Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: November-Dezember 2024

Schwerpunkt

Gerechtigkeitslücken in der Migrationsgesellschaft

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Zunehmend ist die Gesellschaft in der Wahrnehmung von Migration zerrissen, Kommunen sind angesichts ihrer jeweiligen Aufnahmekapazitäten von einer Aufnahme weiterer Geflüchteten überfordert. Die 2015 gerühmte Willkommenskultur bröckelt und unter den Geflüchteten gibt es die subjektiv gefärbte Wahrnehmung einer sogenannten ersten und zweiten Klasse von Geflüchteten beziehungsweise einer ungerechten Behandlung ihrer Fluchtschicksale.

2023 hatten von den in Deutschland lebenden Menschen 29,7 Prozent einen Migrationshintergrund (24,9 Millionen). 52,7 Prozent besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft, Tendenz steigend. Migrantinnen und Migranten sind jünger und die Familien im Durchschnitt größer, daher wird sich der Anteil von Migrantinnen und Migranten weiterhin erhöhen (vgl.//www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61646/bevoelkerung-mit-migrationshintergrund).

Ab 2014 beginnt die intensive Fluchtmigration nach Deutschland, zuerst vor allem aus Syrien und seit dem russischem Angriffskrieg 2022 zusätzlich aus der Ukraine. Zum 31.12.2023 lebten circa 2 Millionen Schutzsuchende und etwa 1 Millionen Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland (vgl. www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/rohdatenauszaehlung.html).

Innerhalb von zwanzig Jahren ist Deutschland zum Migrationsland Nummer 1 in der EU geworden.

Die Flüchtlingsmigration polarisiert und ist häufig von Fehlwahrnehmungen geprägt. Populistische Bewegungen und Parteien – wie zum Beispiel die AFD - instrumentalisieren die Thematik und schüren Ängste in der Bevölkerung Deutschlands. Zunehmend zeigt sich eine Zerrissenheit der Gesellschaft, Kommunen zeigen sich angesichts ihrer jeweiligen Aufnahmekapazitäten von einer Aufnahme weiterer Geflüchteten überfordert. Die 2015 gerühmte Willkommenskultur bröckelt und unter den Geflüchteten gibt es die subjektiv gefärbte Wahrnehmung einer sogenannten ersten und zweiten Klasse von Geflüchteten beziehungsweise einer ungerechten Behandlung ihrer Fluchtschicksale.

Im Hinblick auf die Migrationsgesellschaft in Deutschland und den prozentuellen Anteil an der Gesamtbevölkerung gibt es mehrere Gerechtigkeitslücken.

Arbeitsmarkt

Die Integration in den Arbeitsmarkt stellt einen zentralen Faktor für die Teilhabe an der Gesellschaft dar. Obwohl der Anteil ausländischer Beschäftigter und Migrantinnen und Migranten unter den Beschäftigten (gegenwärtig 10,5 Millionen von 33,8 Millionen Beschäftigten) beständig steigt und 90 Prozent der neueingewanderten Menschen im erwerbsfähigen Alter (16-64 Jahren) sind, liegt die Erwerbstätigenquote bei 67,2 Prozent gegenüber 78,9 Prozent bei Deutschen ohne Migrationshintergrund. Arbeitslosigkeit von Migrantinnen und Migranten wird nicht gesondert in der Arbeitslosenstatistik erfasst. Es gibt aber Hinweise, dass sie häufiger arbeitslos sind, denn erfasst werden ausländische StaatsbürgerInnen in Deutschland. Im August 2024 betrug die Arbeitslosenquote insgesamt 6,1 Prozent, bei der Bevölkerung mit ausländischer Staatsbürgerschaft jedoch bei 15,3Prozent Prozent (vgl. Agentur für Arbeit 2024). Die Arbeitslosigkeit von jungen Migrantinnen und Migranten ist ebenfalls doppelt so hoch als bei Jugendlichen ohne Zuwanderungsgeschichte.

