Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: Mai-Juni 2025

Schwerpunkt

Jüngerschaft „von Anfang an“

Duccio di Buoninsegna (1255–1319), Die Berufung von Simon Petrus und Andreas. Bild: GNU FREE DOCUMANTATION LINCENSE

Was heißt es, „Jüngerin“ oder „Jünger“ zu sein? Im Deutschen ist das Wort abgeleitet aus dem althochdeutschen jungiro und meint im Allgemeinen einen „Lehrling“, eine „Schülerin“, einen „Schüler“. Geläufig ist das Wort vor allem durch die Bibel. Das Neue Testament kennt „Jünger“ der Pharisäer (Mt 22,16; Mk 2,18) und Johannes’ des Täufers (Mt 9,14; Lk 5,33; Joh 3,25); vor allem bringen wir Jünger in Verbindung mit denen, die aufgrund einer Berufung durch Jesus Beruf und Familie aufgaben, um Jesus unmittelbar zu folgen, nachzufolgen, seine Botschaft aufzugreifen und weiterzutragen.

Beispielhaft ist die Berufung der ersten Jünger: Simon, Andreas, Jakobus und Johannes am See von Galiläa (Mk 1,16-20 // Mt 4,18-22). Ganz unvorbereitet werden sie von Jesus angesprochen: „Kommt her, mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen.“ (Mk 1,17* // Mt 4,19*) – und sie folgen ihm sogleich. In der parallelen Erzählung bei Lukas wird die Szene ausgestaltet und den Berufungen das Wunder des unerwartbaren reichen Fischfanges vorangestellt: Simon, Jakobus und Johannes geraten auf dem See in Entsetzen und Furcht, worauf Jesus sie beruhigt und zugleich zu Menschenfischern beruft (Lk 5,1-11). Hier zeigt sich eine zweite Art der Berufung: Die angehenden Jünger wissen um und kennen Jesus. Bei Johannes verhält es sich noch etwas anders und es zeigt sich eine dritte Weise: Simon wird nicht direkt, sondern erst durch Vermittlung seines Bruders Andreas berufen, entsprechend auch Natanaël (Joh 1,35-51).

Eine vierte Weise der Berufung ist die, nach der einzelne Männer selbst mit dem Wunsch zur Nachfolge an Jesus herantreten. Beispiele dazu finden sich in Mt 8,19f // Lk 9,57f; Mt 8,21f und Lk 9,61f. Diese Beispiele geben im Besonderen Einblick, was es bedeutet, zum Jünger berufen zu werden. Auf den selbst an Jesus herangetragenen Wunsch, zum Jünger berufen zu werden, reagiert Jesus nicht ablehnend, doch beinahe barsch. Jünger wird man buchstäblich „ohne Wenn und Aber“, Nachfolge heißt Ganznachfolge: „Lasst die Toten ihre Toten begraben!“. Jüngerin oder Jünger zu sein ist nie nur eine Worthülse. Man ist immer Jüngerin, ist immer Jünger: um nachzufolgen, mit dem Ersten Petrusbrief formuliert, um „in seine Fußstapfen“ zu treten (1 Petr 2,21, vgl. auch Apg 20,35; Eph 5,1).

Nichts Exklusives

Am Ende des Matthäusevangeliums erhalten die Apostel, zwölf mit besonderer Vollmacht ausgestattete Jünger (vgl. Mk 3,13-19; 6,7-13, Mt 10,1.2), – bis auf Judas – die Weisung des auferstandenen Jesus: „Darum geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe.“ (Mt 28,19-20a) Hiernach ist Jüngerschaft nichts Exklusives, sondern universalisiert. Der Auftrag des Auferstandenen, alle Nationen, alle Menschen zu unterrichten und zu taufen, ist nicht weniger als die universale, eschatologische Botschaft und ekklesiologische Bilanz des Matthäusevangeliums: „Kirche kann nie etwas anderes sein als Jüngerschaft, Schule der Nachfolge, bei eben diesem Jesus.“ (Ulrich Luz) Und genau dies betrifft auch uns: „alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mk 28,20b).

