Ausgabe: November-Dezember 2024
SchwerpunktDer rettende Gott und der gerechte Mensch
Biblische Perspektiven
„Gerechtigkeit“ geht in den Schriften des Alten und Neuen Testaments weit über die reine verteilende Gerechtigkeit hinaus. Aus der Sozialkritik der Propheten an den Reichen auf Kosten der Armen entwickelt sich ein Verständnis zum Wohle der Person und der Förderung von Gemeinschaft.
Um aus biblischer Perspektive einen Blick auf das Thema „Gerechtigkeit“ zu werfen, kann man in einem ersten Schritt von der üblichen Vorstellung einer „zuteilenden Gerechtigkeit“ ausgehen: Gerecht ist ein Zustand dann, wenn man erhält, was dem jeweiligen Tun entspricht. Im Rahmen dieses Konzepts würde etwa ein ungleich verteilter Zugang zu materiellen Ressourcen dann nicht als ungerecht empfunden, wenn er denn ausschließlich auf entsprechend ungleich verteilten Leistungen beruhen würde. Wenn aber jemand über Dinge verfügt, die ihm aufgrund des Tuns nicht zustehen, wird gegen die Gerechtigkeit verstoßen.
Kein Reichtum auf Kosten der Armen
In der Bibel schlägt eine solche Perspektive auf die Gerechtigkeit in der Sozialkritik mancher Propheten durch. Besonders profiliert ist in dieser Hinsicht Amos. Dieser Prophet, aus dem Südreich Juda stammend, trat um die Mitte des 8. Jahrhunderts v. Chr. im Nordreich Israel auf. Das Nordreich hatte eine Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs hinter sich, von dem aber in erster Linie die Oberschicht profitierte. Dass diese ihren Reichtum auf Kosten der Armen erzielte, kritisiert der Prophet mit scharfen Worten. Er kündigt Gottes Gericht an, „ … weil sie den Gerechten für Geld und den Armen für ein Paar Schuhe verkaufen. Sie treten nach dem Kopf der Geringen [wie] auf den Staub der Erde, und den [Rechts]weg der Elenden beugen sie. … Und auf gepfändeten Kleidern strecken sie sich aus neben jedem Altar, und Wein von Strafgeldern trinken sie im Haus ihres Gottes“ (Am 2,6-8). Gepfändete Mäntel und eingetriebene Strafgelder werden eingesetzt, um die Festfreude zu steigern. Gerade was den Armen in Bedrängnis bringt, maximiert den Luxus des andern, der einen eigenen Mantel hätte, um sich darauf zur Feier auszustrecken, und nicht Strafgelder bräuchte, um Wein zu trinken. Die Reichen nehmen sich, was ihnen nicht zusteht.
Weitergabe des von Gott erhaltenen Segens
Solche Zustände widersprechen dem Selbstverständnis Israels als auserwähltes Volk. Das Land, in dem es wohnt, ist ein Geschenk Jahwes, an seinen Früchten sollen eigentlich alle Anteil erhalten. Arme sind nicht nur Mittellose, sondern auch Machtlose, denen das ihnen zustehende Recht entzogen wird. Eigentlich sollte es Arme in Israel gar nicht geben. Nicht nur die prophetische Kritik zeigt, dass die gesellschaftliche Realität von diesem Ideal weit entfernt sein konnte. Umso bemerkenswerter sind jene biblischen Traditionen, die durch das Eintreten für ein Solidarethos die Realität dem Ideal annähern und so Gerechtigkeit herstellen wollen. Das Buch Deuteronomium betont die Einheit und Zusammengehörigkeit des Gottesvolkes – bezeugt nicht nur als abstrakter Gedanke, sondern konkretisiert in einem Ethos der Solidarität. Dies zeigt sich etwa in Dtn 15,12-15, wo es um die Freilassung eines hebräischen Sklaven geht. Die Formulierung in 15,12 spiegelt das Anstößige der Tatsache, dass sich ein Angehöriger des Gottesvolkes einem anderen verkaufen musste („wenn sich dein Bruder dir verkauft hat“). Vor allem fällt auf: Die Freilassung nach sechs Jahren wird mit der Forderung verbunden, den Freigelassenen für den Aufbau einer neuen Existenz auszustatten: „Du sollst ihn nicht mit leeren Händen entlassen: Du sollst ihm reichlich aufladen von deinen Schafen, von deiner Tenne und von deiner Kelterkufe. Von allem, womit der HERR, dein Gott, dich gesegnet hat, sollst du ihm geben“ (15,13f). Der letzte Satz zeigt: Dies ist Weitergabe des von Gott erhaltenen Segens. Damit dürfte auch darauf angespielt sein, dass der Überfluss des einen im Raum des Gottesvolkes nach Ausgleich verlangt, da der Segen Jahwes seinem ganzen Volk gilt.
Einer Person gerecht werden
In einem zweiten Schritt können wir uns dem biblischen Begriff der „Gerechtigkeit“ annähern. In vielen Fällen steht hinter den hebräischen Substantiven, die mit diesem Wort ins Deutsche übertragen werden, eine andere Vorstellung als die der gerade erörterten „zuteilenden Gerechtigkeit“. Vielmehr geht es darum, einem gegebenen Gemeinschaftsverhältnis zu entsprechen (in der Redeweise „einer Sache, einer Person gerecht werden“ klingt im Deutschen etwas von dieser Vorstellung an). Gerecht ist man, wenn man dieses Gemeinschaftsverhältnis fördert. Bezogen auf das Verhältnis Jahwes zu Israel bedeutet dies: Gottes Gerechtigkeit besteht darin, dass er für sein Volk oder einzelne Fromme handelt; gerecht ist Gott, weil er rettend eingreift, nicht weil er entsprechend dem jeweiligen Verhalten belohnt und bestraft. In den Psalmen wird solches rettendes Eingreifen, also Gottes Gerechtigkeit, erbeten oder für es gedankt (zum Beispiel Ps 40,10f; 89,17; 145,6f). Gottes Gerechtigkeit kann auch im Sinne eines Zustands zur Sprache kommen; Jahwe wird angerufen „in seiner Gerechtigkeit“ (z.B. Ps 5,9; 31,2). Sie ist die Instanz, die Gottes Hilfe verbürgt. So kann „Gerechtigkeit“ sogar zum Synonym für „Gnade“ werden (Ps 143,2f; siehe auch 51,16 sowie die Aufzählung paralleler Begriffe in Ps 40,11). Damit ist deutlich, wie sehr sich diese Vorstellung von der „zuteilenden Gerechtigkeit“ unterscheidet, zu der „Gnade“ ja einen Gegenbegriff darstellt.
Auf der Seite des Menschen bedeutet das Tun der Gerechtigkeit, bestimmte Gebote zu erfüllen, nach der Weisung Gottes zu leben (zum Beispiel Ps 15,2-5; häufig im Buch der Sprichwörter). So entspricht er dem Verhältnis zu Gott wie auch zu den Mitmenschen. Dies bedeutet für den Menschen, in einem Zustand der Gerechtigkeit zu sein. So kann ein Psalmbeter auch sprechen von „meiner Gerechtigkeit“ und dadurch ausdrücken, dass er sich durch „Gerechtigkeitstun“ ausgezeichnet hat, ohne einzelne Taten zu nennen (zum Beispiel Ps 7,9; 18,21). Der Gerechte ist nicht perfekt; er kann auch scheitern an den Geboten Gottes – wenn er sein Leben nur weiter an Gott ausrichtet.
Im Glauben dem Willen Gottes entsprechen
In dieser Traditionslinie spricht Paulus von Gottes Gerechtigkeit und der Rechtfertigung des Menschen durch den Glauben an Jesus Christus. Mit dem üblichen Verständnis von Gerechtigkeit, wie es dem obigen ersten Schritt zugrunde gelegt wurde, hat dies nichts zu tun. Gemeint ist: Dem Verhältnis zu Gott kann der Mensch nur entsprechen, indem er glaubt, also das Handeln Gottes zugunsten der Menschen in Jesus Christus annimmt, bei Paulus konzentriert auf Tod und Auferstehung.
In den Evangelien ist der Begriff der Gerechtigkeit vor allem bei Matthäus profiliert. Ob er damit auch auf das Wirken Gottes in den Blick nimmt, ist umstritten. Die meisten Ausleger sehen ausschließlich einen Bezug auf die menschliche Seite des Gemeinschaftsverhältnisses: auf das, was die Jünger und Jüngerinnen Jesu tun sollen, um dem Willen Gottes, wie ihn Jesus verkündet, zu entsprechen. An zwei Stellen der Bergpredigt geht es eindeutig um diesen Aspekt. Vor den sogenannten „Antithesen“ (Mt 5,21-48) fordert Jesus von den Hörern, ihre Gerechtigkeit müsse weit größer sein als die der Schriftgelehrten und Pharisäer (5,20). Was damit gemeint ist, wird in den folgenden Sprüchen entfaltet: von der Überwindung des Zorns bis hin zum Verzicht auf Gegengewalt und Feindesliebe. Im Anschluss warnt Jesus davor, die eigene Gerechtigkeit zur Schau zu stellen (Mt 6,1), und konkretisiert dies im Blick auf Almosengeben, Gebet und Fasten (6,2-18).
Somit zeigt sich: Auch dort, wo die Rede von „Gerechtigkeit“ in alttestamentlich-jüdischer Tradition in das Gottesverhältnis eingebunden ist, schließt sie eine ethisch relevante Anforderung ein, wenn auch nicht diejenige, nach dem jeweiligen Tun zu vergelten.
Verfasst von:
Gerd Häfner
Professor für Biblische Einleitung und Studiendekan der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München