Ausgabe: November-Dezember 2024
InterviewSolidarität statt Leistungsideologie
Soziale Gerechtigkeit im Wandel
Im Interview mit "Gemeinde creativ" spricht Christoph Butterwegge über die Transformation des Gerechtigkeitsbegriffs, die Auswirkungen neoliberaler Politik auf den sozialen Zusammenhalt und die entscheidende Rolle von Pfarrgemeinderäten und Kirchen im Einsatz für soziale Gerechtigkeit.
Redaktion "Gemeinde creativ": Das Thema soziale Gerechtigkeit ist in vielen Bereichen präsent. Können Sie uns einen Überblick über die Entwicklung des Gerechtigkeitsbegriffs in den letzten Jahrzehnten geben?
Christoph Butterwegge: Sehr gerne. Der Gerechtigkeitsbegriff hat sich in den vergangenen Jahrzehnten erheblich gewandelt. Früher war die Bedarfsgerechtigkeit zentral, was bedeutet, dass die Bedürfnisse der Menschen im Vordergrund standen. Heute spricht man eher von Leistungsgerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit und Generationengerechtigkeit. Diese Verschiebung spiegelt eine Veränderung der gesellschaftlichen Werte wider, bei der Freiheit und Eigenverantwortung stärker betont werden, während die soziale Gerechtigkeit und Gleichheit an Bedeutung verlieren. Diese Entwicklungen sind eng mit den ökonomischen und politischen Veränderungen verknüpft, die wir seit den 1980er Jahren beobachten können.
Sie erwähnen die Leistungsgerechtigkeit. Wie hat sich dieser Begriff entwickelt und was sind seine Konsequenzen?
Leistungsgerechtigkeit bedeutet, dass Belohnungen und Anerkennung auf individueller Leistung basieren sollten. Dieser Gedanke wurde in den 1990er Jahren von sozialdemokratischen Modernisierern wie Tony Blair, Bill Clinton und Gerhard Schröder popularisiert. Sie propagierten eine Gesellschaft, in der jeder durch eigene Leistung aufsteigen kann, während sie gleichzeitig akzeptierten, dass die Einkommensunterschiede größer werden. Diese neoliberale Ideologie hat allerdings zur Folge, dass soziale Ungleichheit als unvermeidlich oder gar als positiv für die wirtschaftliche Dynamik betrachtet wird. Indem man die Menschen auf ihre Leistung und Eigenverantwortung reduziert, wird die strukturelle Ungerechtigkeit des Systems verdeckt.
Kritiker wie Michael J. Sandel argumentieren, dass die neoliberale Leistungsideologie zersetzend auf die Gemeinschaft wirkt. Wie sehen Sie das?
Ich teile diese Ansicht. Sandel argumentiert, dass, je mehr wir uns für eigenverantwortlich und autark halten, es desto unwahrscheinlicher ist, dass wir uns um das Schicksal der weniger Begünstigten kümmern. Wenn man glaubt, dass der eigene Erfolg allein auf eigener Leistung beruht, wird das Scheitern anderer als deren persönliche Schuld angesehen. Das schwächt den sozialen Zusammenhalt und führt zu einer Spaltung der Gesellschaft. Zudem führt diese Denkweise dazu, dass Solidarität und Mitgefühl in den Hintergrund treten. Ein weiteres Problem ist, dass die Verlierer in diesem System zunehmend stigmatisiert und ausgegrenzt werden.
Was bedeutet das für die sozialpolitischen Maßnahmen und die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates?
Das Gerechtigkeitsverständnis beeinflusst direkt die Sozialgesetzgebung. Neoliberale suchen den Sozialstaat zu „verschlanken“ und die Verantwortung stärker auf jeden Einzelnen abzuwälzen. Distributive und Bedarfsgerechtigkeit spielen dabei kaum noch eine Rolle. Dies führt dazu, dass soziale Ungleichheiten verstärkt und gerechtfertigt werden, anstatt sie zu bekämpfen. Diese Entwicklung spiegelt sich in zahlreichen Reformen der Sozialsysteme wider, die darauf abzielen, staatliche Leistungen zu reduzieren und private Vorsorge zu stärken.
