Ausgabe: September-Oktober 2024
InterviewEine starke Stimme für unsere Würde
Das Ja der Kirche zur Demokratie hat Tradition
Kirche ist zwar keine Demokratie im klassischen Sinne, da ihr Souverän nicht das Volk ist, sondern Jesus Christus. Dennoch hat sie eine wichtige Rolle für den Erhalt der Demokratie zu übernehmen, denn nur darin wird der Vorstellung von der unantastbaren Würde jedes Menschen, die Betonung der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit Raum gegeben. Gemeinde creativ hat mit Kardinal Reinhard Marx über den Zusammenhang von Kirche und Demokratie gesprochen.
Gemeinde creativ: Kardinal Marx, im nächsten Jahr jährt sich das Konzil von Nicaea zum 1700. Mal. Das Konzil hat die Vorrangstellung der Bischöfe von Rom, Antiochien und Alexandrien festgezurrt. Heute tritt Kirche für eine freiheitliche Demokratie ein. Wie sehen Sie diese historische Wende und ihre Auswirkungen auf die Kirche?
Kardinal Reinhard Marx: Das Konzil von Nicaea war in der Tat ein entscheidender Moment in der Geschichte der Kirche und steht zu einer freiheitlichen Demokratie, wie wir sie heute kennen, weniger im Widerspruch, als es auf den ersten Blick erscheint. Das Konzil hat nicht nur theologische Grundlagen für die christliche Lehre gelegt, sondern auch eine Methode der Entscheidungsfindung etabliert, die auf Konsens und Mehrheiten basierte. Dieses Prinzip - dass wichtige Entscheidungen durch Versammlungen und nicht durch Einzelpersonen getroffen werden -, hat die Kirche in gewisser Weise zu einer frühen Vorläuferin demokratischer Prozesse gemacht, auch lange bevor viele andere Institutionen auf diesen Gedanken gekommen sind.
Sie haben die Tradition der synodalen Prozesse in Ihrer Erzdiözese neu belebt. Sehen Sie das als eine Wiederbelebung alter Traditionen und wie passt das in die moderne Kirche?
Synodale Prozesse bieten einen Raum, in dem verschiedene Stimmen gehört werden und kollektive Erkenntnisse zur Entscheidungsfindung beitragen können. In einer erneuerten Kirche ist es essenziell, diese Tradition fortzusetzen und anzupassen, um den Herausforderungen unserer Zeit gerecht zu werden. Die Synodalität fördert die Partizipation des gesamten Volkes Gottes und stärkt das Gemeinschaftsgefühl. Es ist nicht nur eine Wiederbelebung, sondern eine Weiterentwicklung, die auf den Fundamenten unserer Tradition aufbaut.
Sie erwähnten, dass wichtige Entscheidungen in der Kirchengeschichte oft mit großen Mehrheiten getroffen wurden. Können Sie das genauer erläutern?
Historisch gesehen war es für die Kirche immer wichtig, dass bedeutende Entscheidungen eine breite, ja einmütige Zustimmung finden. Das Konzept der Einmütigkeit, das zentral ist für das kirchliche Verständnis von Synodalität, bedeutet, dass Entscheidungen nicht durch knappe Mehrheiten getroffen werden, sondern dass ein möglichst breiter Konsens angestrebt wird. Diese Praxis soll befördern, dass wichtige Entscheidungen, insbesondere in Glaubensfragen und bei der Besetzung zentraler Ämter, die Unterstützung einer sehr großen Mehrheit haben. Es geht darum, die Einheit und den Zusammenhalt der Kirche zu bewahren, indem eine Spaltung der Kirche in Mehrheit und Minderheit vermieden wird. Ein aktuelles Beispiel ist die Weltsynode, die Papst Franziskus initiiert hat. Diese Synode ermutigt die gesamte Kirche, über ihre eigenen Strukturen und Prozesse nachzudenken und Wege zu finden, wie sie noch inklusiver und partizipativer werden kann.
Wie denken Sie, dass die Kirche aktiv werden muss, wenn es um Demokratie geht? Haben Sie ein aktuelles Beispiel dafür?
Die Kirche leistet einen wichtigen Beitrag dazu, demokratische Werte zu fördern, auch wenn sie selbst keine Demokratie im klassischen Sinne der Staatsform ist. Demokratie erfordert eine Kultur der Partizipation, des Dialogs und des Respekts vor der Würde des Einzelnen – Werte, die tief im christlichen Glauben verankert sind. Das zeigt etwa das Engagement von Papst Franziskus in Klimafragen durch Laudato sí und Laudate deum. Denn auch Klimaverantwortung trägt bei zur Förderung der Demokratie und zur Wahrung der Menschenrechte.