Mehr als jede dritte Reinigungskraft hat eine ausländische Staatsbürgerschaft. Auch im Bau- und Transportgewerbe, Paketzustelldienste oder in der Pflege – ohne Zuwanderung würde in vielen Branchen kaum noch etwas funktionieren. In einigen Berufen stellen ausländische Beschäftigte inzwischen die Mehrheit dar, zum Beispiel bei KöchInnen.  Kaum ausländische Beschäftigte findet man hingegen in der Justiz oder bei Notaren.

Migrantinnen und Migranten sind überproportional in der Leiharbeitsbranche und in atypischen Arbeitsverhältnissen beschäftigt.

Nach ihrer Ankunft in Deutschland haben noch die wenigsten Geflüchteten Arbeit. 

Entgegen der öffentlichen Meinung arbeiten immer mehr Geflüchteten, je länger sie sich in Deutschland aufhalten. 54 Prozent der ab 2016 nach Deutschland gekommenen Flüchtlinge haben einen Arbeitsplatz. Zweidrittel arbeiten in Vollzeit, 70 Prozent üben eine qualifizierte Tätigkeit aus. Allerdings arbeiten auch 41 Prozent unter ihrem ursprünglichen Ausbildungsniveau. Es zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen den Geschlechtern: so arbeiten 67 Prozent der Männer, aber nur 23 Prozent der Frauen. Hier besteht noch großer Handlungsbedarf. Der Anteil der Menschen, die staatliche Leistungen beziehen, sinkt (vgl. IAB-Kurzbericht 2023).

Für Geflüchtete aus der Ukraine zeigt sich ein anderes Bild: sie sind mehrheitlich arbeitslos und BezieherInnen von Bürgergeld. Die Integration in den Arbeitsmarkt gelingt nicht sehr schnell und ist von vielen Hemmnissen geprägt. Die Geflüchteten aus der Ukraine sind mehrheitlich Frauen, die sich vor allem um die Integration ihrer Kinder in das Bildungssystem kümmern müssen. Ihr meistens hohes Bildungsniveau wird unzureichend wertgeschätzt. Mit dem Ende des Jahres 2023 eingeführten Job-Turbo wird nun versucht, die Geflüchteten schnell in einen Job zu bringen (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 14.04.2024).

Anerkennung von Abschlüssen

Es gibt viele Bereiche, in denen ausländische Arbeitskräfte direkt arbeiten können. Für einige Berufe (zum Beispiel Ärztinnen und Ärzte, Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher) ist jedoch die Anerkennung der jeweiligen Abschlüsse erforderlich. Die unterschiedlichen Anerkennungsgesetze auf Bundes- und Landesebene und Bearbeitungszeiten werden häufig von Migrantinnen und Migranten als Geringschätzung ihrer beruflichen Kompetenzen empfunden. Anerkennungen erfolgen vor allem für Pflegekräfte, vergleichsweise wenig bei LehrerInnen. 

Armut

Migrantinnen und Migranten haben ein höheres Risiko, in Armut zu leben. Die Armutsgefährdungsquote lag im Jahr 2021 bei 28,6 Prozent bei ihnen und bei 12,5 Prozent bei Menschen ohne Migrationshintergrund (vgl. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/Tabellen/migrationshintergrund-armutsgefaehrdung.html). Ein höheres Armutsrisiko haben Menschen zum Beispiel, weil sie noch nicht so lange in Deutschland leben, wenig Deutschkenntnisse haben oder arbeitslos sind. Ein weiterer möglicher Grund ist, dass sie Diskriminierung am Arbeitsmarkt erleben.

Bildung

In den letzten Jahren wurde viele Maßnahmen umgesetzt, um die Zahl der Betreuungsplätze auszubauen und die Qualität der Betreuung zu erhöhen. Die bundesweite Betreuungsquote bei den drei- bis sechsjährigen Kindern ohne Migrationshintergrund liegt seit 2018 konstant bei 99 bis 100 Prozent, bei den gleichaltrigen Kindern mit Migrationshintergrund ist sie jedoch von 88 Prozent (2016) auf 78 Prozent (2022) gesunken. Sie sind zudem öfter in Kindertageseinrichtungen, in denen die pädagogische Qualität häufig niedriger ist mit den entsprechenden Folgen für den späteren schulischen Erfolg.

