Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: November-Dezember 2024

Schwerpunkt

Alles, was recht ist

Die Waage der Iustitia symbolisiert das Streben nach Gerechtigkeit, indem sie die Balance und Gleichheit zwischen allen Seiten herstellt. Foto: WIKICOMMONS

Auf der Waage der Iustitia

Gerechtigkeit ist eines der ältesten und zugleich komplexesten Konzepte in der Philosophie. Sie durchdringt unser tägliches Leben ebenso wie die Fundamente ganzer Gesellschaften. Aber meinen wir alle das Gleiche, wenn wir von Gerechtigkeit sprechen? Und ist Gerechtigkeit wirklich das letzte Ideal, nach dem wir streben?

„Gerecht“ ist ein ausgesprochen vieldeutiger Begriff: So reden wir zum Beispiel in einer personalen Auffassungsweise von gerechten Menschen, Beurteilungen, Handlungen und von einem gerechten Gott; in einer theoretischen dagegen von gerechten Verteilungsschlüsseln, Preisen oder Konzeptanwendungen; in einer institutionellen von gerechten Staaten, Gesellschaftsmodellen und Rechtssystemen; oder, um nur noch diese Verwendungsweise zu nennen, resultativ von gerechten Ergebnissen bei Fußballspielen, Urteilen oder der gerechten Honorierung von Leistungen. Doch damit nicht genug: Man könnte vielleicht sogar die gesamte Ethik auf die Gerechtigkeit zusammenziehen, denn ein Mensch, der allen anderen Menschen und allen Situationen, Aufgaben und Herausforderungen „gerecht wird“ oder „Gerechtigkeit widerfahren lassen kann“, wie wir uns ausdrücken – was sollte dem moralisch fehlen? Etliche Philosophen haben die Gerechtigkeit daher für den Kulminationspunkt der Moralphilosophie gehalten, oder doch zumindest für die Schlüsseltugend, in der alle anderen „aufgehoben“ sind, für die ausschlaggebende der existenzformenden Grundhaltungen. Der biblische „Gerechte“ steht für ein ähnlich umfassendes Ideal, und der ansonsten so trockene Aristoteles jubelt über die Vollform der Gerechtigkeit: Weder Morgenstern noch Abendstern sind so schön!

Andere Denker wie Thomas von Aquin kennen selbst die Ansicht, dass Gerechtigkeit nicht nur Sache des personalen Bereichs ist, also des Verhältnisses des Menschen zu anderen, zu Gott (und Seines zum Menschen) oder zu handlungsrelevanten Situationen und Aufgaben. Denn auch Naturabläufe und natürliche Umstände stehen dem menschlichen Begreifen in Termini von Gerechtigkeit offen: Dass einige Lebewesen mit körperlichen Beeinträchtigungen geboren werden und andere nicht, einige Naturkatastrophen zum Opfer fallen und andere nicht, wird als „ungerecht“ verbucht, während die Unabhängigkeitserklärung der USA umgekehrt in ähnlicher Absicht als Grundlage jeder staatlichen Gerechtigkeit in schöpfungstheologischer Diktion die natürliche Gleichheit nennt, nämlich, dass „alle Menschen gleich geschaffen sind“. Antike Griechen konnten sogar von der perfekten Balance der Körpersäfte als dem „gerechten“ biologischen Zustand sprechen. Es gab in der Moderne Zeiten, da wurde ein derartiges Denken belächelt, die Abläufe und Wertungen zwischen Personen und nichtpersonalem Urwüchsigem seien nicht in Begriffen von Gerechtigkeit auszudrücken, so monierte man. Doch scheinen die ökologischen Auffassungen seit dem 20. Jahrhundert Ähnliches als Überzeugungsgrundlage in etwas diffuserer Weise wieder wie selbstverständlich vorauszusetzen.

Soweit der erstaunliche Umfang des Begriffs „Gerechtigkeit“, und es könnte nach all dem bisher Gesagten fast so scheinen, als sei die Gerechtigkeit der letzte Horizont all dessen, was wir uns für unser Leben nur wünschen könnten. Doch dem ist nicht so, und man kann es sich an der eigenen Lebensausrichtung leicht klar machen: Wir wollen nämlich nicht nur Gerechtigkeit in unserem Leben und sonst nichts. Was wir im Grunde wollen, ist Gutes. Und die Gerechtigkeit erhält ihren Sinn und ihren Wert daraus, dass sie zum Guten dient. Hier ist die Grenze der Gerechtigkeit, und hier verweist sie über sich hinaus auf etwas, das begrifflich noch viel breiter gefächert und viel schwieriger zu fassen ist.

