Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: November-Dezember 2024

Schwerpunkt

Der Beitrag der Kirchen zur Gerechtigkeit

Der heilige Benedikt zeigt in seiner Ordensregel konkrete Wege auf, wie wir im alltäglichen Miteinander Gerechtigkeit üben können. Er weiß, dass eine Gemeinschaft auf Dauer nur bestehen kann, wenn in ihr Gerechtigkeit herrscht. Foto: JULIAN / Adobe stock

Gerechtigkeit ermöglicht Gemeinschaft. Mit dieser Sichtweise entspricht der hl. Benedikt dem Alten Testament. Das Alte Testament versteht Gerechtigkeit vor allem als Ermöglichung von Gemeinschaft. Die Gerechtigkeit schafft einen Raum, in dem Menschen gut miteinander leben können.

 

Für den griechischen Philosophen Platon ist Gerechtigkeit die grundlegende Tugend, die dem Wesen des Menschen entspricht und die ihm hilft, sein Menschsein authentisch zu leben. Dabei versteht Platon die Gerechtigkeit einmal so, dass wir uns selbst gerecht werden sollen, unserem Leib, unserer Seele und unserem Geist. Und Gerechtigkeit ist immer auch soziale Gerechtigkeit. „Suum cuique“ formuliert es Thomas von Aquin. Jedem soll das Seine gegeben werden. Es geht also um gerechte Güterverteilung, gerechte Chancenverteilung, gerechte Arbeitsverteilung, gerechten Lohn.

Das Eintreten der Kirche für die Gerechtigkeit in der Gesellschaft

Die Kirche hat die Aufgabe, in der Gesellschaft immer wieder auf die aufmerksam zu machen, die zu kurz kommen, die nicht das bekommen, was das Ihre ist (suum cuique). Sie soll wie die Propheten ihre Stimme erheben, wenn sie erkennt, dass manche Gruppierungen in der Gesellschaft nicht ihr Recht bekommen, dass sie nicht gesehen und nicht gehört werden. Die Spannungen in der Gesellschaft entstehen vor allem dann, wenn Menschen nicht gehört werden, nicht ernst genommen werden.

Die biblische Botschaft lautet: „Wer Gerechtigkeit sät, wird Frieden ernten.“ Dort, wo Ungerechtigkeit herrscht, gibt es Reibungsverluste, da entstehen Neid und Zwietracht. Allerdings gibt es keine absolute Gerechtigkeit. Jesus verheißt die selig, „die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit“ (Mt 5,6). So soll die Kirche nicht anklagen, sondern Wege aufzeigen, wie die Gesellschaft gerechter werden kann. Und sie soll danach streben, selbst gerechte Strukturen in der Kirche zu schaffen.

Das Bemühen um Gerechtigkeit in den Gemeinden

Die Kirche kann nur dann für die Gerechtigkeit in der Gesellschaft eintreten, wenn sie sich bemüht, in den eigenen Gemeinden Gerechtigkeit walten zu lassen. Dabei kann der hl. Benedikt ein guter Ratgeber sein. Benedikt zeigt uns in seiner Regel konkrete Wege auf, wie wir im alltäglichen Miteinander Gerechtigkeit üben können. Er weiß, dass eine Gemeinschaft auf Dauer nur bestehen kann, wenn in ihr Gerechtigkeit herrscht. Eine Weise der Gerechtigkeit ist die gerechte Zuteilung des täglich Notwendigen. Darüber hat Benedikt ein eigenes Kapitel geschrieben: „Man halte sich an das Wort der Schrift: Jedem wurde so viel zugeteilt, wie er nötig hatte. Damit sagen wir nicht, dass jemand wegen seines Ansehens bevorzugt werden soll, was ferne sei. Wohl aber nehme man Rücksicht auf Schwächen. Wer weniger braucht, danke Gott und sei nicht traurig. Wer mehr braucht, werde demütig wegen seiner Schwäche und nicht überheblich wegen der ihm erwiesenen Barmherzigkeit. So werden alle Glieder der Gemeinschaft im Frieden sein“ (RB 34,1-5).

Gerechtigkeit heißt für Benedikt nicht, alle über den gleichen Kamm zu scheren, alle gleich zu behandeln, sondern jedem das zu geben, was er nötig hat. Das verlangt vom Abt ein gutes Gespür für den einzelnen und seine Eigenarten. Und es verlangt von den Brüdern die Bereitschaft mit dem zufrieden zu sein, was sie brauchen. Sobald sie sich mit andern vergleichen, sind sie schon nicht mehr im Frieden mit sich und mit den andern. Der Schwache soll das, was er braucht, nicht als Forderung hinstellen, sondern in aller Demut und im Eingeständnis seiner Bedürfnisse darum bitten. Der Starke soll sich nicht über den Schwachen erheben. Er soll sich nicht mit ihm vergleichen, sondern dafür danken, dass er weniger braucht.

