Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: Juli-August 2024

Schwerpunkt

Zwischentöne des Lebens

Der Liegestuhl neben Sarah bleibt nicht lange leer. Immer wieder kommen Menschen zum kurzen Plaudern oder auch für längere Gespräche. Foto: Festivalseelsorge Österreich

Festivalseelsorge in Österreich

Sarah sitzt mit ihrem Liegestuhl an einem stark frequentierten Weg. Es ist heiß, die Sonne brennt vom Himmel. Mit einem einladenden Lächeln blickt sie zu den vorbeiziehenden Menschen. Die Stimmung der Leute ist locker und ausgelassen. Im Hintergrund hört man Musik, der Bass wummert. Einige der Menschen schenken ihr ein Lächeln zurück. Neben Sarah steht ein leerer Stuhl – er vermittelt „nimm gerne Platz und erzähl mir was, ich hör dir zu!“

Sarah ist eine von etwa 90 Festivalseelsorgerinnen und -seelsorgern in Österreich. Festivalseelsorge meint: die Präsenz von haupt- und ehrenamtlichen Seelsorgerinnen und Seelsorgern bei sommerlichen (Musik-)Festivals. Die Teams, erkennbar an knalligen Warnwesten mit dem Aufdruck „Festivalseelsorge − Für die Zwischentöne des Lebens“, sind im Sommer auf Festivals und Veranstaltungen in ganz Österreich anzutreffen. Je nach Größe und Dauer des Festivals sind zwischen sieben und 30 Festivalseelsorgerinnen und -seelsorger an bis zu vier Tagen im Einsatz.

Als Kirche Orte aufsuchen, wo die Menschen sind

Florian Baumgartner, Pastoralassistent und Festivalseelsorger der ersten Stunde, startete das Projekt im Sommer 2018. Die Idee zur Festivalseelsorge in Österreich ist ihm schon länger im Kopf herumgegangen. Erfahrungsberichte zur Umsetzung holte er sich aus dem Nachbarland. Bereits 2010 wurde die Festivalseelsorge in Deutschland beim W:O:A Wacken Open Air vom damaligen Landesjugendpfarramt der Nordkirche ins Leben gerufen. Das Festival findet jährlich in Wacken, eine Gemeinde im Kreis Steinburg in Schleswig-Holstein, statt.

Waren sie damals noch rudimentär ausgestattet, mit einem kleinen Tipi und einfachen Sitzmöglichkeiten, das meiste aus privatem oder pfarrlichem Inventar, hat sich das Equipment als auch der Auftritt Jahr für Jahr weiterentwickelt. Foto: Festivalseelsorge Österreich

Baumgartner sah auch in Österreich Bedarf, „Beim Woodstock der Blasmusik, ein Festival in meiner Nähe, wurde mir 2017 angeboten, einen Gottesdienst zu feiern. 2018 war ich dann erstmals mit einem kleinen Team als Festivalseelsorger vor Ort. Ich wollte als Kirche Orte aufsuchen, an denen die Menschen sind, und für sie da sein, nicht nur für jene, die kirchlich sozialisiert sind, sondern für alle.“ − Waren sie damals noch rudimentär ausgestattet, mit einem kleinen Tipi und einfachen Sitzmöglichkeiten, das meiste aus privatem oder pfarrlichem Inventar, hat sich das Equipment als auch der Auftritt Jahr für Jahr weiterentwickelt.

Mittlerweile ist die Festivalseelsorge − in Österreich ein ökumenisches Projekt der evangelischen und katholischen Kirche − ein fixer Bestandteil vieler Festivals, wie zum Beispiel dem Electric Love in Salzburg, dem Donauinselfest in Wien oder auch dem Free Tree Open Air in Oberösterreich.

Für das ganzheitliche Wohlbefinde

Veranstalterinnen und Veranstalter schätzen das Angebot der Festivalseelsorge als Erweiterung zu den Blaulichtorganisationen und setzen auf Awareness-Konzepte, die sich mit respektvollem und achtsamem Verhalten miteinander beschäftigen, um der Verantwortung für das ganzheitliche Wohlbefinden der Festivalteilnehmenden gerecht zu werden. Die Festivalseelsorge stellt sich hierbei als Ansprechpartnerin zur Verfügung.

Doch was tun Festivalseelsorgende eigentlich genau? Florian Baumgartner klärt auf: „Auf Festivals, unter dem Einfluss von Musik und Schlafentzug, weg vom Alltag und fixen Tagesstrukturen, kann es verstärkt vorkommen, dass man von Gedanken eingeholt wird, die man sonst vielleicht verdrängt. Da kommen dann Sorgen und Probleme hoch, die besonders beschäftigen. Manchmal spielt auch der Alkoholkonsum eine Rolle. Man kennt das vielleicht selbst vom Ausgehen, da haben manche Personen das Bedürfnis von ihren Problemen zu erzählen. Oder es sind Themen, über die man mit Freundinnen und Freunden nicht reden möchte. Viele wollen aber auch einfach ihre Freude über die Konzerte teilen. Wir als Festivalseelsorgende sind für alle Situationen da, wir haben Zeit zum Zuhören.“ 

Vom Wetter zum Liebeskummer

Festivalseelsorgerinnen und -seelsorger werden für ganz unterschiedliche Gespräche aufgesucht – die Palette reicht von kurzen, eher oberflächlichen Gesprächen über die Situation am Festival, das Wetter, die nächste Band bis hin zu tiefgreifenden Themen. Manche erzählen über ihren Liebeskummer, andere beschäftigt der Tod einer engen Bezugsperson. Probleme im Job, Zerwürfnisse mit der Familie, das Gefühl der totalen Überforderung, aber auch Suizidalität, Drogenkonsum oder Depressionen sind Themen, über die gesprochen wird. Oft komme die Aussage: Ich kenne dich nicht, deshalb habe ich dir das erzählen können, so Baumgartner. Festivalseelsorge tritt dabei nicht als Psychotherapie auf, sondern bietet ein offenes Ohr, stabilisiert in konkreten Situationen oder vermittelt auch weiter.

„Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen und Emotionen zu begleiten, ein offenes Ohr zu haben, aufmerksam zu sein für die Anliegen, teilhaben an den Lebensrealitäten – das macht uns als Festivalseelsorgerinnen  und -seelsorger aus. Wir merken, dass es etwas bringt, den Leuten geht es danach besser. Wir erfahren viel Wertschätzung und Offenheit“, berichtet Baumgartner über die eigenen Erfahrungen. Er sieht Festivalseelsorge als nachgehende Seelsorge. „Es ist ein DA-Sein für Festivalbesuchende, aber auch für die Organisation und die Mitarbeitenden der Einsatzkräfte.“

Was mit kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf einem Festival begann, weitet sich nunmehr auf den ehrenamtlichen Bereich aus. Erfahrene Seelsorgende, pastorales Personal, aber auch Sozialarbeitende, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Medizinerinnen und Mediziner, Pädagoginnen und Pädagogen und Menschen mit ähnlichen Professionalitäten leihen ihren Mitmenschen auf Festivals ein offenes Ohr.

Seit 2021 werden in Österreich jährlich neue Festivalseelsorgerinnen  und -seelsorger ausgebildet. Dabei lernen die Teilnehmenden bei der dreitätigen Fortbildung nicht nur Arbeitsweise und die Schwerpunkte der Festivalseelsorge kennen, sondern es wird auch vermittelt, wie man mit der Besucherschaft umgeht und wie man sich in Spezialsituationen verhält, etwa wenn sie unter dem Einfluss von Alkohol und Drogen steht. Die seelsorgliche Gesprächsführung ist ebenso Teil der Ausbildung, wie auch der Selbstschutz und die persönliche Abgrenzung. Der Festivalseelsorgeeinsatz selbst, wird mit Intervision und Supervision professionell begleitet. In diesem Jahr haben 27 Personen die Ausbildung abgeschlossen und werden das Team im Sommer auf österreichischen Festivals verstärken.

Kirche im Alltag und darüber hinaus

Festivalseelsorge bietet am Festival eine fixe Anlaufstelle und ist auch auf dem Gelände unterwegs und ansprechbar. Der fixe Standort ist mit Liegestühlen ausgestattet – eine Atmosphäre zum Runterkommen, Entspannen und Plaudern. Unterwegs auf dem Festivalgelände, vor den Bühnen und am Campingplatz ist das geschulte Team in Zweierteams unterwegs. Erreichbar sind die Festivalseelsorgenden rund um die Uhr – entweder in Präsenz oder über das Notfalltelefon, gearbeitet wird in Schichten, teils bis in die Nacht hinein.

Festivalseelsorge ist Kirche im Alltag und darüber hinaus. Die Seelsorgenden haben dabei keine missionarischen Absichten. Sie sind als Dienstleistende mit ihrer persönlichen Mission – für ihre Mitmenschen da zu sein − vor Ort, am Festival. „Wenn ich nach meinem Beruf angesprochen werde, ergibt sich aus meiner Antwort gelegentlich ein Gespräch über Sinn- und Weltfragen, dann bringe ich mich als Theologe ein“, so Baumgartner. „Das Beispiel der Festivalseelsorge zeigt: man braucht nur eine Idee und Zeit, damit das eigene Projekt wachsen kann. Ich möchte Menschen, die sich in der Kirche engagieren, ermutigen, ihre Ideen umzusetzen und so für die Menschen da zu sein, ganz egal ob am Festival oder anderswo.“

Der Liegestuhl neben Sarah bleibt nicht lange leer. Immer wieder kommen Menschen zum kurzen Plaudern oder auch für längere Gespräche – ein paar Minuten oder auch mal eine dreiviertel Stunde, jedes Gespräch ist anders. Das entnimmt man auch den Statistiken der Festivalseelsorge. Im Jahr 2023 wurden über dem Sommer verteilt etwa 3600 Gespräche geführt.

Gegen Ende ihrer Schicht nimmt ein junger Mann Platz, spricht mit ihr über das Festival und welche Bands er sich heute noch ansehen wird, während er auf einen Freund wartet, der gerade nochmal zu seinem Zelt zurückgeht. Nach ein paar Minuten bedankt er sich für das Angebot und das Gespräch, ehe er wieder aufsteht und motiviert Richtung Bühne weiterpilgert. Sarah blickt zufrieden hinterher.

Homepage der Festivalseelsorge: https://festivalseelsorge.at

 


Verfasst von:

Victoria König

Katholische Theologin, Religionspädagogin und Referentin für Festivalseelsorge in Linz