Gerechtigkeit als Gefüge und als Vollzug

Doch bleiben wir innerhalb der Grenzen der Gerechtigkeit. Der bereits genannte Aristoteles versuchte, die vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten von „Gerechtigkeit“ als allesamt gerechtfertigt zu erweisen, indem er sie um zwei Grundgedanken gruppierte, die sie alle in je anderer Weise auszudrücken scheinen und ohne die man all die vielen Auffassungsvarianten von „gerecht“ nicht richtig verstünde – als wäre Gerechtigkeit wie eine Ellipse durch zwei Brennpunkte bestimmt.

Der eine Brennpunkt-Gedanke ist, dass Gerechtigkeit ein Kollektivbegriff des Rechten oder des Rechts ist und dieses Kollektivum auch zum Ausdruck bringen soll. Ein sinnvoll zusammenhängendes Ausgleichsgefüge alles Rechten in einem Staat sei also demnach Ge-Rechtigkeit, ähnlich wie ein abgrenzbar zusammenpassendes Ganzes von Bergen ein Ge-Birge, ein funktionsgemäß angeordnetes und natürlich gewachsenes Gefüge von Federn ein Ge-Fieder, etc. Auch der alttestamentliche Gerechte ist jemand, der ganz ähnlich aus dem gesamten Gesetz, dem von Gott gegebenen Recht, lebt, und alles in seinem gesamten Verhalten stimmig und sinnvoll daraus ableitet. Gerechtigkeit ist dann als eine gleichgewichtsschaffende Kollektivform aller konstitutiven Teile eines übergeordneten Gefüges aufgefasst, das in diesem Gleichgewicht erst zum geordneten wird. Dass es zum geordneten wird, hat damit zu tun, dass in diesem Gefüge das Abstimmungsverhältnis richtig ist und rechtgeht. Dieser Auffassungssinn von Gerechtigkeit als Kollektivum von Richtigkeit betrifft die Optimalform des Koordinationserfolgs ganzer Systeme: Kosmos, Natur, Staaten, Gesetzescodices, etc.

Für Aristoteles ist Gerechtigkeit die zentrale Tugend, die den Ausgleich und die Verteilung in der Gesellschaft steuert, stets mit Blick auf das Höhere – das Gute. Foto: Christian Schäfer

Neben diesem Gedanken, dass Gerechtigkeit ein optimaler Ausgleich eines übergreifenden Ganzen ist, gibt es gemäß Aristoteles einen zweiten, der die Rede von Gerechtigkeit charakterisiert und bündelt: Dieser zweite Brennpunkt-Gedanke besagt, Gerechtigkeit sei eine Optimalform der Verteilung. Und Verteilung ist hier einmal als Aktionsnomen gemeint, also als Verteilungstätigkeit, und einmal als Resultatsnomen, also als Verteilungszustand, als die Sachlage, die von der Verteilungstätigkeit hervorgebracht wurde. Die Verteilungshandlung, mit der man allen Kindern ein gleich großes Stück vom Kuchen abschneidet, ist daher gerecht, die Zuteilung verschieden schwerer Strafen für verschieden schwere Vergehen ebenfalls, und der Zustand, der dadurch jeweils erreicht wird, wird dann auch „gerecht“ genannt. Das Kriterium der Verteilung kann dabei durchaus variieren, je nach erstrebtem Optimum: Im gewöhnlichen Arbeitsleben erhalten Arbeiter das ihnen bemessen an ihrer Arbeitsleistung Zustehende, im Evangelium erhalten die Arbeiter im Weinberg das ihnen Zustehende bemessen an Gottes Erlösungswillen und Treue, oder schlicht daran, dass sie das einmal Ausgemachte auch wirklich bekommen.

Dieser zweite Gedanke zeigt: Gerechtigkeit kann zum einen als eine moralische Maßgabe aufgefasst werden kann, die Handlungen zum Besten bestimmt – und dann wird Gerechtigkeit zum Beispiel als eine Tugend gelten: Tugenden sind innere Haltungen, die uns in verschiedenen Bereichen das Richtige tun lassen, und im Fall der Gerechtigkeit ist das der Bereich von Verteilung und Zuteilung. Und Gerechtigkeit kann nach derselben Logik zum andern auch als institutioneller Maßstab aufgefasst werden, der Zustände und Verfassungen zum Besten bestimmt – und dann wird sie zum Beispiel als Richtmaß und Grundlage einer Gesellschaftseinrichtung gelten, wie bei John Rawls und seiner ungeheuer einflussreichen Schrift „A Theory of Justice“.

Zwei Dinge zeichnen diese letztgenannte Auffassung von Gerechtigkeit als Verteilungs- oder Zuteilungsideal aus, sie lassen sich an zwei große Namen zurückbinden: Aristoteles muss hier zum dritten Mal genannt werden. Er meint nämlich, dass wir das, was Gerechtigkeit bedeutet, stets am einfachsten und sichersten erkennen, wenn wir sehen, wie etwas ungerecht verteilt wird, wenn wir es intuitiv ablehnen, eine ungerechte Zuteilung anzuerkennen, wenn es in uns dagegen revoltiert. Hier zeigt sich: Wir haben ein recht sicheres, natürliches Verständnis von Gerechtigkeit, und zwar auch, wenn wir keine reflektierte Theorie dazu bieten können, wie Kinder, die keine Definition von „gerecht“, aber einen sehr feinen Sensus für alles Ungerechte haben. Und der zeigt sich in Verteilungssituationen, zum Beispiel eben beim Geburtstagskuchen. Der zweite große Name, der hier eine Rolle spielt, ist Ulpian, der römische Rechtsgelehrte. Der bestimmte im 3. Jahrhundert die Gerechtigkeit mit einer Formel, die seitdem zu dem Klassiker in Gerechtigkeitsfragen avanciert ist: Das Gerechte bestehe darin, „jedem das Seine zuzuteilen“, also in der Sachverständigkeit des suum cuique tribuendi. Ulpian sieht auch die resultative Gerechtigkeit und die Gerechtigkeit als Kollektivbegriff im Banne der Auffassung vom Gerechten als Zuteilung.

Gleichheit und Billigkeit

Dass alle Menschen gleich geschaffen sind, die gleich großen Stücke Kuchen, ein Ausgleichsgefüge eines übergeordneten Ganzen oder Systems, das Prinzip von gleichem Lohn für gleiche Arbeit – Gerechtigkeit impliziert anscheinend immer eine Art von Gleichheit. Unser Bestreben, Gleichheit herzustellen, ist gerecht, und Einrichtungen, die Gleichheit garantieren, ebenfalls. Die Waage ist deswegen das Symbol der Iustitia, hier wiegen zwei Seiten gleich schwer und werden in Ausgleich gebracht, das Sinnbild der Gleichheit ist hier die Balance. Die Balance der Körpersäfte im „gerechten“ Gesundheitsideal alter Griechen ist damit genauso symbolisch ausgedrückt, wie die Balance der Kräfte im Staat oder die Balance von Bedarf und entsprechender gerechter Hilfeleistung im sozialen Handeln.

Zuletzt noch eine philosophische Anfrage an die Gerechtigkeit: Wie gesehen, kann man Gerechtigkeit auf nahezu alles beziehen, ihr Begriffsumfang ist riesig. Aber: Kann man „gerecht“ auch auf die Gerechtigkeit selbst anwenden, ist Gerechtigkeit, wie wir sagen, ein transzendentaler Begriff? Es war hier so oft schon von Aristoteles die Rede, lassen wir ihn daher abschließend noch einmal zu Wort kommen. Er meint nämlich, es gebe so etwas wie die „Gerechtigkeit der Gerechtigkeit“. Er bezeichnet sie als „Epikie“, „Billigkeit“. Als Beispiel nennt er den Richter, der nach Maßgabe der Gerechtigkeit eine Strafe zuteilen soll. Wenn er wahrhaft ein gerechter Richter ist, so wird er dies tun, indem er gerechterweise (und hierin liegt die Anwendung der Gerechtigkeit auf die Maßgabe der Gerechtigkeit) der Gerechtigkeit nicht allzu starr folgt, und nicht sagt, Gerechtigkeit muss sein, egal was, oder „fiat iustitia, pereat mundus“ („Es möge Gerechtigkeit walten, und wenn die Welt dadurch zugrunde geht“). Er wird vielmehr gerechterweise Umstände, Stimmungen, Notlagen und anderes seine Zuteilung modellieren lassen und insbesondere vor Augen haben, dass das Gute nicht vollständig in der Gerechtigkeit aufgeht.

 


Verfasst von:

Christian Schäfer

Professor für Philosophie an der Universität Bamberg