Nach dem Abschluss des Matthäusevangeliums bildet das universale zu Nachfolgerinnen und Nachfolgern Machen das eschatologische Ziel aller Zeiten. Und wie verhält es sich mit dem Anfang aller Zeiten? Nach dem ersten Schöpfungsbericht in Gen 1,1-2,4a erschafft Gott am sechsten Tag neben den Landtieren auch den Menschen. Dabei handelt es sich nicht um einen historischen Bericht. Vielmehr geht es um die ideale, von Anfang an auf Frieden und Wohlergehen ausgerichtete Schöpfung, die genau so von Gott intendiert ist, in der sich Zeit und Raum verschränken und jedes Geschöpf seinen festen Platz hat. Der Mensch wird darin als „Abbild“ Gottes (ṣælæm, Gen 1,26) geschaffen. Das Verständnis geht über unsere Vorstellung etwa einer Heiligenfigur hinaus. Nach Auffassungen der Umwelt des Alten Testaments repräsentiert ein solches Abbild eine Gottheit selbst, die ihm innewohnt, und ist „Ort, von dem aus die Gottheit wirkt. (…) Wie ein Leib, in den die lebendige Gottheit eintritt, um durch ihn in der Welt wirkmächtig gegenwärtig zu sein.“ (Erich Zenger)

Verantwortlich handeln

Bereits darin manifestiert sich eine Würde, die demokratisiert jedem Menschen, ob Mann, ob Frau, arm oder reich, jung oder alt zukommt und zur Aufgabe wird. Sie zeigt sich nach biblischer Konzeption nicht nur in der Dignität seines Wesens, sondern wesentlich in seinem Tun und Handeln, womit die Würde des Menschen grundlegend an die Ethik selbst gebunden wird. Unmittelbar mit dem Zuspruch der Abbildhaftigkeit, die über den ersten Schöpfungsbericht hinaus gerade auch in den Psalmen (Ps 8 u.a.) entfaltet wird, verbindet die Bibel den – einem jeden Menschen zukommenden – Auftrag: zur wider despotischen Herrschens konkret verantwortlichen Gestaltung und Ausgestaltung der göttlichen Schöpfung (Gen 1,28-29). „Der Mensch ist somit Bild Gottes, insofern er sich verantwortlich handelnd zu seinem Lebensraum samt den Lebewesen darin (…) verhält.“ (Walter Groß) Der so verstandene Auftrag zu Gunsten von Welt und Umwelt ist von Anfang an mit der Idee des Menschseins verknüpft. Wir sind bereits qua unseres Menschseins berufen, das „Lebenshaus Gottes“ (Erich Zenger) zu schützen und zu pflegen und sind dabei immer schon mit Gott wie mit der Welt und allen Mitgeschöpfen verbunden. Es ist diese Theologie, mit der der o.g. Schluss des Matthäusevangeliums, der Auftrag zur Sendung und Taufe korrespondiert.

Gott gegenwärtig werden lassen

Aber was heißt das konkret? Wie kann der Mensch dem ihm von Anfang an wesensgemäß zugekommenen Auftrag zu ethischem Handeln, wirkmächtig Gott gegenwärtig werden zu lassen, und der am Ende des Matthäusevangeliums – weitere Bibelstellen können ergänzt werden – ergehenden eschatologischen Bestimmung gerecht werden, Jüngerin und Jünger, Nachfolgerin und Nachfolger Christi zu werden? In der Theologie hat diese Frage nach der Konkretisierung insbesondere die Christliche Soziallehre herausgestellt. In sechs postulierten Prinzipien – Gemeinwohl, Solidarität, Gerechtigkeit, Menschenwürde, Nachhaltigkeit und Subsidiarität – manifestiert sie, was es heißt, als Christinnen und Christen, als Jüngerinnen und Jünger Jesu konkret zu handeln. Zentrum ist dabei immer der Mensch in seiner Umwelt und sein Blick auf andere. Ein besonderer Fokus auf die Ausgestaltung der Teilhabe an der Sendung Jesu wird auch im von Papst Franziskus am 24. November 2024 autorisierten Abschluss des Schlussdokumentes der Weltsynode unter Hervorhebung der Themen der Christlichen Soziallehre deutlich „damit das Handeln der missionarischen Jünger den Aufbau einer gerechteren und mitfühlenderen Welt beeinflussen kann.“ Die Erklärung betont dabei substanziell das „Engagement für den Schutz des Lebens und der Menschenrechte, für eine angemessene Ordnung der Gesellschaft, für die Würde der Arbeit, für eine gerechte und solidarische Wirtschaft und eine ganzheitliche Ökologie“ (151). Jesus selbst hatte diesen Blick, den er in Person und Handeln konkret gemacht hat. Und es ist eben dieser Blick, der auch von uns gefordert ist, wenn auch wir Jüngerinnen und Jünger sein wollen, sollen. Denn: „Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wahrhaft meine Jünger.“ (Joh 8,31b)

 


Verfasst von:

Johannes Bremer

Professor für Biblische Theologie an der Katholischen Stiftungshochschule München