Wenn wir von der strukturellen Ebene zur persönlichen Haltung übergehen, wie sieht die Kirche die Rolle des christlichen Bekenntnisses?
Der christliche Glaube hat eine fundamentale Rolle dabei gespielt, die Ideen zu formen, die moderne Demokratien unterstützen. Die christliche Grundhaltung – einmal unabhängig von ihrer jeweiligen geschichtlichen oder politischen Realität – ist von der Bibel her immer schon gegeben: die Vorstellung von der unantastbaren Würde jedes Menschen, die Betonung der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit. Diese Prinzipien sind eine wesentliche Grundlage unserer modernen Demokratie seit dem 18. Jahrhundert und auch der Menschenrechte, wie sie etwa in der Präambel der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten zum Ausdruck kommen. Auch das Engagement jedes Einzelnen, ohne das eine Demokratie nicht lebt, wird in der Kirche vorgeprägt und eingeübt. Gerade in Verbänden, besonders in Jugendverbänden, diskutieren die Menschen lebhaft, ringen um Kompromisse und lernen zum Beispiel, vor einem großen Publikum zu reden und sich für ihre Positionen stark zu machen. Das sind Erfahrungsräume, die ich immer sehr unterstützt habe und unterstützen werde.
Sie haben Sorgen über das demokratische Zusammenleben geäußert. Was bereitet Ihnen besonders Sorgen?
Eine meiner größten Sorgen ist die zunehmende Gleichgültigkeit und das mangelnde Engagement der Menschen. Demokratie erfordert mehr als nur die Teilnahme an Wahlen; sie braucht eine aktive und informierte Bürgerschaft. Auch in der Kirche sehen wir teilweise eine geringe Beteiligung an Entscheidungsprozessen, was darauf hinweist, dass manche nicht das Gefühl haben, dass ihre Stimme zählt. Wir merken, Demokratie hat große Voraussetzungen, die sich nicht in einem Wahlgang erschöpfen. Es ist entscheidend, dass wir Wege finden, das Interesse – auch am Anderen – und die Beteiligung zu erhöhen. Das erfordert Bildung und das Bewusstsein, dass Demokratie und Partizipation zentrale Elemente unseres Glaubens sind.
Gibt es in Ihrer Erzdiözese konkrete Maßnahmen, um die Beteiligung zu erhöhen?
Ja, wir haben verschiedene Initiativen ins Leben gerufen, um die Beteiligung zu fördern. Eine davon ist die Möglichkeit der Briefwahl bei Pfarrgemeinderatswahlen, die bereits zu einer höheren Wahlbeteiligung geführt hat. Und wir haben verschiedene Kampagnen gestartet, auch jetzt wieder, zur Kirchenverwaltungswahl im November, damit jeder Einzelne erkennt: Mein Engagement lohnt sich! Es ist wichtig, dass die Menschen verstehen, dass ihre Beteiligung einen Unterschied machen kann und dass sie Teil eines größeren Ganzen sind. Dafür braucht es positive Konzepte und den Willen von Menschen, die auf dem Boden eines letztlich biblisch begründeten Menschenbildes stehen.
Abschließend, was sind Ihre Hoffnungen für die Zukunft der Kirche und der Demokratie?
Meine Hoffnung ist, dass die Kirche weiterhin eine starke Stimme für die Würde des Menschen, für verantwortliche Freiheit und für Gerechtigkeit bleibt. Der christliche Glaube bietet eine gute Grundlage für eine Gesellschaft, in der Menschen respektvoll miteinander umgehen. Es ist wichtig, dass wir als Kirche weiterhin Wege finden, die Menschen zu ermutigen, sich zu engagieren und Verantwortung zu übernehmen. Nur so können wir eine gerechte und friedliche Gesellschaft fördern.
Vielen Dank für das ausführliche und aufschlussreiche Interview.
Kardinal Reinhard Marx wurde am 21. September 1953 in Geseke geboren. Nach seinem Theologiestudium in Paderborn, Paris, Münster und Bochum wurde er 1979 zum Priester geweiht. 1996 wurde er Weihbischof in Paderborn, 2001 Bischof von Trier und 2007 Erzbischof von München und Freising. 2010 ernannte ihn Papst Benedikt XVI. zum Kardinal. Marx war 2013-2023 Mitglied des Kardinalsrats von Papst Franziskus, und bis 2020 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Er setzt sich für soziale Gerechtigkeit und synodale Prozesse in der Kirche ein.