Ausgabe: Mai-Juni 2025
Schwerpunkt„Warum soll ich denn an Gott glauben?“

Wie würde ich leben, wenn ich 1964 nicht in der Oberpfalz, sondern in Rostock geboren wäre? Warum glaube ich an Gott? Warum bleibe ich in der Kirche, nachdem ich all diese schlechten Geschichten gehört habe? Ich weiß es nicht! Doch es gibt ein kleines Zeichen einer Antwort.
Im Bistum Regensburg gibt es ein sogenanntes „Austrittstelefon“, bei dem ich mich zweimal zur Verfügung stellte. Im Februar 2022 wurde ich noch einmal gebeten, diesen Dienst zu übernehmen. Es war die Zeit des Münchner Gutachtens zur Missbrauchsaufarbeitung. So kam es zu vielen wütenden Anrufen im Bischöflichen Sekretariat und bei der Pressestelle und so wurde diese Hotline mit drei Personen eingerichtet, um sich für die Anruferinnen und Anrufer genügend Zeit nehmen zu können.
Ich hatte mir eine Strategie zurechtgelegt. Ich wollte mir die Wut und die Enttäuschung anhören und dann ins Gespräch kommen. Vielleicht, so dachte ich mir, könnte ich auch auf die positiven Seiten von Kirche hinweisen. Eigentlich habe ich unwillkürlich genau das gemacht, was viele Menschen wütend macht. Ich wollte den Missbrauch herunterspielen, verharmlosen, rechtfertigen und nicht ernst nehmen.
Zum Glück merkte ich das schon beim ersten Telefonat. Meine Strategie war zunichte. Ich habe mir dann die kommenden 14 Tage ganz viele und ganz schlechte Erfahrungen mit der Kirche und ihren Amtsträgern anhören müssen. Es waren Geschichten von sexuellem, geistlichem und psychischem Missbrauch. Es waren ekelhafte Geschichten von sogenannten Mitbrüdern, die mich ratlos zurückließen.
Und ehrlich gesagt, konnte ich es keinem verdenken, aus dieser Kirche auszutreten. Ich hatte gemerkt, dass man gewisse Dinge nicht rechtfertigen kann. Im Gegenteil, ich wurde angefragt, warum ich eigentlich noch in der Kirche bin. Ich weiß gar nicht mehr genau, was ich geantwortet habe, wohl irgendwas erzählt von meinen guten Erfahrungen in der katholischen Jugendverbandsarbeit oder in der weltkirchlichen Arbeit bei den Hilfswerken.
Eine Kirche wie ein Feldlazarett
Die Frage beschäftigt mich bis heute: Warum bleibe ich in der Kirche, nachdem ich all diese schlechten Geschichten gehört habe? Ich weiß es nicht!
In meiner Zeit als Diözesanbeirat des Frauenbundes haben mir Frauen oft erzählt, dass sie von ihren Töchtern gefragt wurden: „Mama, wie kannst du dich für eine solche Kirche engagieren?“ Da kann man viele Gründe aufzählen: Weil ich die Hoffnung nicht aufgebe, weil Papst Franziskus den ganzen Laden zusammenhalten muss und er auch auf die Langsameren achten muss, weil wir immerhin kleine Schritte und Erfolge vorweisen können, weil der Synodale Prozess doch schon mal ein Anfang ist, weil jede und jeder gebraucht wird in dieser Kirche, auch wenn sie aussieht wie ein Feldlazarett. Das wären lauter Rechtfertigungsgründe, die man aufzählen kann, aber nicht muss.

Inzwischen bin ich Militärpfarrer in Kiel und erlebe in den zivilen Pfarreien, in denen ich häufig aushelfe, eine absolute Diasporasituation. Wer hier Katholik ist, der ist es aus Überzeugung. Sie rechtfertigen sich nicht, weil sie auch nicht angefragt werden. Sicher macht das vieles einfacher als in meiner bayerischen Heimat.
Und noch etwas habe ich in Kiel gelernt, bzw. bei der Militärseelsorge. Eine Kirche, die sich voll und ganz der Seelsorge widmen kann, wird als hilfreich und gut wahrgenommen. Im Herbst 2022 hat das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Kooperation mit dem Sozialwissenschaftlichen Institut der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) eine Umfrage durchgeführt. Demnach finden 91 Prozent der Soldaten und Soldatinnen die Präsenz der Militärseelsorge im Grundbetrieb für gut und 95 Prozent sehen die Begleitung durch die Militärseelsorge im Auslandseinsatz als enorm wichtig an. Neben Seelsorgegespräche besuchen hier 57 Prozent die Gottesdienste.
