Ausgabe: November-Dezember 2024
EditorialGerecht? Barmherzig.
Liebe Leserin, lieber Leser,
die erste Erfahrung, die wir mit Gerechtigkeit machen, ist meist die Erfahrung von Ungerechtigkeit. Geschwister beschweren sich sofort, wenn etwas ungerecht verteilt wird. Auch beim Spielen sind die Ressourcen begrenzt, es entstehen erste Verteilungskämpfe. Unser Ziel ist eine gerechte Gesellschaft. Ziel und Aufgabe. Doch da wird es schwieriger. Was ist eigentlich gerecht? Ein Ideal, worüber sich nicht alle einig sind? Kann man das Streben nach diesem Ideal deswegen vernachlässigen mit der Frage, was ist denn schon gerecht? Ein uneinlösbares Konzept? Es gibt wohl kaum eine Frage, über die sich alle Philosophinnen und Philosophen einig sind, bei Gerechtigkeit scheint es ähnlich zu sein. Unter den Theologinnen und Theologen ist ein Konsens möglicherweise noch schwieriger. Wenn dann die Frage aufkommt, wie die Gerechtigkeit Gottes beschrieben werden kann, entzweien sich die Vorstellungen noch stärker. Den Ausweg sehen viele in der Offenbarung. Gott hat sich, seine Person und Wesen den Menschen offenbart. Gott ist gerecht. Nur was bedeutet das? Gott ist barmherzig – das ist eine grundlegende Aussage, in der sich alle abrahamitischen Religionen einig sind, Judentum, Christentum, Islam. Vielleicht ist das ein guter Ausgangspunkt.
Und dann muss es konkret werden. Die Kirchen sehen sich in besonderer Weise verpflichtet, Gerechtigkeit in ihren Gemeinden und der Gesellschaft zu fördern. Pater Anselm Grün betont, dass Gerechtigkeit die Basis für Gemeinschaft ist – sie schafft Räume, in denen Menschen gut miteinander leben können. Die Kirche hat die Aufgabe, auf diejenigen aufmerksam zu machen, die in der Gesellschaft zu kurz kommen, und muss ihre eigene Rolle in der Schaffung gerechter Strukturen reflektieren.
Auch in der Sozialethik ist der Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ von zentraler Bedeutung, wie Markus Vogt in seinem Beitrag zeigt. Diese Gerechtigkeit basiert auf der katholischen Tradition und geht auf Aristoteles und Thomas von Aquin zurück. Es geht um eine umfassende Interaktion von Tausch-, Verteilungs- und Legalgerechtigkeit.
Darüber hinaus muss Gerechtigkeit in unseren Institutionen konkret umgesetzt werden. Das Finanzwesen der Kirche bietet ein spannendes Beispiel für die Anwendung von Gerechtigkeitskonzepten.
Schließlich geht es bei Gerechtigkeit auch um die Integration von Benachteiligten in die Gesellschaft. So beschreibt Johanna Hofmeir, wie die Einrichtung Lichtblick in München benachteiligten Kindern und Jugendlichen durch Bildung und soziale Unterstützung hilft.
Insgesamt zeigt sich: Gerechtigkeit ist mehr als ein abstraktes Ideal. Sie muss in den alltäglichen Strukturen und Praktiken der Kirche und Gesellschaft verankert werden, um für alle Menschen gleiche Chancen und Rechte zu gewährleisten.
Viel Freude beim Lesen und gute Anregungen für Ihre kirchliche Arbeit wünscht Ihnen
Hannes Bräutigam
Redaktionsleiter