer Komposition von Rang eines höheren Talents, das unverfügbar gegeben ist oder eben nicht. Denn nicht nur das Dasein des Menschen gehört zu den großen Kontingenzen, sondern auch sein Sosein. Wie sich diese Begabung konkret zeigt, etwa in rauschhaften Zuständen, die sich vielleicht auch in einer spontanen Improvisation Ausdruck verschafft, ist eine Frage des individuellen Temperaments. Manch einer – wie etwa Beethoven – arbeitet mitunter Jahre an einem Stück, verwirft, streicht, setzt neu an, arbeitet sich an Vorbildern ab; anderen steht ein Stück gewissermaßen fertig vor Augen bzw. Ohren, bevor sie es zu Papier bringen – etwa Max Reger. Aus dem ursprünglichen musikalischen Einfall, dem Spannungsgeflecht von Tonabfolge, Klangfarbe, Dynamik, Agogik, Kontrapunkt und Rhythmus ergibt sich das Weitere.
Beleben von notierter Musik
Von dem Erlebnisgehalt, der einer Komposition zugrunde liegt, bleiben dann aber nur Noten auf einem linierten Stück Papier. Da ist nichts zu hören. Der lebendige Kompositionsvorgang ist sedimentiert. Ein Profi kann natürlich auch nur mit einem Blick in die Partitur einen Eindruck von der Musik gewinnen. Aber zwischen dem Notentext und dem Hörerlebnis liegt in der Regel die harte Arbeit der Musikerinnen und Musiker. Denn die Noten geben nur Anhaltspunkte für die gemeinte Klangwelt. Das Musikstück muss erst wieder neu erstehen, neu belebt, ja geradezu neu geschaffen werden. Jede einzelne „Reproduktion“ ist individuelle Deutung, der nicht nur der Notentext zugrunde liegt, sondern auch die Mutmaßungen, die man über seine Entstehung im Zeitkontext anstellt, über die Persönlichkeit des schöpferischen Geistes, aus dessen Feder der Notentext stammt und über die Interpretationsgeschichte. Nicht zuletzt spielt auch das Temperament der Musizierenden eine Rolle. Bei vielen Spitzenprodukten kommt man da nie ans Ende, Verstehen und Revitalisieren von notierter Musik ist eine schier unendliche und immer wieder neu erfüllende Aufgabe. Und selbst wenn es – wie seit gut 100 Jahren möglich – eine Einspielung durch den Komponisten gibt, stellt diese nur eine Realisierungsmöglichkeit des Notentextes dar.
Klang lebt von Erinnerung
Und dann kommen nach Komponierenden und Musizierenden noch die Hörerinnen und Hörer ins Spiel. Auch in ihren Ohren ereignet sich das Musikstück je und je neu. Die Hörenden sind nicht passiv, sondern aktiv am Musikgeschehen beteiligt. Ein Klang lebt von der Erinnerung des Hörers an die Klänge, die vorangegangen sind, empfängt von der Erinnerung her seinen Sinn. Gleichzeitig weckt das bisherige musikalische Geschehen im Hörer Erwartungen auf das, was kommt, und lässt ihn schlussendlich mit seinem Gesamteindruck zurück. Musikhören ist in hohem Maße sinnerfüllend. Aber auch wenn der Hörer sinnerfüllend am Musikerleben beteiligt ist – dass er ein Musikstück als stimmig erlebt wird und es ihm gefällt, ja ihn innerlich überwältigt, das hat der Hörer nicht in der Hand. Dieses Erleben stellt sich ein – oder nicht. Echter Kunstgenuss ist ein Widerfahrnis. Und noch zwei weitere Momente sind wichtig. Zum einen: Musikhören ist in sich sinnerfüllend, ist ein Zweck an sich, nicht Mittel zu irgendetwas anderem. Insofern kontrastiert und unterbricht Musikhören unser Alltagsleben, das im hohen Maße von Zweck-Mittel-Rationalitäten geprägt ist. Und zuletzt: Musikhören ist sinnerfüllend, hat alltagstranszendierend seinen Zweck in sich, ergreift „ich weiß nicht, wie“ – und regt zum Nachsinnen an, ohne dass man das Erlebte je auf den Punkt bringen könnte.
Schon diese knappen Überlegungen zum Musikerleben zeigen viele Parallelen zum religiösen Erleben. Denn auch die religiöse Praxis unterbricht unseren Alltag, hat als „Gottesdienst“ seinen Zweck in sich selber, ist sinnerfüllend und kennt in Gestalt etwa der mystischen Erfahrung oder des Offenbarungsgedankens das unverfügbare Widerfahrnismoment. Auch die Religionsgeschichte weiß – wie die Musikgeschichte – um die herausragenden religiösen Virtuosen, die Propheten und Heiligen, die es aufgrund unverfügbarer Begabung vermögen, aus den althergebrachten Vorstellungen und aktuellen Denktraditionen Neues erstehen zu lassen und zu schlüssigen Gesamtentwürfen zusammenzufassen, gleichsam eine religiöse Symphonie. Sie kennt ebenfalls die kundigen Hermeneuten, Priester, Predigerinnen und Lehrer, die in der Lage sind, religiöse Klassiker wieder zu durchdringen und ihnen neuen Geist einzuhauchen. Und sie rechnet mit den Hörerinnen und Hörern, die dies in der Teilhabe am religiösen Leben aktiv für sich nachvollziehen.
Nachklang
Wird so verständlich, wieso sich Musik und Religion auch unter neuzeitlichen Bedingungen nach wie vor wechselseitig befruchten, so darf aber auch nicht übersehen werden, dass es gerade im Bereich der Religion Momente gibt, die im musikalischen Erleben keine Entsprechung haben. Denn obgleich etwa die Ahnung Gottes für den religiösen Menschen die unüberwindliche Grenze bleibt, an der sich das Denken verzehrt, so neigt er doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit dazu, die Früchte seines Nachdenkens über sein religiöses Erleben zu mehr oder weniger schlüssigen und gültigen Zeichensystemen zu verbinden, auch um sich des Sinnganzen seines Lebens und seiner Lebenswelt zu vergewissern. Das hat dann aber nicht nur Konsequenzen für die Weltanschauung, sondern auch für die Lebensführung, die durch die expliziten religiösen Einsichten zentriert und vereinheitlicht wird. All das leistet die Musik nicht – ob das unter neuzeitlichen Bedingungen ein Vor- oder ein Nachteil ist, braucht hier nicht entschieden werden.
Verfasst von:
Martin Arneth
Professor am Lehrstuhl für Altes Testament II der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München