Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: Juli-August 2024

Schwerpunkt

Seit der Zeit der ersten Lieder

Es ist der Klang, der einen Holzkörper zu einem Instrument macht. Ebenso macht erst die Wirkung, die geistig geschieht, aus einem Textkörper das Wort Gottes. Foto: BILLIONPHOTOS.COM / Adobe stock

Psalm 108,1f.: Ein Lied. Ein Psalm Davids. Gott, mein Herz ist bereit, ich will singen und spielen. Wach auf, meine Seele!

Man könnte meinen, eine Geige sei ein Körper aus Holz. Tatsächlich aber ist das Augenscheinliche, das wir sehen, noch keine Geige, sondern nur eine hölzerne Skulptur. Zum Instrument wird die Geige erst, wenn sie erklingt. Wir hören sie und sie geschieht. Eine Geige ist kein materielles Ding, sondern eine Wirkung. Sie ist das Erleben von Schönheit im Medium der Zeit.

Ihr Corpus stellt sich dem Geschehen zur Verfügung, er stellt mit seiner Masse­Steifigkeits­Verteilung Resonanzen bereit, und so entsteht Klang. Genauso ist es wohl auch mit unserem Geist. Unser Gehirn ist ein Körper aus Nervenzellen. Das Wesentliche aber – der Grund für das Gehirn – ist kein Körper, den man sehen oder neurobiologisch erfassen kann, sondern ein Modus, ein Geschehen: der Geist. Der Geist kommt nicht als ein Extra zum Gehirn hinzu, sondern er geschieht im Gehirn als ein Bewusstsein erschaffendes Schwingen. Das Gehirn stellt sich mit seinen Verknüpfungen dem Geist zur Verfügung wie das in Resonanzen schwingende Geigenholz dem Klang. Man könnte sagen: Der Geist ist der Klang des Gehirns. Wenn ich also durch meinen Beruf des Geigenbauers erfahren habe, dass eine Geige erst dann zur Geige wird, wenn sie erklingt – zuvor ist sie nur ein Holzkörper, aber kein Instrument – , dann ist dies wie ein Gleichnis für alles geistige Geschehen.

Körper und Klang wie Text und Wirkung

In den großen Begriffen der Bibel zeigt sich so etwas wie die Spannung zwischen Körper und Klang. Das Wort Gottes etwa ist nicht der geschriebene Textkörper, der sich auf Papier drucken lässt. Das Wort ist vielmehr die Wirkung, die geistig geschieht. Es ist nicht bloße Information, sondern ein geistiges Recht: es ist wirksame Kraft. Das hebräische Denken spitzt dies zu: Ein Wort, das seine berufene Wirkung verfehlt, ist ein Lügenwort. Ihm fehlt der Klang. Darum heißt es über vierzig Mal bei den Propheten: „Das Wort Gottes geschah zu mir.“ Dass Gott in uns wirkt, redet und geschieht, das ist der geistige Vorgang, den die Bibel Heiliger Geist nennt. Dieses geistige Geschehen nehmen wir durch geistige Sinne wahr – die Ohren und Augen des Herzens (Jes 50,4; Eph 1,18 und viele mehr). Das Herz – einer der großen Begriffe der Bibel – beschreibt die geistige Potenzialität des Menschen, die darin besteht, Gott zu erhören. Es ist ein Resonanzgeschehen. Es ist keine Kunst, dies für möglich zu halten. Die Kunst des Glaubens bedeutet, es zu ermöglichen, es zu erlauben.

Sicher hat mich die jahrzehntelange Leidenschaft des Geigenbauers in der Werkstatt und des Physikers im Akustiklabor eine Liebe zum Hören gelehrt. Wir haben Ohren der Liebe, denen gesagt wird: Denke die Dinge nicht kaputt, sondern höre dich in sie ein. So wird dir das Geschehen hilfreich, berührend und heilsam sein. Die Bibel kennt diese liebende Bereitschaft und nennt jene Gabe die „Ohren des Herzens“.

 

Musik und Glaube als segensreiche Wirklichkeit

Musik ist ihrem Wesen nach also keine blasse Information, die man lediglich zur Kenntnis nehmen könnte, sondern ein inneres Recht. Sie ist eine wirksame Kraft. Die Bibel nennt diese Autorität ‚exousia‘. Das Wort bedeutet übersetzt: ein inneres Recht, eine heilsame Wirkung, eine Vollmacht.