Wie sich Benedikt die Gerechtigkeit in seinem Kloster vorstellt, zeigt er vor allem im Abtskapitel. Da fordert er vom Abt: „Der Abt bevorzuge im Kloster keinen wegen seines Ansehens. Den einen liebe er nicht mehr als den anderen, es sei denn, er finde einen, der eifriger ist in guten Werken und im Gehorsam. Er ziehe nicht den Freigeborenen einem vor, der als Sklave ins Kloster eintritt, wenn es dafür keinen vernünftigen Grund gibt. Der Abt kann aber jede Rangänderung vornehmen, wenn er es aus Gründen der Gerechtigkeit für gut hält“ (RB 2,16-19).

Wenn wir diese benediktinische Weisheit auf unsere Gemeinden hin auslegen, so bedeutet es, dass alle in der Gemeinde gehört werden, die Alten und die Jungen, die Männer und die Frauen, die Familien und die Alleinstehenden, die Einheimischen und die Migranten. Wir sollen auf die Menschen hören, ohne das, was sie sagen und was sie leben, zu bewerten. Ein wichtiger Weg, den Menschen gerecht zu werden, besteht darin, zu verstehen anstatt zu bewerten. Sobald wir bewerten, geht es um Rechthaberei. Rechthaberei aber spaltet. Das gilt vor allem auch für das Gespräch zwischen konservativen und liberalen Gruppen. In manchen Pfarreien sprechen diese Gruppen nicht miteinander, weil sie sich gegenseitig bewerten. Verstehen bedeutet, dass ich genau hinhöre, was der andere sagt, dass ich nach den Erfahrungen frage, die ihn zu dieser Sicht gebracht haben, und dass ich auf die Sehnsüchte achte, die hinter seiner Meinung und Haltung stehen. Dann wird ein Gespräch möglich sein. Und dann fühlen sich die einzelnen Gruppen gerecht behandelt.

Der Gerechte verletzt nicht die Gemeinschaft, sondern er baut sie auf. Er hat einen Blick für die Armen und Unschuldigen. Er setzt sich für die Witwen und Waisen ein, die keine Lobby haben. Gerechtigkeit verlangt vor allem ein soziales Verhalten gegenüber Niedriggestellten. Das haben die Propheten den Israeliten immer wieder eingeschärft. Amos redet denen, die die Schwachen ausbeuten, ins Gewissen. (Amos 8,4ff) Und Jesaja verheißt, dass die Gerechtigkeit den Menschen vorangeht, die die Versklavten freilassen, an die Hungrigen ihr Brot austeilen und obdachlose Arme ins Haus aufnehmen (vgl. Jes 58,6-8).

Die Drohungen der Propheten sind heute höchst aktuell. Die Ausschreitungen jugendlicher Ausländer haben ihren Grund in dem Gefühl, keine Chance in dieser Gesellschaft zu haben, ungerecht behandelt zu werden. Gerechtigkeit heißt jedoch nicht, alle Wünsche zu erfüllen, sondern erst einmal richtig auf die Menschen zu hören. Was brauchen sie wirklich? Was sind berechtigte Forderungen? Unsere Zeit sehnt sich nach Gerechtigkeit und Frieden. Ohne Gerechtigkeit und Frieden können wir nicht angstfrei leben. Da müssen wir ständig mit Überfällen und Ausschreitungen rechnen. Wir spüren, dass Gerechtigkeit eine große Kraftanstrengung braucht. Sie lässt sich nicht durch äußere Dekrete herstellen, sondern nur durch einen Prozess des Aufeinanderhörens, der Achtung, des Gesprächs und des ehrlichen Ringens um Lösung der sozialen Probleme.

Gerechtigkeit vor Gott

Das Alte Testament bezeichnet den Menschen als gerecht, der die Gebote Gottes erfüllt und der sich ganz und gar auf Gott hin ausrichtet. Matthäus beschreibt Joseph als einen gerechten Menschen, der seiner schwangeren Frau gegenüber Gerechtigkeit und Barmherzigkeit miteinander verbindet. Jesus will uns die wahre Gerechtigkeit lehren, die nicht nur in der äußeren Befolgung von Geboten liegt, sondern in der Gesinnung der Liebe Gott und den Menschen gegenüber. Jesus selbst fühlt seine Sendung darin, Sünder zu berufen und nicht die Gerechten. Er meint damit die Menschen, die sich selbst für gerecht halten. Diese Gefahr kennen wir in unseren Gemeinden. Da gibt es Menschen, die sich für gerecht halten, weil sie alle kirchlichen Gebote erfüllen. Doch Jesus geht es darum, sich mit seinem ganzen Denken und Handeln von der Liebe leiten zu lassen. Das ist ein Anspruch, der uns unser Leben lang herausfordert und den wir nie ganz erfüllen können.


Verfasst von:

Pater Anselm Grün

Autor und Mönch der Benediktiner-Abtei Münsterschwarzbach