Ausgabe: November-Dezember 2024
SchwerpunktGute Unternehmen belohnen
Gemeinwohl-Ökonomie: ein Impuls, kirchlich-wirtschaftliches Handeln zu verändern
Wie wäre es, wenn das Café am Stadtpark, die Familienbäckerei und der Schreiner in der Dorfstraße plötzlich erfolgreicher wirtschaften könnten als ihre großen Konkurrenten: die Schnellimbisskette, der Großbäcker und der Möbelriese mit seinen vielen Filialen?
Möglich wäre eine höhere Wirtschaftlichkeit, wenn diese kleinen Betriebe nachhaltiger, sozialer und fairer als ihre großen Konkurrenten wirtschaften und dafür vom Staat mit weniger Steuern und von den Banken mit günstigen Krediten belohnt würden – während ihre Konkurrenten, die Großbetriebe und Konzerne, wenn sie mit ihrer Wirtschaftweise die Umwelt zerstören und ihre Beschäftigten und Zulieferer schlecht behandeln und ausbeuten, mit höheren Steuern und Zinsen bestraft würden. Auf diese Weise hätten die kleineren Betriebe einen Vorteil gegenüber ihren großen Konkurrenten und am Markt eine Chance. Ein schönes Märchen, eine Utopie? Sicherlich aus heutiger Perspektive. Aber es könnte Wirklichkeit werden, wenn sich die Gemeinwohl-Ökonomie durchsetzt.
Alternative zu kapitalistischen Wirtschaftsweisen
Die Gemeinwohl-Ökonomie will eine Alternative zur bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsweise sein. Nicht die Bereicherung einiger weniger Unternehmensbesitzer oder Anteilseigner ist ihr Ziel, sondern ein gutes Leben für alle Menschen. Die Gemeinwohl-Ökonomie will eine ethische Marktwirtschaft sein, die auf Menschenwürde, Solidarität und Gerechtigkeit aufbaut, auf ökologischer Nachhaltigkeit, Transparenz und Mitbestimmung: also auf Werten, die sich in fast allen demokratischen Verfassungen finden.
Zurzeit haben diejenigen Unternehmen die größten Wettbewerbsvorteile, die möglichst billig wirtschaften, Mitarbeiter, Zulieferer und die Umwelt ausbeuten und die Umweltschäden, die sie anrichten, der Allgemeinheit zur Reparatur überlassen – während diejenigen, die die Umwelt schonen und Mitarbeiter und Zulieferer fair behandeln, dadurch höhere Kosten und geringere Chancen im Wettbewerb haben. Das sei schlichtweg ungerecht, unökologisch und fundamental widersinnig, sagt Christian Felber. Er ist Mitbegründer von Attac in Österreich, Autor und Initiator der 2010 ins Leben gerufenen Bewegung der Gemeinwohl-Ökonomie. Heute ist die ,Gemeinwohl-Ökonomie eine internationale Bewegung mit vielen Menschen, engagierten Unternehmen und Gemeinden. Im Zentrum steht ein Wirtschaftssystem, bei dem es in erster Linie um den Menschen und die Umwelt geht und nicht nur um den Profit. „Ethisches Verhalten muss sich lohnen", fordert Felber. Auch Profit hat in einer auf das Gemeinwohl ausgerichteten Wirtschaft seinen Platz, schließlich gilt weiterhin die Marktwirtschaft. Doch finanzieller Gewinn soll nicht mehr alleiniger Zweck sein, sondern lediglich ein Mittel.
Mit seiner Forderung nach einer anderen Wirtschaftsordnung steht Felber seit langem nicht allein da. 2010, wohl noch unter dem Eindruck der Weltfinanzkrise, wünschten sich nach einer Studie der Bertelsmann Stiftung 88 Prozent der Deutschen eine andere, gerechtere Wirtschaftsordnung. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam 2012 eine Umfrage des Meinungsforschungsinstitut Emnid: Acht von zehn Bundesbürgern wünschten sich danach eine neue Wirtschaftsordnung. Der Kapitalismus sorge weder für sozialen Ausgleich noch für den Schutz der Umwelt, hieß es.
