Ausgabe: März-April 2025
SchwerpunktVon der Pause zur Perspektive

Der Religionsunterricht - mehr als eine „Erholungsstunde“ im vollen Stundenplan
„Erziehung ist die mächtigste Waffe, die du verwenden kannst, um die Welt zu verändern“, wusste der südafrikanische Freiheitskämpfer Nelson Mandela. Welches Potential in diesem Kontext Schulen und dabei insbesondere dem Religionsunterricht (RU) zugestanden werden darf, wird hingehen oft zur Debatte gestellt.
In einer Welt, in der schnelle Antworten und pragmatische Lösungen dominieren, ist der Bildungsweg für junge Menschen mehr denn je eine entscheidende Phase ihres Daseins. Vor allem hinsichtlich der Ganztagsschulen, in denen Schülerinnen und Schüler weitaus intensiver als bisher ihre Lebenszeit verbringen, wird der schulische Alltag unwillkürlich zu einem entscheidenden Ort. Und genau hier liegt eine unverkennbare Chance des Religionsunterrichts (RU).
Raum zur Reflexion und Achtsamkeit
Woran sollen sich unsere Kinder und Jugendliche erinnern, wenn sie auf ihren RU zurückblicken? „Der RU ist wie eine Pause vom stressigen Alltag […] Man kann alle Fragen stellen und Geschichten aus seinem Leben erzählen, die zum Thema passen“ (Luisa, 5. Jahrgangsstufe). Diese Aussage ist ein treffendes Beispiel dafür, wie der RU von vielen jungen Menschen wahrgenommen wird: als eine Erholungsstunde für Diskussionen und persönliche Überlegungen. Doch der RU sollte mehr sein als lediglich eine Art Pause! Er hat vielmehr das Potenzial, für Schülerinnen und Schüler ein zentraler Raum zu sein, an dem sie angehalten werden, über ihre eigenen Werte, ihren Platz in der Welt und die Herausforderungen ihres Lebens tiefgründig zu reflektieren.
Tatsächlich sind es die Fragen nach dem „Warum?“, „Wohin?“ und „Wie?“, die innerhalb der heranwachsenden Generation wieder an Bedeutung gewinnen. Themen wie soziale Gerechtigkeit, die Verantwortung des Einzelnen für die Gemeinschaft sowie die Suche nach dem Sinn inmitten einer Welt voller Möglichkeiten und Anforderungen stellen junge Menschen vor eine bis dato nie dagewesene Komplexität.

Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen ist allerdings nicht nur eine intellektuelle Herausforderung, sie betrifft Schülerinnen und Schüler vielmehr in ihrer Ganzheitlichkeit. „Im RU kann man immer Sachen teilen, die einen bedrücken, ohne kritisiert zu werden“ (Charleen, 6. Jahrgangsstufe). Dieses Statement verdeutlicht, wie essenziell es für junge Menschen ist, im RU ihre Gedanken und Gefühle aufrichtig äußern zu dürfen. In einer Welt, die von hohen Erwartungen und einem ständigen Leistungsdruck geprägt wird, bietet der RU damit die Gelegenheit für eine feinsinnige Auseinandersetzung mit den eigenen Emotionen und seiner persönlichen Haltung. Beides darf im RU demnach nicht als Randthema zur Sprache kommen. Vielmehr sollte es in diesem geschützten Raum aktiv erlebt werden können – nicht als theoretische Konzepte, sondern im Kontext der eigenen Lebensrealität.
Laut einer Umfrage unter Schülerinnen und Schüler ist die Beschäftigung mit gesellschaftlichen Themen, „die manchmal unangenehm, aber nötig ist“ (Lena, 12. Jahrgangsstufe), eine der zentralen Aufgaben des RU. Fragen zur sozialen Gerechtigkeit, zur Verantwortung des Einzelnen oder zur interreligiösen Verständigung sind Punkte, die ihnen zudem wichtig erscheinen. Um glaubwürdig zu sein, muss der RU dabei als ein Ort gestaltet werden, an dem diese Aspekte nicht nur thematisiert, sondern in praktischer und konkreter Weise erlebt werden können.
Der RU als Basis zur Persönlichkeitsbildung
„Der RU ist wie ein Komiker – lustig, menschlich und mit einem Ziel“ (Dominik, 8. Jahrgangsstufe). Diese pointierte Metapher beschreibt die besondere Mischung aus Leichtigkeit und Tiefgang, die der RU zu bieten hat. Hierzu kann und muss er einen Weg gehen, der sowohl die unbeschwerte als auch die schwere Seite des Lebens anerkennt. Insofern kann er Kinder und Jugendliche dabei unterstützen, ihr eigenes Lebens- und Glaubenssystem zu entwickeln, das ihnen im besten Fall ein Leben lang Orientierung bietet.
