Ausgabe: März-April 2025
Interview„Jugendarbeit ist eine Investition in unsere Demokratie“
Diversität, Finanzierungsfragen und die Zukunft der Jugendarbeit
Jugendarbeit steht vor großen Herausforderungen: Die Bedürfnisse junger Menschen sind vielfältiger denn je, während Ressourcen oft knapp sind. Maria-Theresia Kölbl vom Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) und Philipp Seitz vom Bayerischen Jugendring (BJR) sprechen mit Gemeinde creativ über Gemeinschaft, Engagement und warum Jugendarbeit ein unverzichtbarer Teil der Gesellschaft bleibt.

Maria-Theresia Kölbl. Foto: Daniel Köberle

Philipp Seitz. Foto: Bayerischer Jugendring
Gemeinde creativ: Frau Kölbl, Herr Seitz, was sind die größten Sorgen und Hoffnungen junger Menschen heute?
Maria-Theresia Kölbl: „Die Jugend gibt es nicht mehr“ – das hören wir aus vielen Studien, und es stimmt. Junge Menschen sind heute unglaublich divers, ihre Bedürfnisse und Sorgen variieren stark. Was sich aber durchzieht, ist eine tiefe Ambivalenz: Einerseits erleben wir bei Jugendlichen eine wachsende Unsicherheit, verstärkt durch Krisen wie die Pandemie oder den Klimawandel. Andererseits zeigen Projekte wie die 72-Stunden-Aktion, dass sie voller Hoffnung und Engagement sind, wenn sie Unterstützung bekommen.
Philipp Seitz: Studien wie die Shell-Jugendstudie zeigen, dass Sicherheit der zentrale Wert für viele junge Menschen ist. Krisen wie die Corona-Pandemie oder der Krieg in der Ukraine haben Spuren hinterlassen, aber die Mehrheit blickt dennoch optimistisch in die Zukunft. Unsere Aufgabe in der Jugendarbeit ist es, ihnen Räume zu bieten, in denen sie sich sicher fühlen und wachsen können – sowohl als Individuen wie auch als Gemeinschaft.
Welche Rolle spielen diese Krisen für die Jugendarbeit?
Kölbl: Diese Krisen bringen neue Herausforderungen. In der Kirche merken wir beispielsweise, dass die Themen, die früher zentral waren, bei vielen Jugendlichen nicht mehr die gleiche Resonanz finden. Die Bindung an konfessionelle Strukturen nimmt ab, aber die Suche nach Gemeinschaft bleibt. Es ist unsere Aufgabe, diese Gemeinschaft zu schaffen, unabhängig von den religiösen Hintergründen.
Seitz: Ich sehe das ähnlich. Die Unsicherheit durch Krisen macht viele junge Menschen offener für klare Strukturen und Orientierung, gleichzeitig aber auch anfälliger für extremistische Positionen. Das ist eine Gratwanderung, bei der wir in der Jugendarbeit Räume schaffen müssen, in denen demokratische Werte gelebt und vermittelt werden können.
Wie schafft die Jugendarbeit es, auf diese Vielfalt zu reagieren?
Kölbl: Die Vielfalt in der katholischen Jugendarbeit ist eine große Stärke. Wir haben viele Jugendverbände, die unterschiedliche Ausrichtungen bieten, von Pfadfinderarbeit bis hin zu politischem Engagement. Trotzdem teilen alle die gleichen Grundwerte. Das ist unsere „Einheit in der Vielfalt“. Gleichzeitig sehen wir aber, dass die konfessionelle Bindung bei Jugendlichen schwindet. Das stellt uns vor neue Herausforderungen.
Seitz: Im Bayerischen Jugendring sind wir überkonfessionell aufgestellt, was es uns erleichtert, junge Menschen aus allen Milieus anzusprechen. Aber auch wir merken, dass es nicht einfach ist, alle zu erreichen. Jugendliche aus sozial schwächeren Kontexten oder mit Migrationshintergrund haben oft weniger Zugang zu unseren Angeboten. Deshalb müssen wir besonders niedrigschwellige Formate entwickeln, wie unser „Digital Streetwork“-Projekt, das junge Menschen online abholt.
Wo liegen die größten Probleme bei der Finanzierung der Jugendarbeit?
Seitz: Viele unserer Ressourcen gehen in die Akquise von Geldern statt in die inhaltliche Arbeit. Es ist ein Teufelskreis: Ohne finanzielle Mittel können wir keine hauptamtlichen Kräfte anstellen, die die Arbeit vor Ort koordinieren und Ehrenamtliche unterstützen. Die Inflation und steigende Kosten verschärfen das Problem zusätzlich.
Kölbl: In der Kirche spüren wir den Personalmangel ebenfalls. Hauptamtliche werden weniger, weil es nicht genug finanzierte Stellen gibt. Dabei brauchen wir Menschen, die langfristig Strukturen aufbauen und sicherstellen, dass Gruppen vor Ort funktionieren. Es geht nicht nur um Freizeitangebote, sondern um Wertevermittlung und demokratische Bildung.
Was bedeutet das konkret für die Arbeit vor Ort?
Seitz: Wenn wir an den Ressourcen sparen, sparen wir an den Jugendlichen. Das zeigt sich in vielen Bereichen, ob bei der psychischen Gesundheit, der Bildung oder der Integration. Jugendarbeit ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit.
Kölbl: Absolut. Wir erleben es häufig, dass Jugendliche in der Jugendarbeit ihre ersten Erfahrungen mit Verantwortung und Selbstständigkeit machen. Diese Erfahrungen prägen sie ein Leben lang. Wenn wir diese Möglichkeiten einschränken, verlieren wir eine ganze Generation an Potenzial.
Welche Rolle spielt Jugendarbeit für die Demokratie?
Kölbl: Jede Gruppenstunde ist gelebte Demokratie. Jugendliche lernen, Entscheidungen zu treffen und sich in der Gemeinschaft zu behaupten. Es geht um Selbstorganisation, Verantwortung und den respektvollen Umgang mit unterschiedlichen Meinungen. Gerade in Zeiten, in denen das Vertrauen in die Politik schwindet, zeigt Jugendarbeit, wie wichtig Mitbestimmung ist.
Seitz: Wir sprechen oft von Jugendarbeit als „Werk- und Wirkstätte der Demokratie“. Die Jugendarbeit schafft Räume, in denen junge Menschen Demokratie nicht nur lernen, sondern leben. Das stärkt nicht nur die Jugendlichen selbst, sondern unsere Gesellschaft insgesamt.
Wie sieht die Jugendarbeit in zehn Jahren aus?
Kölbl: Die Strukturen werden sich verändern. Langfristiges Engagement wird seltener, stattdessen dominieren projektbasierte Formate. Das bedeutet aber auch, dass wir flexibler werden müssen. Unsere Aufgabe bleibt es, Räume zu schaffen, in denen Jugendliche ihre Ideen und Talente einbringen können.
Seitz: Ich stimme zu. Die Herausforderung wird sein, Strukturen so zu gestalten, dass sie projektorientiertes Engagement ermöglichen, ohne die Strukturen der Jugendarbeitsinstitutionen zu gefährden. Unstrittig ist, dass Jugendarbeit auch in zehn Jahren essenziell wichtige lebensprägende Erfahrungen ermöglichen und Gemeinschaft stiften wird.
Gibt es Formate, die sich bewährt haben, oder Beispiele für Innovationen in der Jugendarbeit?
Kölbl: Zeltlager sind ein Klassiker, der seit Jahrzehnten funktioniert. Es ist beeindruckend, wie diese Formate Jugendliche immer wieder begeistern. Gleichzeitig sehen wir, dass Veranstaltungen mit Eventcharakter, wie Weltjugendtage, großen Zulauf haben.
Seitz: Was ebenfalls gut funktioniert, ist die Einbindung Jugendlicher in die Planung. Als wir ein Festival organisierten, bei dem Jugendliche die Hauptverantwortung trugen, kamen mehr als 700 Teilnehmende. Dieses Mitspracherecht motiviert enorm.
Zum Abschluss: Was ist Ihre persönliche Vision für die Jugendarbeit?
Kölbl: Ich wünsche mir, dass Jugendarbeit weiterhin ein Ort bleibt, an dem junge Menschen Gemeinschaft und Sinn erleben können. Es geht darum, ihnen zu zeigen, dass sie gebraucht werden.
Seitz: Für mich ist Jugendarbeit unverzichtbar. Sie ist nicht nur ein Raum der Gemeinschaft, sondern eine Investition in die Demokratie. Junge Menschen lernen hier Werte, die sie ein Leben lang begleiten.
Vielen Dank für das Interview!
Maria-Theresia Kölbl (34) engagiert sich seit ihrer Jugend für die katholische Jugend(verbands)arbeit - seit 2007 ehrenamtlich beim BDKJ und seit 2021 hauptamtlich beim BDKJ Bayern als geistliche Verbandsleiterin. Seit 2022 ist sie für den BDKJ in den Geschäftsführenden Ausschuss des Landeskomitee gewählt. Ihr liegen besonders die Jugendpastoral und die Partizipation von Kindern und Jugendlichen am Herzen.
Philipp Seitz (32) ist seit 2023 Präsident des Bayerischen Jugendrings. Er übte zuvor zahlreiche Ehrenämter auf der Orts-, Kreis-, Bezirks- und Landesebene aus. So engagierte er sich bis zur BJR-Präsidentschaft zehn Jahre lang als Vorsitzender des Stadtjugendrings Regensburg und sechs Jahre lang als Vorsitzender des Bezirksjugendrings in der Oberpfalz. Schwerpunkte seines Engagements war stets die wirksame Beteiligung junger Menschen, Demokratiebildung und eine bedarfsgerecht ausgestattete Jugendarbeit.
Weitere Informationen zum Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) Bayern finden Sie hier.
Weitere Informationen zum Bayerischen Jugendring finden Sie hier.
Verfasst von:
Alexandra Hofstätter und Hannes Bräutigam
Geschäftsführerin des Landeskomitees; Redaktionsleiter