Darin sind die Musik und der Glaube einander seelenverwandt. Beide sagen: Du wirst die ‚exousia‘ – jene segensreiche Wirklichkeit– nur erfahren, wenn du bereit bist, dich zu öffnen und das Geschehen mit dem Herzen „aufzunehmen“ (s. Joh 1,12). Dazu musst du ein hörender Mensch sein. Wie dein äußeres Ohr das Empfangsorgan des Klanges ist, so ist das Ohr des Herzens dein Empfangsorgan für Gott. Lass dich also in der Musik wie im Glauben auf das Höchste Gebot ein. Es beginnt bezeichnender Weise in der hebräischen Thora mit dem Wort „Höre!“ (5 Mose 6,4).

Alles wirkliche Hören verlangt eine Form des ‚Aufhörens‘: „Unterbrich dich, unterbrich deine Gedanken. Höre auf, um dich selbst zu kreisen; höre auf, nur dir selbst zu ‚ge-hören‘. Und höre hin.“ Alles wirkliche Hören ist immer eine Form der Selbstvergessenheit.

Wirkung des Klanges ist Erschütterung, Trost, Leben

Wenn ich Musik höre, besteht mein Kopf nur noch aus zwei riesig großen Ohren und alles dazwischen verschwindet. In gleicher Weise habe ich seit früher Jugend gelernt, mich mit geradezu gottesverliebten Ohren hineinzuhören in die Bibel. Sie ist meinem Leben zur seelischen Heimat geworden. Seit einigen Jahren höre ich ganz ähnlich auch den Klang der Pferde. Über viele Stunden in einer Pferdeherde zu stehen ist wie der Klang eines Orchesters. Ich höre die Pferde in ihrem je eigenen Wesen wie wundervolle Instrumente.

Wenn ich nach vielen hundert Stunden Werkstattarbeit in der kleinen Dachkapelle meiner Geigenbauwerkstatt einen Musiker mit seinem Instrument erlebe und die Augen schließe, spüre, höre, sehe und empfinde ich den Klang. Manchmal kann der Musiker oder die Musikerin, wenn sie ihr gerade fertig gewordenes Instrument zum ersten Mal erleben, sich nicht gegen die Tränen wehren. Denn sie spüren die Wirkung des Klanges, eine Autorität, die sie konfrontiert, ergreift, erschüttert, tröstet und belebt. Das sind die Glücksmomente im Geigenbau.

Der Klang berührt die Seele und der Mensch beginnt auf seinem Instrument zu singen. Diese Art der Erfahrung ist letztlich mit dem Begriff glauben gemeint. Es ist der Moment, in dem wir uns vergessen, da wir beginnen, eine Vollmacht, einen Trost, eine Schönheit, eine Erschütterung und beglückende Gegenwart zu erfahren.

Menschwerdung des Geistes

Ich möchte mit einer lyrischen Klangfarbe enden: Seit der Zeit der ersten Lieder ist in den Herzen der Menschen eine Ahnung davon erwacht, dass die wesentlichen Dinge des Lebens um ihrer selbst willen geschehen. Ihre Sprache verlangt Ohren der Liebe. Das ist es, was in ihren Liedern erklang. Es ist die gemeinsame Lobpreisung des Lebens.

Und so erwachte die Schönheit des Menschen inmitten der Ängste um das nackte Überleben. Nicht im Schrei des Gejagten, nicht in Kampf und Flucht, sondern in Tanz und Gesang erhob sich aus unserer Natur das Wissen um unsere Würde, dass wir mehr als Knechte des Zweckhaften sind: Die Menschwerdung des Geistes in der Entdeckung von Anbetung, Schönheit und Klang.

Es war der Anfang unserer Kultur. Ihr Herz begann im Gesang zu beten: an jenem inneren Ort, an dem die Gebete gesprochen und gesungen werden, die der Himmel hören kann. Es ist der Ort, der unser Gebet in Liebe verwandelt. Dort wird die Verheißung wahr, dass die Seele nicht verwaist: Bete oder meditiere nicht, weil es dir irgendetwas nützt! Falle nicht hinter das erste Lied zurück! Sondern bete, weil es eine Sprache deiner Liebe ist.

Martin Schleske (58) ist Geigenbaumeister und Physiker. Etwa 30 Geigen, Bratschen und Celli baut er jährlich mit seinen Mitarbeitern in seinem 500 Jahre alten Werkstatthaus in der historischen Altstadt von Landsberg am Lech.

Sein jüngstes Buch: Werk|Zeuge. In Resonanz mit Gott, bene! Verlag 2022, 637 Seiten.

www.schleske.de | Instagram: @martin_schleske


Verfasst von:

Martin Schleske

Geigenbaumeister und Physiker in Landsberg am Lech