Ausgabe: September-Oktober 2024
SchwerpunktBeitrag von Glauben und Kirche
Erneuerung einer Demokratie in der Krise
Die Demokratie lebt in ihren Verfahren und Strukturen von einer Kultur, die sie trägt. Diese ist im vorpolitischen Raum angesiedelt und einem direkten politischen Zugriff entzogen. Mit drei Aspekten wird deutlich, wie Kirche trotz ihrer eigenen Krise zu einer Erneuerung der Demokratie beitragen kann.
Demokratie ist ein sehr hoher Wert, den es zu schützen und zu bewahren gilt. Freiheit und die Anerkennung der Menschenwürde, aktive Mitgestaltung am politischen Gemeinwesen und die Kontrolle von Macht, Transparenz und Öffentlichkeit, die Freiheit der Meinungsäußerung und der Wissenschaft, die Glaubensfreiheit und der Respekt vor dem Gewissen, die Möglichkeit zum öffentlichen Widerspruch und zur Verweigerung des Kriegsdienstes, die Kontrolle der Regierung und der Mächtigen in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft, die Möglichkeiten von öffentlichem Widerspruch und einer auch grundsätzlichen Kritik der Mächtigen und des Systems – all das und noch viel mehr hängt eng mit einer funktionierenden Demokratie zusammen.
Demokratie ist dabei kein abstraktes Ideal, sondern lebt von ihrer konkreten Umsetzung. Sie ist kein Zustand, den man mit den real existierenden „westlichen Demokratien“ identifizieren könnte, um diese dann gegen ihre Feinde im Inneren und im Äußeren zu verteidigen. Demokratie muss immer wieder neu errungen, neu „demokratisiert“ werden. Ihre Freiheit muss sich an der „Freiheit der Andersdenkenden“ (Rosa Luxemburg) zeigen; die Verpflichtung auf Menschenrechte und eine „regelbasierte Ordnung“ muss sich im selbstkritischen Umgang mit ihren Gegnern, in der Einhaltung der eigenen Prinzipien und im Vorrang der Diplomatie bewähren. Hier liegt viel im Argen: Nicht nur die Kirche, auch die Demokratie befindet sich in einer tiefen Krise. Der Demokratieforscher Wolfgang Merkel meidet zwar den Begriff der Krise, doch spricht er von „unübersehbaren Demokratieverlusten“ und einer über zwei Jahrzehnte reichenden „Erosion oder Regression“ von Demokratien: „Seit 2008 verlieren die politischen Regime der Welt Jahr für Jahr an demokratischer Qualität. Dies gilt auch für die besten rechtsstaatlichen Demokratien.“
Hartmut Rosa weist in seinem Würzburger Vortrag Demokratie braucht Religion von 2022 auf die Relevanz eines gläubigen oder spirituellen Weltverhältnisses für die Demokratie heute hin. Im Gespräch mit ihm möchte ich drei Aspekte herausheben, wie Glauben und Kirche – trotz ihrer eigenen Krise – zu einer Erneuerung der Demokratie beitragen können.
Resonanz statt Aggression
1. Kern und Ausgangspunkt ist die Unterscheidung von Gott und Welt, von Schöpfer und Geschöpf. Das hat zunächst eine negative, kritische Bedeutung: Nichts Endliches darf absolut gesetzt, keine Position darf mit der Wahrheit schlechthin gleichgesetzt werden, die Stelle des Letzten und die Mitte der Macht muss dem menschlichen Zugriff entzogen bleiben. Damit wird das Politische als Bereich des „Vor-Läufigen“, „Vorletzten“ und „Bedingten“ markiert. Die Kritik an Götzen, an Ideologien, Bildern und Konzepten, welche die Stelle Gottes einnehmen, gilt aber auch für die Religion selbst als Sphäre dessen, „was unbedingt angeht“ (Paul Tillich):
Kirche muss sich selbst relativieren und kritisieren auf den je größeren Gott hin, der ein Gott aller Menschen ist und ihr nicht „gehört“. Hartmut Rosa macht deutlich, wie die Unverfügbarkeit Gottes darauf verweist, dass das Wesentliche und Letzte auch im Verhältnis der Menschen untereinander, zur Schöpfung und zur Welt unverfügbar bleibt. Ein „Aggressionsverhältnis“ zur Wirklichkeit, das diese zu kontrollieren und zu beherrschen sucht, sie dabei aber in ihrer Sinnhaftigkeit verfehlt und zerstört, kann einem Verhältnis der „Resonanz“ weichen. Diese zeichnet sich aus durch ein Hören auf die Anderen und auf die begegnende Wirklichkeit, durch die Fähigkeit zum Antworten und durch die Bereitschaft, sich dabei selbst verwandeln zu lassen.