29 Prozent der Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen hatten 2023 eine Einwanderungsgeschichte, aber jedoch nur elf Prozent der Lehrkräfte. Jugendliche mit Migrationshintergrund besuchen noch immer überdurchschnittlich häufig Hauptschulen, wenn sie im Kinder- oder Jugendalter nach Deutschland gekommen sind.  36,9 Prozent der in Deutschland geborenen Jugendlichen mit Migrationshintergrund besuchen inzwischen ein Gymnasium (41,9 Prozent bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund).

Der Schulbesuch für geflüchtete Jugendliche ist komplizierter als für einheimische junge Menschen. Die Bundesländer entscheiden über die Art und Beginn des Schulbesuchs. Je nach Bundesland kann dies mehrere Monate dauern – wertvolle Zeit, die den Betroffenen bei Integration und Lernfortschritt fehlt. 2022 hatten 31,5 Prozent aller Studierenden an deutschen Hochschulen einen Migrationshintergrund. Studierende mit ausländischer Staatsangehörigkeit, die ihre Studienberechtigung in Deutschland erworben haben, brechen häufiger ihr Studium ab oder erzielen schlechtere Abschlüsse als deutsche Studierende. Hintergrund ist größtenteils die soziale Herkunft. Mehr als die Hälfte dieser Studierenden stammt aus einem bildungsfernen Elternhaus und erhält deshalb weniger finanzielle Unterstützung (vgl. Sachverständigenrat für Integration und Migration (2024): Ungleiche Bildungschancen).

Die Migrationsgesellschaft in Deutschland steht vor vielfältigen Herausforderungen.

Aufgrund des demographischen Wandels ist Deutschland  jährlich auf eine Netto-Einwanderung von 400.000 Personen angewiesen. Laut Prognosen des Kompetenzzentrums Fachkräftesicherung werden in den kommenden zehn Jahren ca. 7,2 Millionen Menschen aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Am stärksten von Fachkräftemangel betroffene Branchen sind:  Gesundheitsbranche, Elektro, Montage, IT.  Je größer die Engpässe in verschiedenen Branchen werden und der demographische Wandel zum Tragen kommt, desto wichtiger wird Zuwanderung von ausländischen Arbeitskräften.

Eine große Herausforderung stellt der fehlende Wohnraum für Menschen mit Migrationshintergrund dar. Menschen mit Migrationshintergrund verfügen im Verhältnis über weniger Wohnraum.

Gegenwärtig wird eine rasche Reduzierung der Anzahl von Geflüchteten in Deutschland gefordert. Es ist jedoch davon auszugehen, dass der überwiegende Teil der Geflüchteten in Deutschland bleiben wird. Zunehmend gerät das Asylrecht und die Gewährung von Sozialleistungen für Asylbegehrende unter Druck (vgl. Pelzer/Pichl 2024). Die ausgezahlten Sozialleistungen basieren auf einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes und gewährleisten in Bezug auf Artikel 1 GG (Unantastbarkeit der Würde des Menschen) die Gewährung des Existenzminimums.

Die Frage nach der gerechten Gestaltung von Migration stellt sich auf den unterschiedlichen Ebenen: von den Kommunen über die Staaten bis hin zu internationalen Organisationen. Es ist Zeit für eine ehrliche und zukunftsgewandte Beschäftigung mit Migration – fern von populistischer Angstmacherei, Vereinfachungen und Verzerrungen.

Literatur zum Weiterlesen:

  • Bundesagentur für Arbeit (2024): Ausländische Arbeitskräfte am deutschen Arbeitsmarkt. Berichte: Arbeitsmarkt kompakt/August 2024.
  • Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (2023): IAB-Kurzbericht 13/2023. Entwicklung der Arbeitsmarktintegration seit Ankunft in Deutschland.
  • Rappenglück, Stefan (2023): Deutschland als Migrationsgesellschaft: In: Forum Politikunterricht. FPU 2/2023, S. 22-27.
  • Sachverständigenrat für Integration und Migration (2024): Ungleiche Bildungschancen- Fakten zur Benachteiligung von jungen Menschen mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem.

Internetquellen:

 


Verfasst von:

Stefan Rappenglück

Professor an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin