Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: September-Oktober 2024

Schwerpunkt

Mehr als Wählen

Eine Stimme zu gesellschaftlichen Entwicklungen erheben – hier seitens der Ordensfrauen für Menschenwürde. Foto: Josef Fuchs

Dienst an der Demokratie ist Dienst am Menschen

„Nie wieder ist jetzt!“ konnte man auf einigen Plakaten lesen, die seit Anfang 2024 auf vielen Demonstrationen für die Demokratie mitgeführt wurden. Diese Demonstrationen in Deutschland und in Europa sind ein wichtiges Signal. Doch was verstehen wir unter Demokratie?

Meist wird Demokratie verkürzt so dargestellt, dass die Bürgerinnen und Bürger in regelmäßigen Abständen wählen und die Mehrheit „Recht“ bekommt. Doch Demokratie ist mehr als das Prinzip der Majorität, wie beispielsweise Thomas Mann in seinem Vortrag „Vom zukünftigen Sieg der Demokratie“ betonte. Ein wichtiges Merkmal der Demokratie ist die Gewaltenteilung: Regierung, Parlament und Gerichtswesen. Die Macht ist zeitlich begrenzt und Machtverhältnisse sind systemimmanent reversibel. In der Demokratie herrscht Recht, das auf einer Verfassung basiert. Um eine Verfassung festzuschreiben, muss die Gesellschaft einen Gemeinsinn, einen Ethos, eine Vorstellung entwickeln, wie sie leben möchte. Einen Meilenstein in der Menschheitsgeschichte und für die rechtsstaatliche Demokratie bildet die UN-Menschenrechtskonvention von 1948. In dieser Menschenrechtserklärung und später im deutschen Grundgesetz im Jahr 1949 sind Menschenwürde, Gerechtigkeit, Frieden, persönliche Freiheit, Religionsfreiheit, Meinungs- und Informationsfreiheit und vieles mehr verankert.

Für Gerechtigkeit und Wahrheit

Die im Grundgesetz aufgeführten Staatsprinzipien Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit, Republik und Föderalismus bilden die Basis des deutschen Verfassungsstaates.

Diese freiheitliche rechtsstaatliche Demokratie ist nicht selbstverständlich und muss immer von jeder Generation von Neuem erarbeitet und verteidigt werden. Die größte Gefahr kommt meist von innen. So können sich die politischen Mandatsträger und die Bürgerinnen und Bürger immer mehr von den Zielen und Inhalten der Verfassung entfernen bis hin zur Gleichgültigkeit und Zerstörung. Nichts höhlt eine Gesellschaft mehr aus, als ein fehlendes Bewusstsein für Gerechtigkeit und Wahrheit, sowohl in der Politik als auch in der gesamten Gesellschaft. Kunst, Kultur, Medien und Wissenschaft sind die ersten Opfer autokratischer Bestrebungen. Weltweit sind autokratische Regierungen auf dem Vormarsch. Das heißt aber nicht, dass die Idee der Demokratie auf dem Rückzug ist. Wir wissen nicht, wie viele Millionen Menschen sich in Diktaturen und Autokratien nach Freiheit und demokratischen Verhältnissen sehnen.

Bis zur Jahrtausendwende war der „informierte Bürger“ das Ideal in der Demokratie. Parteien und Medien, zunächst die Zeitungen und öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, lieferten die Informationen. Die Medien entwickelten sich immer mehr zur „vierten Gewalt“ im Staat. Mit dem Erscheinen der interaktiven sozialen Medien gab es zunächst Hoffnung, dass diese die Demokratie beleben könnten. Doch heute sehen wir, dass die Gesellschaft durch Hass, Fake News und soziale Isolierung mehr gespalten und radikalisiert wird. Aus dem „informierten Bürger“ wird oft ein orientierungsloser Bürger, der nicht mehr weiß, was er noch für wahr halten soll. Viele sehen keinen Wert mehr in der Demokratie, suchen in einer komplexen Welt nach einfachen Erklärungen oder beginnen, an Verschwörungsmythen zu glauben.