Was sind Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen für die soziale Gerechtigkeit heute?
Die größten Herausforderungen liegen in der zunehmenden sozialen Ungleichheit und der Erosion des Solidaritätsprinzips. Die Fixierung auf Leistung und Eigenverantwortung führt dazu, dass soziale Sicherungssysteme geschwächt werden und Menschen in prekären Lebenssituationen weniger Unterstützung erhalten. Es ist wichtig, dass wir als Gesellschaft wieder stärker auf Solidarität statt auf Ellbogenmentalität setzen und die Bedürfnisse der Menschen statt den Markt oder den „Wirtschaftsstandort“ in den Mittelpunkt rücken. Eine weitere Herausforderung besteht darin, die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Globalisierung und Digitalisierung gerecht zu gestalten.
Wie können Pfarrgemeinderäte und Kirchen zu mehr sozialer Gerechtigkeit beitragen?
Pfarrgemeinderäte und Kirchen haben eine Schlüsselrolle als soziale Akteure der Zivilgesellschaft. Sie können durch ihre Arbeit Bewusstsein schaffen, für soziale Gerechtigkeit eintreten und konkrete Hilfsangebote schaffen. Durch Bildungsarbeit, sozialpolitisches Engagement und Unterstützung benachteiligter Menschen können sie einen wichtigen Beitrag leisten, um soziale Ungleichheiten zu verringern und den sozialen Zusammenhalt zu stärken. Kirchen können auch als Plattformen für den Dialog und die Vernetzung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen dienen. Hierbei ist es wichtig, dass die Pfarrgemeinden vor Ort aktiv werden und sich für die Bedürfnisse ihrer Mitglieder einsetzen.
Welche Rolle spielen Bildung und Chancengleichheit in diesem Kontext?
Bildung ist ein zentraler Faktor für Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit. Ein gerechtes Bildungssystem muss sicherstellen, dass alle Kinder und Jugendlichen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft die gleichen Bildungschancen haben. Das bedeutet unter anderem, dass frühkindliche Bildung gestärkt, Ganztagsschulen ausgebaut sowie benachteiligte Schülerinnen und Schüler gezielt gefördert werden. Auch muss die Durchlässigkeit des Bildungssystems erhöht werden, damit Bildungserfolge nicht von der sozialen Herkunft abhängen. Kirchen und Pfarrgemeinden können Bildungsinitiativen unterstützen und dazu beitragen, dass alle Kinder und Jugendlichen Zugang zu hochwertigen Bildungsangeboten haben.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland?
Ich wünsche mir, dass soziale Gerechtigkeit wieder zu einem zentralen Thema der politischen und gesellschaftlichen Debatte wird. Es ist wichtig, dass wir als Gesellschaft anerkennen, dass Gerechtigkeit weniger eine Frage der individuellen Leistung ist, als dass strukturelle Rahmenbedingungen eine große Rolle spielen. Es braucht einen gesellschaftlichen Konsens darüber, dass soziale Gerechtigkeit ein Grundwert ist, der unser Zusammenleben prägt. Nur so können wir eine Gesellschaft schaffen, in der alle Menschen die gleichen Chancen haben und in Würde leben können. Kirchen und Pfarrgemeinden können hierbei als Triebkraft wirken und durch ihr Handeln ein Beispiel für gelebte Solidarität und Gerechtigkeit setzen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrte von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Er ist bekannt für seine kritischen Analysen des Neoliberalismus und seine Studien zur sozialen Gerechtigkeit. Butterwegge hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter zuletzt „Deutschland im Krisenmodus“ und „Umverteilung des Reichtums“. Seine Forschungsschwerpunkte sind Armut, Ungleichheit und die sozialen Auswirkungen wirtschaftlicher Prozesse.