Das Magazin für engagierte Katholiken

Ausgabe: Juli-August 2025

Schwerpunkt

Postmortal erreichbar – KI sei Dank?

Digitale Wiederbegegnung mit den Verstorbenen – Simulationen von Mimik, Stimme und Verhalten durch Avatare ermöglichen scheinbare Nähe, werfen aber tiefgreifende ethische Fragen auf. Foto: KI-generiert (Canva) – Matthias Meitzler

Ethische Betrachtungen zum digitalen ,Weiterleben‘

Avatare von Verstorbenen, die mit Stimme, Aussehen und Persönlichkeit in der virtuellen Welt weiterexistieren – klingt nach Science-Fiction, ist aber längst Realität. Die sogenannte Digital Afterlife Industry boomt. Doch was bedeutet das für unser Verständnis von Tod, Trauer und Identität?

Eine junge Frau begegnet ihrer verstorbenen Tochter in einer virtuellen 3D-Welt. Auf ihrer eigenen Beerdigung beantwortet eine ältere Dame die Fragen der versammelten Trauergemeinde. Jahrzehnte nach seinem Ableben macht Elvis Presley mit einem fulminanten Bühnencomeback von sich reden. Im Jahr 2027 soll der US-amerikanische Kriegsfilm Finding Jack in die Kinos kommen – die Hauptrolle übernimmt kein Geringerer als der im Jahr 1955 verstorbene James Dean. Und obwohl John Fitzgerald Kennedy unmittelbar vor seiner geplanten „Dallas Trade Mart Speech“ am 22. November 1963 ermordet wurde, kann man sich genau diese Rede inzwischen in der Stimme des früheren US-Präsidenten anhören. All diese Beispiele haben eine Sache gemeinsam: die digitale Fortexistenz von verstorbenen Menschen mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI).

Kommunikation über den Tod hinaus

Auf dem neu entstandenen Markt der sogenannten Digital Afterlife Industry werden verschiedene Dienste angeboten, die das frühere Kommunikationsverhalten von Verstorbenen – ob Prominente oder Privatpersonen – nachahmen. Hierfür wird ein KI-System mit einer großen Menge persönlicher Daten (etwa aus Textkonversationen, Foto-, Audio- oder Videoaufnahmen) trainiert. Hinterbliebene können auf diese Weise mit Simulationen verstorbener Familienmitglieder oder Freundinnen und Freunde dialogisch in Kontakt treten. Während sich Chatbots allein textbasiert ausdrücken, können Avatare darüber hinaus auch das Aussehen eines bestimmten Menschen, seine Mimik, Gestik und den vermeintlich unnachahmlichen Klang seiner Stimme imitieren.

Verheißung und Zweifel

Die Aussicht auf ein digitales „Weiterleben“ mag den alten Menschheitstraum von der Überwindung der Endlichkeit bedienen, zugleich wirft sie jedoch zahlreiche Fragen auf: Können solche technischen Replikationen den Verlust einer geliebten Person oder die Gewissheit der eigenen Sterblichkeit erleichtern – oder bewirken sie das Gegenteil? Wer entscheidet über die Gestaltung der digitalen Zweitexistenz? Inwieweit lässt sich die Persönlichkeit eines Menschen überhaupt adäquat abbilden? Gibt es so etwas wie einen inneren Wesenskern, der sich jeder technischen Reproduzierbarkeit und algorithmischen Übersetzbarkeit entzieht? Was passiert, wenn die Nutzerinnen und Nutzer ihrerseits versterben – kann man einen Avatar und die mit ihm verknüpften Profile und Daten vererben?

Kommerzielle Interessen und Risiken

Welche Rolle spielt der Umstand, dass die meisten der aktuell verfügbaren Tools von privaten Wirtschaftsunternehmen mit kommerziellem Interesse angeboten werden? Welchen Einfluss hat dies auf das Avatardesign und welche Manipulations- und Missbrauchsrisiken ergeben sich daraus? Wie ist zu verfahren, wenn Hinterbliebene das Interesse verlieren oder die anbietende Firma insolvent wird? Kann man nach dem analogen auch einen digitalen Tod sterben?

Emotionale Abhängigkeiten statt Trauerbewältigung?

