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Ausgabe: November-Dezember 2024

Schwerpunkt

Soziale Gerechtigkeit

Das Empfinden für (Un-)Gerechtigkeiten beginnt schon sehr früh. Konflikte müssen geschlichtet werden, Güter getauscht, Bedürfnisse gerecht befriedigt werden. Foto: MASTER1305 / Adobe stock

Das klassische Dreieck der Aristotelischen Gerechtigkeitstheorie

„Gerechtigkeit“ gehört zu den häufigsten Leitbegriffen im Kompendium der Soziallehre der Kirche (2004). Sie wird als Zusammenfassung der Botschaft des Evangeliums gebraucht und eng mit dem Anspruch von barmherziger Liebe verbunden. Bei Zunahme von Ungleichheiten wird der Stellenwert der Gleichheit immer bedeutender.

Die Katholische Soziallehre ist durch den Begriff „Soziale Gerechtigkeit“ geprägt. Dieser nimmt auf das klassische Konzept der Gerechtigkeitstheorie ist von Aristoteles und Thomas von Aquin Bezug (Aristoteles, Nikomachische Ethik [NE]; Thomas v. Aquin, Summa Theologiae II-II).

In einer ersten Annäherung bezeichnet Aristoteles denjenigen als gerecht, der die Gesetze und die gleichmäßige Verteilung der Güter achtet. Er unterscheidet zwischen Legal-, Tausch- und Verteilungsgerechtigkeit. Gerechtigkeit verlange, Gleiche gleich und Ungleiche ungleich zu behandeln. Sie bezeichne „ein Handeln, welches den Zweck hat, das Glück sowie dessen Komponenten für das Gemeinwesen hervorzubringen“ (NE 1129b). Sie ist nicht ein partikulärer Wert, sondern „Werthaftigkeit in ihrem ganzen Umfang“ (NE 1130a).

Da das Gesetz aufgrund seiner Allgemeinheit dem Einzelnen nie vollständig gerecht werden kann, bedarf seine humane Handhabung der Epikie, also situationsbezogener Abwägung (auch als „Billigkeit“ oder „Güte in der Gerechtigkeit“ übersetzt). Demnach ist die individuelle Zuwendung zum Nächsten ein wichtiges Element der Gerechtigkeit, ohne dass die gesetzliche Standardisierung kalt werden kann. „Gerechtigkeit in Güte“ ist eine „Moral des Hinsehens“ (Wolfgang Kersting) auf die spezifische Bedürfnis- und Konfliktsituation. Wer der Einmaligkeit des Menschen gerecht werden will, muss über die Allgemeinheit gesetzlicher Gleichheit auch das individuell Besondere der sozialen Kontexte berücksichtigen.

„Soziale Gerechtigkeit“ in der katholischen Soziallehre

Die aristotelisch-thomistische Konzeption von Gerechtigkeit hat die katholische Soziallehre grundlegend geprägt. Sie wurde in der Tradition zu einem übersichtlichen Dreiecksschema geordnet: Es gibt Pflichten der Gesellschaftsmitglieder untereinander (Tauschgerechtigkeit), Pflichten des Staates gegenüber den Bürgern (Verteilungsgerechtigkeit) und Pflichten der Bürger gegenüber dem Staat (Legalgerechtigkeit). Damit war ein umfassendes Ordnungsschema gegeben. Dieses verlor im Rahmen der neuzeitlichen Umbruchprozesse jedoch seine Eindeutigkeit. Umstritten war und ist vor allem die Verteilungsgerechtigkeit, die im Unterschied zu den anderen Formen mit einem Kriterienproblem behaftet ist. Lange galt die Ständegesellschaft als Bezugsrahmen, um zu bemessen, was das jeweils Angemessene sei: Mit der Maxime „jedem das Seine“ wurde die radikale Gleichheitsforderung der Französischen Revolution weitgehend abgelehnt.