Selbstkritisches Verhältnis zur Welt
2. Der Anerkennung der Unverfügbarkeit Gottes entspricht die Anerkennung der eigenen Endlichkeit und der Bedingtheit des Bestehenden. Entscheidend wichtig scheint mir dies in einer Situation, in der – hier folge ich wieder Hartmut Rosa – politisch Andersdenkende immer öfter statt als Dialogpartner als gefährliche Feinde angesehen werden, die eingedämmt und aus den Diskursen und der Gemeinschaft ausgeschlossen werden müssen. Eine Überzeugung entschieden zu vertreten ist etwas anderes, als die eigene Position mit den Fakten, der Wahrheit und „der Wissenschaft“ selbst zu identifizieren, sie der Kritik zu entziehen und Gegenstimmen auszugrenzen. Glaube und Spiritualität sind eine Schule, solche Identifikationen zu überwinden, in ein demütiges und selbstkritisches Verhältnis zur Welt zu treten, in dem die gewonnenen Überzeugungen zwar entschieden gelebt werden – aber im Bewusstsein, selbst unter dem Gericht Gottes zu stehen und der Vergebung zu bedürfen.
Die Logik des kommenden Reiches
3. Dem korrespondiert die christliche Hoffnung, dass das Böse und die Lüge, das Unrecht, die Schuld und der Tod nicht das letzte Wort haben. Diese Überzeugung meint keinen naiven Optimismus, dass alles nicht so schlimm kommt oder wieder gut wird. Sie meint auch kein blindes Vertrauen in die Regierenden, in die Demokratie oder in eine Vorsehung, die Katastrophen verhindert. Sie ist nicht einmal mit einem psychologischen Grundvertrauen gleichzusetzen, das ja menschlich höchst ungleich verteilt ist. Vielmehr geht es um ein „dennoch-Vertrauen“, das im Bewusstsein der Katastrophe und des abgründig Bösen, im Angesicht der „gekreuzigten Völker“ (Ignacio Ellacuría) und der geschundenen Erde auf die größeren Möglichkeiten Gottes setzt und immer wieder neu zu beginnen wagt.
Das Vertrauen, dass die Regierenden oder die öffentliche Mehrheitsmeinung es schon richtig wissen und gut machen, ist für eine Demokratie ebenso gefährlich wie das generalisierte Misstrauen, das Populisten in die Hände spielt oder dazu führt, nur noch der eigenen Gruppe zu trauen. Rosa verweist darauf, wie unsere Gesellschaft von einem „rasenden Stillstand“ bestimmt wird: einer Beschleunigung und einem Leistungsstress, der nicht mal mehr auf ein besseres Leben zielt, sondern nur noch auf den Erhalt des Status quo, aus Angst vor Abstieg und Verlust. Gegen eine solche „Diktatur der Sachzwänge“ und gegen die Logik der Alternativlosigkeit braucht es eine „gesunde Relativierung“, welche die Gegenwart in Beziehung zu den größeren Möglichkeiten Gottes setzt und aus der Logik seines kommenden Reiches lebt.
Dies führt aus einer „Aggressionsbeziehung“ gegenüber der Wirklichkeit in eine resonante Beziehung. Damit öffnet sich ein Raum, in dem es darum geht, gemeinsam auf eine Transformation hinzuwirken, welche auch die eigene Position verwandelt, sodass im wechselseitigen Hören Neues entstehen kann. Die katholische Kirche versucht einen solchen Weg in der Hinwendung zur Synodalität; in der Politik brauchen wir eine neue Hinwendung zur Demokratie. Angesichts der destruktiven Tendenzen unserer Zeit sollten wir alles daransetzen, dass sich beide Bewegungen gegenseitig bestärken.
Verfasst von:
Martin Kirschner
Professor für Theologie in Transformationsprozessen an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt