Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: Juli-August 2024

Interview

Unregulierte Momente

Foto: Yves Müller

Anna-Katharina Höpflinger forscht und lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihre Publikationsliste liest sich wie ein Mix aus religionswissenschaftlichen Kuriositäten: Körper, Kleidung, Beinhäuser und Heavy Metal im religiösen Zusammenhang, ­­— und trifft dabei den Puls vieler junger Menschen. Mit Gemeinde creativ hat sie darüber gesprochen, wie Musik — ebenfalls wie Religion — Ausdruck des Unaussprechlichen ist, Menschen einen Rahmen für unregulierte Zeiten suchen und Sparten wie Heavy Metal auch Nähe zum Orgelkonzert haben.

 

Welche persönlichen Erfahrungen haben Sie mit Musik im Kontext von Religion/ Christentum gemacht?

Anna-Katharina Höpflinger: Biografisch habe ich verschiedene Anknüpfungspunkte. In meinem Studium der evangelischen Theologie und später der Religionswissenschaft war Musik ein zentrales Thema. Auch wenn man über Heavy Metal forscht, kommt man über die Frage zur Religion gar nicht herum. Mich fasziniert die Rolle von religiösen Symbolen in der Populärkultur. Populärkultur generiert Wissen und Kraft bei jungen Menschen. Sie erfahren vielleicht heutzutage weniger über klassischen Religionsunterricht oder die Bibel, aber viele wissen ungemein viel über Religion und Kirche, was ihnen jedoch über andere Kanäle, zum Beispiel über Songs, Filme oder Comics vermittelt wird. Popmusik spielt dabei eine wichtige Rolle. Der berühmte Sänger und Songwriter David Kushner bezeichnet sich beispielsweise selbst als Christ und transportiert viele religiöse Symbole und Mythologien in seinen Texten und Videos. Auch die Sängerinnen Taylor Swift, Ice Spice oder die Rapperin Doja Cat haben letztes Jahr Musikvideos mit religiösen Anklängen veröffentlicht. Die Verwendung christlicher Symbole auch heute noch in der Populärkultur zeigt, wie bedeutend das Christentum nach wie vor für unsere Kultur ist.

Inwieweit kann Musik als religiöses Ausdrucksmittel dienen?

Wir alle haben unverfügbare und unkontrollierbare Bereiche in unserem Leben: Der Tod, das, was nach dem Tod kommt, starke Emotionen, Verliebtheit und so weiter. Diese unverfügbaren Momente können wir nur symbolisch kommunizieren. „Schmetterlinge im Bauch“ verweist etwa nicht auf Insekten im Körper, sondern ein Gefühl, das wir nur schwer beschreiben können. Bei diesem Umgang mit dem Unverfügbaren spielen nun religiöse Symbole eine wichtige Rolle. Religion hat über Jahrhunderte quasi die Sprache für diese Bereiche geformt. Bei Sünde und Schuld kommen zum Beispiel sofort Bilder wie Apfel, Eva, Adam, Schlange etc. auf, das „Böse“ wird als Teufelsfigur dargestellt oder ein Leben nach dem Tod wird mit Bildern von Himmel oder Hölle gefüllt. Gerade in der populären Musik werden solche unverfügbaren Bereiche des Lebens oft thematisiert. Viele Songs handeln von verflossener Liebe, starken Emotionen, Gewalterfahrungen, Grenzerfahrungen. Hier überschneidet sich der Ausdruck menschlicher Erfahrungen mit Religion und Musik. Fragen, was „gut“ bedeutet, was „böse“, was „Mensch sein“ oder „nicht Mensch sein“ ist, was ein „guter Gott“ oder „böser Gott“ ist, berühren sich. Populäre Musik nimmt damit religiöse Symbole aber nicht nur auf, sondern formt religiöses Wissen mit. Wenn wir dies als Teil von Religion betrachten, dann hat Religion nicht nur ein Gesicht, sie ist weitaus komplexer. Das schafft wiederum vielfältige Möglichkeiten, andocken zu können.

Wie können Pfarrgemeinden und Gottesdienste Musik nutzen, um Menschen anzusprechen und zu inspirieren?

Was ich hilfreich finde, ist, die Menschen zu fragen, was sie möchten. Auch die Jüngeren haben schon Ideen. Musik kann Stimmung generieren, sei es im klassischen Gottesdienst oder in freien Projekten. Und Musik verbindet, das ist ein sehr wichtiger Aspekt. Sie generiert Zusammenhalt, auch zwischen Generationen und über Sprach- und Religionsgrenzen hinweg. Nach einem interreligiösen Gespräch etwa Musikinstrumente verteilen oder gemeinsam singen Dort findet der interreligiöse Dialog ebenfalls sehr intensiv statt, aber auf einer ganz anderen Ebene, das habe ich selbst schon erlebt. Religion in Verbindung mit Musik kann durch Texte, Sound und Bilder die ganze Körperlichkeit des Menschen ansprechen. Das Spielen, Hören, Tanzen, sich Luft machen kann durchaus zu Transzendenzerfahrungen führen.