Gerechtigkeit wird in der Enzyklika Quadragesimo anno (1931) mit dem Adjektiv „sozial“ versehen. Der Begriff „soziale Gerechtigkeit“ ist aber viel älter: Er wurde zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Italien geprägt (Luigi Taparelli; Antonio Rosmini). Oswald von Nell-Breuning bestimmt sie als dynamische Form der Gemeinwohlgerechtigkeit, die sich in ihrer Konzeption gegen eine fertig dastehende Gesellschaftsordnung wende. Gemeinwohl sei dabei keine feststehende Größe, sondern ein Dienstwert, hingeordnet auf die strukturellen Bedingungen für das Wohl des Individuums. Soziale Gerechtigkeit meint die im gesellschaftlichen Miteinander verwurzelten Normen der Gerechtigkeit, also die Gesamtheit der anthropologisch stimmigen Regeln des Zusammenlebens und der Interaktion. Sie meint nicht eine Einschränkung auf den Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit, wie es später und bis heute oft missverstanden wird, sondern umfasst die legale, distributive und kommutative Gerechtigkeit zugleich (so Joseph Höffner).

 „Gerechtigkeit“ gehört zu den häufigsten Leitbegriffen im Kompendium der Soziallehre der Kirche (2004). Sie wird als Zusammenfassung der Botschaft des Evangeliums gebraucht und eng mit dem Anspruch von barmherziger Liebe verbunden. Friede wird als Frucht der Gerechtigkeit bezeichnet. Fast immer wird in politisch-strukturellen Zusammenhängen von „sozialer Gerechtigkeit“ gesprochen. Soziale Gerechtigkeit gilt als Schlüssel der Soziallehre.

Zum Stellenwert von Gleichheit

Die aristotelisch-thomistische Konzeption von Gerechtigkeit hat die katholische Soziallehre grundlegend geprägt. Sie wurde in der Tradition zu einem übersichtlichen Dreiecksschema geordnet: Es gibt Pflichten der Gesellschaftsmitglieder untereinander (Tauschgerechtigkeit), Pflichten des Staates gegenüber den Bürgern (Verteilungsgerechtigkeit) und Pflichten der Bürger gegenüber dem Staat (Legalgerechtigkeit). Damit war ein umfassendes Ordnungsschema gegeben. Dieses verlor im Rahmen der neuzeitlichen Umbruchprozesse jedoch seine Eindeutigkeit. Umstritten war und ist vor allem die Verteilungsgerechtigkeit, die im Unterschied zu den anderen Formen mit einem Kriterienproblem behaftet ist. Lange galt die Ständegesellschaft als Bezugsrahmen, um zu bemessen, was das jeweils Angemessene sei: Mit der Maxime „jedem das Seine“ wurde die radikale Gleichheitsforderung der Französischen Revolution weitgehend abgelehnt.

Gerechtigkeit wird in der Enzyklika Quadragesimo anno (1931) mit dem Adjektiv „sozial“ versehen. Der Begriff „soziale Gerechtigkeit“ ist aber viel älter: Er wurde zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Italien geprägt (Luigi Taparelli; Antonio Rosmini). Oswald von Nell-Breuning bestimmt sie als dynamische Form der Gemeinwohlgerechtigkeit, die sich in ihrer Konzeption gegen eine fertig dastehende Gesellschaftsordnung wende. Gemeinwohl sei dabei keine feststehende Größe, sondern ein Dienstwert, hingeordnet auf die strukturellen Bedingungen für das Wohl des Individuums. Soziale Gerechtigkeit meint die im gesellschaftlichen Miteinander verwurzelten Normen der Gerechtigkeit, also die Gesamtheit der anthropologisch stimmigen Regeln des Zusammenlebens und der Interaktion. Sie meint nicht eine Einschränkung auf den Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit, wie es später und bis heute oft missverstanden wird, sondern umfasst die legale, distributive und kommutative Gerechtigkeit zugleich (so Joseph Höffner).

 „Gerechtigkeit“ gehört zu den häufigsten Leitbegriffen im Kompendium der Soziallehre der Kirche (2004). Sie wird als Zusammenfassung der Botschaft des Evangeliums gebraucht und eng mit dem Anspruch von barmherziger Liebe verbunden. Friede wird als Frucht der Gerechtigkeit bezeichnet. Fast immer wird in politisch-strukturellen Zusammenhängen von „sozialer Gerechtigkeit“ gesprochen. Soziale Gerechtigkeit gilt als Schlüssel der Soziallehre.

Zum Stellenwert von Gleichheit

Im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Debatte um (soziale) Gerechtigkeit steht die Frage, welchen Stellenwert das Gleichheitspostulat haben soll. Die Zunahme der Ungleichheit (vor allem gemessen am Vermögen, global und in Deutschland) wird von vielen als entscheidendes Indiz für eine strukturelle Ungerechtigkeit des Kapitalismus angesehen. Andere (die sogenannten „Nonegalitaristen“) sehen in der Fixierung auf Gleichheitspostulate den Ausgangspunkt für eine Vernachlässigung von Freiheit, Eigenverantwortung, Komplexität und Vielfalt. Gleichheit sei kein Eigenwert, sondern ein Nebenprodukt fairer Regeln.

Mir scheint, dass eine Gerechtigkeitstheorie, die auf Gleichheit als Maßstab verzichtet, normativ stumpf wird. Jede Beziehung zwischen Menschen braucht eine bestimmte Art von Gleichheit, sei es die Gleichheit vor dem Gesetz oder die Gleichheit der Chancen in einer Interaktion des Wettbewerbs (sonst ist es kein Leistungsvergleich, sondern lediglich eine Machtdemonstration des Dominierenden). Auch die Erkenntnis, dass andere Menschen die gleichen Grundbedürfnisse haben und allen Unterschieden eine fundamentale Gleichheit im Menschsein voraus liegt, gehört zu den Grunderfahrungen des Menschen, die einen unmittelbaren Anspruch an uns stellen. Aus christlicher Sicht begründet die Gottebenbildlichkeit des Menschen eine umfassende Gleichheit.

Den drei Dimensionen der sozialen Gerechtigkeit liegt also eine je eigene Art von Gleichheit zugrunde:

-   Gleichheit vor dem Gesetz, also transparente, für alle gleiche Regeln und Verfahren der Streitschlichtung (Legalgerechtigkeit),

-   Gleichwertigkeit der Güter, die getauscht werden, wobei Geld als wichtigstes Tauschmittel gilt, was aber für viele Bereiche unangemessen ist (Tauschgerechtigkeit) und

-   Gleichheit der Grundbedürfnisse des Menschen, so dass beispielsweise ein Arzt nicht nach dem Kriterium der Zahlungsfähigkeit des Patienten behandeln sollte, sondern danach, wer die dringlichste Bedürftigkeit hat, egal wer es ist (Verteilungsgerechtigkeit).

Der Fehler des egalitären Gerechtigkeitsverständnisses liegt darin, dass man die Gleichheit entweder nur inhaltlich-ergebnisorientiert auf den Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit bezogen hat (Sozialismus) oder nur formal auf Regeln im Wettbewerb (Kapitalismus bzw. Teile des Liberalismus). Aus christlicher Sicht ist es wichtig, sowohl die Freiheit und Differenz der Menschen als auch ihre Sozialverpflichtung und den Schutz der Schwachen im Blick zu haben. Ich vertrete deshalb ein Konzept der differenzbewussten Gleichheit. Soziale Gerechtigkeit zielt demnach nicht auf eine pauschale Nivellierung von Unterschieden, sondern die Ermöglichung von Interaktion durch kontextspezifische Gleichheit. Ihre konsequente Anwendung in Kirche, Wirtschaft, Justizwesen und Politik hätte Sprengkraft und könnte wesentlich zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen. Soziale Gerechtigkeit braucht mehr Gleichheit durch konsequente Rechtsstaatlichkeit, chancengerechte Umverteilung und fairen Wettbewerb.


Verfasst von:

Markus Vogt

Professor für Christliche Sozialethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München