Gemeinwohl als Erfolgsfaktor
Tatsächlich sagt die heutige wirtschaftliche Erfolgsmessung nichts darüber aus, ob hier ein Mehr an Gemeinwohl, Lebensqualität und Bedürfnisbefriedigung erzielt wurde oder es dadurch mehr Gerechtigkeit, Solidarität oder Nachhaltigkeit gibt. Gemessen wird das Geld: Der wirtschaftliche Erfolg einer Investition orientiert sich an ihrem finanziellen Rückfluss, der Erfolg eines Unternehmens an seiner Bilanz, der Erfolg einer Volkswirtschaft am Bruttoinlandsprodukt. Doch all diese Indikatoren sind finanzielle, monetäre Erfolgsindikatoren. Das Geld ist aber nur Mittel des Wirtschaftens. An diesem offensichtlichen Systemfehler setzt das Herzstück der Gemeinwohl-Ökonomie, die Gemeinwohl-Bilanz, an: Sie will dafür sorgen, dass das Geld nicht im Zentrum des Wirtschaftens steht, sondern eingesetzt wird, um ethisch zu investieren, ethisch zu produzieren, ethisch zu konsumieren und ethisches Verhalten zu belohnen.
Für Unternehmen heißt das: In der Gemeinwohl-Ökonomie werden sie nicht nur an ihrer Finanzbilanz, sondern auch an ihrer Gemeinwohl-Bilanz gemessen. In dieser Bilanz untersuchen Unternehmen, Gemeinden und Bildungseinrichtungen mit Hilfe eines Punktesystems, wieweit sie Menschenwürde, Umwelt und Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und Transparenz und Mitentscheidungen der Mitarbeiter in ihrem Handeln berücksichtigen. Die Werte werden dazu in Bezug auf Zulieferer, Eigentümer, Mitarbeiter, Kunden und den Nutzen der Gesellschaft gesetzt. Je besser der Einsatz für das Gemeinwohl ist, desto mehr Punkte bekommt eine Organisation. So wird für alle objektiv der Beitrag zum Gemeinwohl sichtbar: Konsumenten können sich beispielsweise bei Kaufentscheidungen daran orientieren. Eine Forderung der Gemeinwohl-Ökonomie ist etwa, dass Organisationen mit besserer Gemeinwohl-Bilanz Vorteile bekommen: dass sie zum Beispiel geringer besteuert werden, günstige Kredite erhalten oder bei öffentlichen Aufträgen bevorzugt werden. Ziel ist es, dass ökologische, ethische und regionale Produkte günstiger und attraktiver werden.
Folgt man diesem einfachen Prinzip, würde es sich schlichtweg nicht mehr lohnen, die Menschenwürde zu missachten, die Umwelt zu zerstören oder die Ungleichheit in der Gesellschaft für die Profite einiger weniger voranzutreiben. Sukzessive könnte auf diese Weise ein Wirtschaftssystem entstehen, in dem sich ein schonender Umgang mit unseren endlichen Ressourcen auszahlt – rücksichtsloses und ausbeuterisches Verhalten dagegen nicht. Ausbeutung aus wirtschaftlichen Gründen würde schon deshalb gebremst, weil dann höhere Steuern und Abgaben drohten. Die Gemeinwohl-Bilanz würde das Verhalten von Unternehmen für die Gesellschaft nachvollziehbar und transparent machen. Und aufgrund der Verpflichtung zu nachhaltigem, Ressourcen schonendem Produzieren könnten wir unseren Planeten retten.
Für gesellschaftliche Ziele einsetzen
Inzwischen erstellen bereits tausend Unternehmen in 35 Ländern eine Gemeinwohl-Bilanz und haben sich für gesellschaftliche Ziele, jenseits der bloßen Gewinnmaximierung, entschieden – darunter auch bekannte Unternehmen. Doch es braucht auch die Unterstützung durch die Politik, um eine Gemeinwohl-Ökonomie Wirklichkeit werden zu lassen. Ein Erfolg wurde 2015 erzielt, als der EU-Wirtschafts- und Sozialausschuss in einer Stellungnahme betonte, ,,dass das Gemeinwohl-Modell zu einem Wandel beitragen werde hin zu einem ,Europäischen Ethischen Markt', der soziale Innovationen fördert, die Beschäftigungsrate steigert und sich positiv auf die Umwelt auswirkt."
Die Kritik an einer Gemeinwohl-Bilanz prangert unter anderem den bürokratischen Aufwand an: Es müsste nicht nur für jedes Unternehmen eine Gemeinwohl-Bilanz erstellt, sondern auch die steuerlichen und gesellschaftlichen Vor- und Nachteile definiert werden, die sich daraus ergeben. Aber ist das ein hinreichendes Gegenargument? Muss nicht eher gefragt werden, ob ein Unternehmen dem Menschen, der Natur und dem Frieden nutzt? Trägt es zum allgemeinen Wohlstand der Gesellschaft bei oder wirkt es zerstörend? Die Schere zwischen Arm und Reich, die Klimakrise, und die Vertrauenskrise in Politik und Demokratie: Mit der Umwandlung des gegenwärtigen Wirtschaftssystems hin zu einer Gemeinwohl-Ökonomie könnten viele globale Probleme gemildert, vielleicht sogar gelöst werden.