„Eigentlich glaube ich gar nicht an Gott oder an ein Leben nach dem Tod, aber im RU ist das egal, denn hier geht es um mein Leben auf diesem Planeten, und deshalb fühle ich mich im RU trotzdem richtig“ (Luca, 11. Jahrgangsstufe). Dies zeigt, wie der RU nicht zwingend auf die religiöse Zugehörigkeit der Schülerinnen und Schüler fundiert, sondern ebenso als ein Unterricht verstanden werden darf, der – unabhängig vom persönlichen Glauben – eine tiefere Auseinandersetzung mit den wesentlichen Fragen des Lebens ermöglicht.
Vor allem für die Schülerinnen und Schüler der Ganztagsschulen ist diese Option von entscheidender Bedeutung: Innerhalb eines dichten Stundenplans, sozialer Teilisolation, dem Verlust von Autonomie sowie kaum freier Zeit, um einfach nur man selbst zu sein, ist der RU eine der wenigen Instanzen, in dem diese Aspekte noch einen Stellenwert haben dürfen. Wir alle haben als Menschen das Bedürfnis, wahrhaftig gesehen zu werden. Umso mehr sollte gerade der RU – in seiner Beziehungsebene von Mensch zu Mensch – dem gerecht werden. Dann zeigt sich, dass der RU nicht nur auf seiner inhaltlichen Ebene einen Unterschied machen kann, sondern gerade auf der zwischenmenschlichen.
Der RU als Ort gelebter Authentizität
Das jesuanische Vorbild von der bedingungslosen Gleichheit aller Menschen ist ein weiteres zentrales Thema im RU. Doch wie kann dieses Ideal in der Praxis umgesetzt werden? Die Antwort liegt dabei nicht zuletzt in der Haltung der Lehrkräfte: Gemäß Schülermeinung müssen gerade sie Interesse und Verständnis für ihre Schützlinge zeigen, ein Angebot für individuelle Meinungen, Fragen sowie Probleme ermöglichen und mit ihrer Persönlichkeit zeigen, dass „das Leben sinnvoll ist“ (Sebastian, 10. Jahrgangsstufe). Unweigerlich ist es demnach die Authentizität der Lehrkraft, die entscheidend dazu beiträgt, dass der RU als Raum der Offenheit und der ehrlichen Auseinandersetzung wahrgenommen wird. Der Theologe Georg Langenhorst akzentuierte dies folgendermaßen: „Kinder brauchen Religionsunterricht […] von Lehrkräften, die in ihrer Religion zu Hause sind und ohne ›Superchristen‹ sein zu müssen.“ Eine Lehrkraft, die ihren Glauben aufrichtig lebt und echte Werte im Alltag glaubwürdig vorlebt, ist somit eine Schlüsselressource für jeden erfolgreichen RU.
Chance zur Veränderung
Am Ende bleibt uns eine Erkenntnis: Der RU ist weit mehr als eine „Erholungsstunde“. Er kann ein Raum der Befreiung sein – nicht nur von den Belastungen des Schulalltags, sondern auch von der Ohnmacht, die mit vielen Fragen des Lebens einhergeht. Hier können junge Menschen die Freiheit erfahren, die sie brauchen, um sich mit sich selbst und mit der Welt auseinanderzusetzen. Besonders in Ganztagsschulen, in denen die Herausforderungen des Lebens oftmals in einem intensiven Rhythmus von Schule und Freizeit eingebettet sind, kann der RU ein Raum sein, der den Schülerinnen und Schüler nicht nur Entlastung, sondern auch Orientierung gibt. So sollten sie sich im Rückblick an ihn hoffentlich an einen Ort erinnern, der sie in ihrer Freiheit und Verantwortung bestärkt hat – an einen Ort, der ihnen das Leben nähergebracht hat, wie es uns Gott geschenkt hat: Wie der Exodus den Weg zur Freiheit aufgezeigte, sollte der RU des 21. Jahrhunderts für Heranwachsende ein befreiender Weg sein, um unsere Welt positiv verändern zu wollen!
Alle Schülerinnen- und Schülerzitate sind durch mehrere Umfragen, welche auch anonym erfolgen konnten, innerhalb des RU der Autorin erhoben worden.
Zum Weiterlesen: Langenhort, G.: Kinder brauchen Religion (2014)
Verfasst von:
Alexandra Oguntke
Verband der Katholischen Religionslehrer und Religionslehrerinnen an Gymnasien in Bayern e. V.