Beitrag der Religionen und Kirchen

Dem demokratischen Rechtsstaat stehen verschiedene politische und juristische Mittel zur Verfügung, sich gegen Angriffe von innen und außen zu wehren. Es stellt sich die Frage, inwieweit die Kirche einen Beitrag zur Verteidigung der Demokratie leisten kann. Der Staat mag weltanschaulich neutral sein, kann aber ohne eigene Werte nicht existieren. Es gibt keinen wertefreien Raum. Im Wertekanon des Grundgesetzes spielt die Würde des Menschen die zentrale Rolle. Diese ist der wichtigste gemeinsame Wert, der Staat und Kirche verbindet, und muss deshalb auch gemeinsam verteidigt werden. „Die Menschenwürde ist der Glutkern des christlichen Menschenbildes und der Anker unserer Verfassungsordnung“, so die Erklärung „Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar“ der Deutschen Bischofskonferenz im Februar 2024. Die Bischöfe rufen dazu auf, Widerstand zu leisten, wenn Menschenwürde und Menschenrechte in Gefahr geraten, und sich gemeinsam aktiv für die freiheitliche Demokratie zu engagieren. Es ist zu wünschen, dass die Erklärung der Bischöfe in allen Gremien, vom Zentralkomitee der Katholiken bis zu den einzelnen Pfarrgemeinderäten, gemeinsam gelesen und diskutiert wird. Dass dort darüber nachgedacht wird, was dieser Text für jeden persönlich und für die Gemeinschaft bedeutet – und dass sich daraus analog zum Friedensdienst ein dauerhafter Demokratiedienst in der Kirche entwickelt. Dies wäre ein Dienst an der Demokratie und am Menschen!

In Zeiten von Hass und Hetze können die christlichen Kirchen das gemeinschaftliche Zusammenleben der Menschen fördern. In Gruppen, Räten und Verbänden können sie den Menschen helfen, Gemeinschaft zu erfahren und erlebbar zu machen. Die Gremienarbeit bietet die Möglichkeit, demokratische Spielregeln einzuüben, zu vertiefen und ja, auch auszuhalten. So schwierig die Jugendgruppenarbeit in der heutigen Zeit sein mag, ist sie doch ein möglicher Erfahrungsraum für Gemeinschaft und Demokratie. Dies sollte nicht nur als Aufgabe, sondern als Chance für die Kirche verstanden werden.

Bildung, Vernetzung und Dialog

Weiterhin kommt der Bildung in allen Lebensphasen eine große Bedeutung zu – in den Kindergärten, im Religionsunterricht und in der Erwachsenenbildung. Herauszuheben ist die Arbeit des Kompetenzzentrums für Demokratie und Menschenwürde der Katholischen Kirche Bayern, mit seinen Standorten an der Domberg-Akademie Freising und der Akademie Caritas-Pirckheimer-Haus Nürnberg.

In Zeiten des zunehmenden religiösen Fundamentalismus ist es um so wichtiger, den interreligiösen Dialog zu intensivieren und zu pflegen. Er geschieht weniger laut und oft im Hintergrund, ist aber für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft unerlässlich. Ein wesentlicher Baustein gegen Hass und Hetze bildet das Bayerische Bündnis für Toleranz, ein ökumenisches Netzwerk, dem auch das Landeskomitee der Katholiken in Bayern angehört. Nicht zu vergessen die Entwicklungszusammenarbeit der Kirchen, die mehr als Spenden für Projekte ist. Durch Austauschprogramme sorgt sie für Begegnung und Verständnis, besonders unter jungen Menschen. Trotz der vielen Aktivitäten und Anstrengungen in den christlichen Kirchen scheint es, dass dadurch nur eine geringe Zahl von Menschen erreicht wird. Wesentlich höher ist die Zahl derer, die in den Gottesdiensten erreicht werden können. Wo, wenn nicht dort, sollte der „Glutkern des christlichen Menschbildes“ am deutlichsten zum Vorschein kommen? Dies zu fördern und verstärken, wäre eine wichtige Aufgabe für alle Verantwortlichen in der Kirche.

„Nie wieder ist jetzt!“ Dieses Jetzt wird nicht aufhören. Jede Generation muss die Demokratie für sich neu entdecken, erarbeiten und verteidigen. Was jedoch Demokratie am meisten braucht, ist eine Vorstellung von der Zukunft. Wir brauchen eine gemeinsame Idee von einer Welt, in der wir leben wollen. Demokratie für sich allein ist eine Regierungsform. In Verbindung mit den Werten des Grundgesetz entwickelt sie sich zu einer Lebensform, ja sogar zu einer Seinsform. Das Grundgesetz gibt nicht nur eine Orientierung, wie wir zusammenleben wollen, sondern auch wer wir sein wollen. Wir alle haben die Wahl – jetzt!

OrdensFrauen für MenschenWürde

Im Sommer/Herbst 2018 hat sich in München eine Gruppe von Ordensfrauen gebildet, die ihre Stimme zu gesellschaftlichen und kirchlichen Entwicklungen erhebt. Innerkirchlich engagieren sie sich für eine gerechtere Verteilung von Verantwortung, für die Beteiligung von Frauen an allen Diensten und Ämtern und für eine Reform der Sexualmoral. Auch die Themen „Klimawandel“ und die „Bewahrung der Schöpfung“ liegen ihnen am Herzen. So nehmen sie an verschiedenen Demonstrationen teil, organisieren Gebete, Veranstaltungen und Pilgerwege.

Kontakt: Sr. Susanne Schneider MC, susannemariaschneider@gmail.com


Verfasst von:

Josef Fuchs

Sachausschuss "Mission-Gerechtigkeit-Frieden" im Landeskomitee