Vielleicht rühren diese positiven Zahlen daher, dass Militärseelsorge „Seelsorge pur“ ist. Während meine zivilen Amtskollegen oft bis zum Hals in Verwaltungsarbeiten stecken, Pfarreien zusammenlegen müssen, Ehrenamtliche finden und motivieren, Kirchen profanieren und verkaufen und mit immer weniger Finanzmitteln auskommen, habe ich den Luxus, dass ich mich weder um Geld, Personal noch um Strukturen kümmern muss.
Den Anvertrauten nachlaufen
Sinn des Wortes auch tun muss, denn von sich aus kommen die Wenigsten. Unsere monatlichen Andachten sind sehr spärlich besucht. Deswegen haben wir Anfang des Jahres viele Büros bei uns im Marinestützpunkt besucht und einen Neujahrsgruß und Sternsingeraufkleber überbracht. Tatsächlich steht jetzt „20*C+M+B+25“ über einigen Bürotüren und auch die Zahl der Teilnehmenden der Januarandacht ist sprunghaft nach oben gegangen.
Ob das so bleibt, wird man sehen, aber Zahlen nehme ich nicht mehr ganz so wichtig. Ich darf einfach Wegbegleiter sein für Menschen, die auch mit Grenzerfahrungen konfrontiert werden und Seelsorge wertschätzen.
Das habe ich erlebt, als im vergangenen Jahr zwei Soldaten verstarben. Wenngleich die Angehörigen kaum mehr Bezug zur Kirche haben bzw. noch nie hatten, schätzen sie die Begleitung, die Nähe und Fürsorge und nicht zuletzt den Ritus, den Kirche bieten kann.
Viele Soldaten und Soldatinnen gehören überhaupt keiner Konfession an und leben ohne Gott ganz gut, wie es jüngst der Militärbischof Franz-Josef Overbeck gesagt hat: „Sie brauchen keine Religion, keinen Glauben und schon gar keine Kirche.“ Und doch seien sie glücklich und zufrieden: „Sie führen oft ein erfülltes Leben – und sind dabei keineswegs egoistische Menschen.“
Solche Menschen zu treffen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen, finde ich sehr spannend. Da kann es schon mal vorkommen, dass man sich den halben Abend über Quantenphysik unterhält und merkt, wie wunderbar unsere Welt eingerichtet ist.
Die schönste Erfahrung
Mir fällt auch noch die 13-jährige Hannah ein. Ihre Mutter ist Soldatin und beide waren mit unserer Pilgergruppe zum Heiligen Jahr in Rom. Ihre Mutter wuchs in den östlichen Bundesgebieten auf und so hat auch Hannah keinerlei Bezug zu Glaube und Religion. Dabei ist sie sehr interessiert an Geschichte und Kultur und hat bei unseren Führungen durch Rom immer wieder sehr kluge Fragen gestellt. Auch bei unseren Morgenandachten war sie immer anwesend und froh, als sie beim Lied „Von guten Mächten“ endlich mal mitsingen konnte.
Sie hat mir erzählt, dass sie sich für den Ethikunterricht entschieden hat, weil sie mit Religion nichts anfangen kann. Sie findet, man kann auch ohne Gott ein anständiges Leben führen. Das erfährt sie regelmäßig in ihrer Pfadfindergruppe. Dort werden humanistische Werte vermittelt.
„Warum soll ich denn an Gott glauben?“ Die Frage Hannahs hat mich ins Grübeln gebracht. Wie würde ich leben, wenn ich 1964 nicht in der Oberpfalz, sondern in Rostock geboren wäre? Warum glaube ich an Gott?
Ein kleines Zeichen einer Antwort ist mir erst vor einiger Zeit geschenkt worden. Im Rahmen einer Lebenskrise habe ich die Kontemplation für mich entdeckt. Diese, zumindest ansatzweise, Verbundenheit mit Gott zu spüren oder erahnen zu können, ist so ziemlich das Schönste, was ich je erleben durfte. Karl Rahner hat vollkommen recht: „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein, oder er wird nicht sein“.
Meine Diasporaerfahrungen haben mich demütiger und weniger ängstlich gemacht. Die Kirche wird sich verändern. Aber sie wird weiterhin Kirche Jesu Christi sein. Und sie wird anders aussehen. Vielleicht wie ein Feldlazarett. Das wäre ja dann wieder was für einen Militärseelsorger …