Inwiefern können Festivals als Orte der Begegnung und des Austauschs zwischen unterschiedlichen religiösen und musikalischen Strömungen dienen?

Ich finde, auf Festivals zu gehen, ist eine Art Ritual. Es gibt für ein paar Tage eine Auszeit vom Alltag. Hierarchien werden gedreht, es entstehen neue. Man parkt das Auto, baut sein Zelt auf und begibt sich in einen Rahmen, der weniger reguliert ist. Dort ist auch Raum für unkontrollierte Emotionen, lautes Singen, spontan auf Leute zugehen, Freude, Weinen, auch Schreien. Emotionen dürfen nun ausgelebt werden, man darf sich verlieren. Dort ist auch Platz für Begegnungen, die man sonst nicht machen würde. Auch religiöser Art. Wir leben in einer Welt, in der Emotionen stark reguliert sind. Wenn Kinder auf dem Marienplatz in München schreien, ist das ok, aber schreien Sie einmal als Erwachsener dort. Sie ernten im besten Fall schräge Blicke. Auch der religiöse Kalender ist ein Ablauf von regulierten Zeiten, wie die Fastenzeit, und unregulierte Zeiten, wie Fasching, er nimmt also verschiedene Bedürfnisse des Menschen auf.

Das Unregulierte kann natürlich auch negative Folgen haben, es kann Menschen an körperliche, psychische, soziale oder auch gesetzliche Grenzen führen. Auch das findet sich in der Musik immer mal wieder. Etwa bei Drogenmissbrauch oder auch Verbrechen, die von Musikern begangen werden. Das heißt aber nicht, dass man automatisch von der Thematisierung von „Bösem“ in Liedern auf die Weltanschauung der Musizierenden schließen kann. Wenn über Gewalt gesungen wird, heißt das nicht, dass der Sänger ein gewalttätiger Mensch sein muss oder zu Gewalt aufruft. Es ist komplizierter. Ein Schlagersänger, der über die Liebe singt, ist ja auch nicht unbedingt der bessere Liebhaber.

Welche Rolle spielt Heavy Metal in der Populärkultur und wie stand oder steht er im Verhältnis zu traditionellen religiösen/ christlichen Strömungen?

Heavy Metal, oder kurz Metal, ist das Paradebeispiel für eine Musikrichtung, die gerne als „böse“ gelesen wurde und wird, aber die viel komplexer ist. Vor allem in den 1980er Jahren gab es von den USA aus eine Panik, dass Heavy Metal Jugendliche zu unmoralischen Handlungen oder sogar schlimmen Taten verleiten würde. Unterdessen ist das abgeflacht. Metal ist in der Gegenwart eine verbreitete Musikrichtung, er wird weltweit gehört. Und auch nicht mehr nur von Jugendlichen. Auf Konzerte gehen heute zum Teil Großeltern mit ihren Enkeln. Metal nimmt vielfach religiöse Symbole auf, auch rege aus dem Christentum. Gewisse Bands grenzen sich damit von Religion ab, aber viele Bands nehmen religiöse Symbole auf, um eben die genannten unverfügbaren Bereiche zu thematisieren. Metal verbreitet diese Symbole so auch und macht sie populär. Daneben findet sich außerdem eine aktive christliche Metal-Szene, die oft Wert auf eine positive Botschaft in ihren Liedern legt. Und nicht zuletzt kann Metal beim Hören oder Spielen religiöse Gefühle auslösen, damit kann er Ähnliches bewirken wie ein Konzert in der Kirche.

Welche Entwicklungen und Chancen sehen Sie für Jugendliche mit religiösen/ christlichen Einstellungen und Ehrenamtliche im Gemeindeleben für die Zukunft?

Zunächst einmal möchte ich den Ehrenamtlichen einfach „Danke“ sagen für das enorme Engagement, das so wichtig ist. Viele denken bei Kirche an Hierarchien, aber Kirche spielt sich auch vor Ort ab, im Bereich des Ehrenamts. Dort passiert enorm viel, im Kleinen und im Großen. Und nicht in allen Kontexten funktioniert das Gleiche, denn es sind unterschiedliche Ressourcen und Bedürfnisse vorhanden. Diese zu entdecken, ist auch ein Abenteuer und ein Ausprobieren.

Vielen Dank für das Interview!

Anna-Katharina Höpflinger hat Religionswissenschaft an der Universität Zürich studiert. Sie promovierte dort 2010 über Drachenkampfmythen in der griechisch-römischen Antike und dem Alten Orient. 2019 folgte die Habilitation an der Universität Luzern über religiöse Symbole in der Populärkultur. Seit 2016 lehrt und forscht sie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihre Forschungsinteressen umfassen Medien und Religion, Religion in der europäischen Geschichte, Körper, Kleidung und Geschlecht, Tod und Bestattungskultur sowie Religion und populäre Musik, vor allem mit einem Fokus auf Heavy Metal.


Verfasst von:

Hannes Bräutigam

Redaktionsleiter