Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: März-April 2025

Schwerpunkt

Spirituelle Intelligenz als Erziehungsziel

Pädagogische Perspektiven

Im Zentrum der Pädagogik steht der Mensch. Die Förderung seiner spirituellen Intelligenz ist auf allen pädagogischen Handlungsfeldern das wichtigste Bildungs- und Erziehungsziel, damit Kinder und Jugendliche ihr Leben selbstbestimmt gestalten lernen. Daraus ergeben sich die existenziellen Haltungen Glaube, Ehrfurcht und Demut.

Mehr als Glaube: Ehrfurcht vor Gott ist eine Haltung des Menschen zu sich selbst, zu seiner Um- und Mitwelt sowie zum Unverfügbaren. Sie ist die Voraussetzung, um unsere Zukunft verantwortungsbewusst und nachhaltig zu gestalten. Foto: Verlag Waxmann

Um aus erziehungswissenschaftlicher Sicht spirituelle Intelligenz als Bildungs- und Erziehungsziel zu begründen, muss man zunächst nach dem Wesen des Menschen fragen: Was bildet den Kern seiner Existenz und worin besteht ein erfülltes Leben? Nach einer Betrachtung der aktuellen Lebenssituation junger Menschen stellt sich die Frage, wie Familie, Schule und Jugendarbeit Kinder und Jugendliche in diesem Prozess pädagogisch unterstützen können, um Ehrfurcht, Demut und Glaube als Haltungen zu begründen, die helfen, den Herausforderungen des Lebens stark und resilient zu begegnen. 

Der Mensch als Wesen der Sinnsuche

Während in der aktuellen Bildungsdiskussion vor allem Ressourcen und Strukturen im Mittelpunkt stehen, gerät der Mensch zunehmend aus dem Blick. Aus der pädagogischen Anthropologie wissen wir um die Erziehungsbedürftigkeit, aber auch Bildungsfähigkeit des Menschen. Versteht man Bildung als Lebenshilfe, müssen alle pädagogischen Maßnahmen darauf ausgerichtet sein, die Entwicklung junger Menschen zu selbstbestimmten und verantwortungsbewussten Wesen zu unterstützen. Erziehung ist Bildungshilfe – ob in der Familie, in der Kita oder in der Schule. Dabei geht es um mehr als vom Wissen und Können – im Fokus stehen Herz und Charakter (vgl. Art. 131 Abs. 1 Bayerische Verfassung). Damit ist weit mehr gemeint als Werteerziehung. Auch Kinder suchen nach dem Sinn des Lebens. Die manchmal nie endende Frage „Warum?“ zeigt, dass Menschen sich nicht mit dem rationalen Zweck ihres Handelns zufriedengeben, sondern nach dem transzendenten Sinn suchen. Im Unterschied zum Tier sind wir selbstreflexive Wesen, die sich über die Triebe und Grundbedürfnisse hinaus nach dem Unverfügbaren sehnen, ohne es je in den Begriff zu bekommen. So verstanden wird Religiosität noch vor Glaube oder Kirchenzugehörigkeit zum Alleinstellungsmerkmal des Menschen. Der Mensch findet nur zu sich und zu anderen und ist nur dann zu nachhaltigem Lebensglück fähig, wenn er in eine Beziehung zum Absoluten tritt – diese Fähigkeit und Offenheit nennen wir „spirituelle Intelligenz“. Diese zu fördern muss in Bildung und Erziehung endlich als Kernauftrag verstanden werden, der aktueller ist denn je, und weit wichtiger als Künstliche Intelligenz und digitale Bildung.

Kindheit in der Krise

„Für die Teenager heute sind Krisen der Normalzustand“, stellt Marc Calmbach, Geschäftsführer des SINUS-Instituts, fest, das seit 2008 alle vier Jahre in seiner gleichnamigen Studie Interviews mit Jugendlichen zwischen 14 bis 17 Jahren auswertet, um deren Werte und Lebensweisen zu erfassen. Calmbach beobachtet, „dass der typische jugendliche Hedonismus zunehmend abflacht. Die Jugend ist ernster geworden und hat ein größeres Problembewusstsein“. Dieser Befund passt zum Terminus „Generation Angst“, den der US-amerikanische Sozialpsychologe Jonathan Haidt geprägt hat und mit dem er die rapide verschlechterte mentale Gesundheit der Kinder und Jugendlichen charakterisiert, die sich in Depressionen, Angststörungen, selbstverletzendem Verhalten und Suiziden zeigt, wie auch in zahlreichen Erhebungen, etwa der Krankenkassen, belegt ist; er weist dabei einen kausallogischen Zusammenhang mit den seit 2010 dominierenden technologischen Megatrends Smartphones, Social Media und Selfie-Kultur nach. Bemerkenswert ist, dass der Atheist Haidt als Sozialwissenschaftler diagnostiziert: „Das smartphonebasierte Leben erzeugt eine spirituelle Degradierung, nicht nur bei den Heranwachsenden, sondern bei uns allen“.

Spirituelle Intelligenz als Bildungsziel

„Spiritualität“ ist ein schillernder Mode- und Containerbegriff, den  gerade die empirische Bildungsforschung wegen seiner Unschärfe meidet. Als Schulpädagogen erkennen wir darin jedoch eine anthropologische Basiskategorie, die das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, seiner Mit- und Umwelt sowie dem ganzen Universum umschreibt. Haidt spannt den sozialen Raum des Menschen in drei Dimensionen auf, in dem neben Nähe (x-Achse), Hierarchie (y-Achse) die Göttlichkeit die z-Achse bildet, womit – unabhängig von der Existenz – Gottes das zeit- und kulturübergreifende Phänomen bezeichnet wird, dass tugendhaftes Handeln jemanden näher zu Gott erhebt, während unedles, eigennütziges oder abstoßendes Handeln jemanden nach unten bringt, weiter weg von Gott und manchmal näher zu einer Antifigur wie dem „Teufel“. Dabei ist Spiritualität immer mit existenziellen Erfahrungen verknüpft, die in der Familie grundgelegt, aber auch in anderen pädagogischen Handlungsfeldern angebahnt, eingeübt und vertieft werden können, die Thomas Steinfurth so zusammenfasst: Getragen-Sein, Getröstet-Sein; Verbunden-Sein; Orientiert-Sein; Bewegt- und Begeistert-Sein, Ehrfürchtig und Liebevoll-Sein.

Spirituelle Intelligenz ist im Sinne der Studien von Howard Gardner zur multiplen Intelligenz eine zentrale Dimension menschlichen Lebens, deren Förderung eine Kernaufgabe von Eltern, Lehrern, Erziehern und Seelsorgern ist. Es handelt sich um das Potential eines Menschen, das er im Laufe seines Lebens in altersgerechter Weise entfalten kann, um im Kontext lebenslanger Bildung den Herausforderungen seines Lebens sowie seiner Mitmenschen und des ganzen Universums gerecht zu werden. Als universaler Begriff bringt er eine Abstraktheit mit sich, die nun als pädagogische Tugenden operationalisiert werden müssen.

Ehrfurcht, Demut und Glaube

Ehrfurcht kann wie ein Mittel gegen exzessive und giftige Selbstbezogenheit wirken“, formulierten   Psychologen der University California, Irvine, im Fachjournal „Current Opinion in Psychology“ in einem Beitrag über die Wirkung des Gefühls der ehrfürchtigen Ergriffenheit; sie kann ausgelöst werden durch beeindruckende existenzielle Erfahrungen wie Liebe, Natur, Musik, Kunst oder wissenschaftliche Erkenntnisse, die alltägliche Erfahrungsmodelle und traditionelle mentale Muster sprengen. So ist auch das in der Bayerischen Verfassung formulierte oberste Bildungsziel „Ehrfurcht vor Gott“ als Grundhaltung gemeint, in der sich der Mensch in eine ihn übersteigende Ordnung einfügt, der er mit Bewunderung und Staunen begegnet. Die damit verbundene Demut macht den Menschen aber nicht klein, sondern zeigt ihm, wie sehr seine Existenz angesichts der Unendlichkeit eine Episode darstellt, die aber nicht dem Zufall entspringt und sich in der Bedeutungslosigkeit verliert, sondern in einem tragenden Sinn und einer Perspektive geborgen ist, woraus der Mensch selbst- und verantwortungsbewusst handeln kann. Insoweit der Mensch dieses Absolute, Transzendente, Unverfügbare in der Tradition einer bestimmten Religion interpretiert, kann man auch von einem Glauben an Gott sprechen, der sich in einer bestimmten religiösen Praxis entfaltet.

In diesem Sinne kann spirituelle Intelligenz auch in einer weltanschaulich neutralen Gesellschaft zum Erziehungsziel werden, das gerade angesichts der dehumanisierenden Folgen von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz ein Garant von Humanität in Bildungsprozessen ist.

Zum Nachlesen:

Schüler, Sascha (2024): „Für die Teenager heute sind Krisen der Normalzustand“, in: bpb:magazin‚ # 26 (Oktober 2024), S.7f.

Haidt, Jonathan (32024): Generation Angst. Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen. Hamburg, S.249f.

Steinfurth, Thomas (2023): Die Suche nach dem Mehr. Über die Kraft der Spiritualität, in: da. Das Magazin der Domberg-Akademie Nr. 6 – 03/20234, S.8f., hier 9

Pfiff, Paul K. et al. (2025): Bridging me to we: Awe is a conduit to cohesive collectives, in: Current Opinion in Psychology, Volume 62, April 2025, 101979

Zierer Klaus; Gottfried Thomas (2024): Ehrfurcht vor Gott. Über das wichtigste Bildungsziel einer modernen Gesellschaft. Münster-New York: Waxmann. 


Verfasst von:

Klaus Zierer und Thomas Gottfried

Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg; Akademischer Direktor am Lehrstuhl Schulpädagogik der Universität Augsburg