Tatsächlich herrscht in der Bevölkerung derzeit noch große Skepsis gegenüber den Möglichkeiten des Digital Afterlife. Besonders verbreitet ist die Befürchtung, dass die interaktive Auseinandersetzung mit digital reanimierten Toten negative Wirkungen auf Trauerprozesse haben könnte. Ein Avatar, der den Eindruck vermittelt, die dargestellte Person sei weiterhin lebendig und verfügbar, mache es Hinterbliebenen schwer, den Tod zu realisieren und dessen Irreversibilität zu akzeptieren. Aufgrund seiner starken Suggestivkraft könne der Avatar die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner in ein emotionales Abhängigkeitsverhältnis bringen und ihre Erinnerungen manipulieren.

Nicht zuletzt steht die Besorgnis im Raum, dass Anbieter die vulnerable Situation von Trauernden zur Durchsetzung von Geschäftsinteressen ausnutzen könnten. Demnach gehe es bei der Kreation des digitalen Gegenübers weniger darum, Menschen bei ihrer Trauerbewältigung zu helfen, sondern in erster Linie um ein Produkt, das zahlende Kundinnen und Kunden möglichst lange binden soll. Bei den meisten Angeboten handelt es sich um Abonnementmodelle, die – je nach Leistungsumfang – monatlich etwa 25 bis 50 US-Dollar kosten.

Wissenschaftliche Erkenntnisse fehlen

Über die trauerpsychologischen Auswirkungen dieser Dienste liegen – schon aufgrund ihrer bisher geringen Verbreitung – derzeit keine empirisch gesicherten Erkenntnisse vor. Um verlässliche Einsichten über konstruktive und destruktive Potenziale zu gewinnen, bedürfte es einer differenzierten Betrachtung verschiedener Anwendungsszenarien, Hintergründe und weiterer Parameter. Dazu gehören unter anderem das erreichte Lebensalter der verstorbenen Person, die Umstände ihres Todes, Form und Qualität der Beziehung zu ihr, Zeitpunkt, Häufigkeit und Dauer der Avatarnutzung und damit verbundene Erwartungen oder Hoffnungen – sowie die individuelle Dynamik trauerbezogener Bedürfnisse.

Darüber hinaus wäre zu fragen, ob der Avatar tatsächlich im Sinne einer postmortalen Wiederkehr begriffen wird oder ob es vielmehr darum geht, den Nachkommen ein interaktives Gedächtnis mit verschiedenen Wissens- und Erfahrungselementen zu hinterlassen. Denkbar wären auch KI-Anwendungen, die nicht den Anspruch erheben, Verstorbene realistisch zu imitieren, sondern über sie sprechen, indem Erinnerungen an bestimmte Lebensereignisse aus einer Fülle an Datenmaterial aufbereitet werden.

Technik und Gewöhnung

hervorbringen wird, die an gesellschaftlicher Akzeptanz gewinnen, dafür spricht nicht nur der technische, sondern auch der demografische Wandel: Im Vergleich zu ihren Eltern und Großeltern kennen Angehörige der jüngsten Generationen das vordigitale Zeitalter nur noch aus Erzählungen, während sie mit Formen der Online-Kommunikation von klein auf vertraut sind. Eines Tages erreichen auch sie ein Lebensalter, in dem sie verstärkt mit Trauer und Verlust sowie mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert werden. Möglicherweise ist die Interaktion mit künstlichen virtuellen Personen – inklusive realer emotionaler Folgen – auch eine Frage der kulturellen Gewöhnung.

Regeln für das digitale Jenseits

Die aufgeworfenen Problematiken und ihre gesellschaftlichen, ethischen, technischen und juristischen Dimensionen dürfen nicht außer Acht gelassen werden. Um die Rechte von Verstorbenen und Angehörigen zu sichern, braucht es klare Richtlinien für die Erzeugung, Verwendung und Löschung von Avataren und ähnlichen Repräsentationsformen, Kennzeichnungspflichten für KI-Systeme und deren Inhalte sowie eine Anpassung des Datenschutzes und des postmortalen Persönlichkeitsrechts an entsprechende Nutzungskontexte.

Notwendig ist ein kritisches Technikverständnis in der Bevölkerung; potenzielle Nutzerinnen und Nutzer benötigen zuverlässige Informationsangebote. Ferner bedarf es eines intensiven Dialogs zwischen allen von dieser Thematik betroffenen Akteuren – dazu gehört nicht zuletzt die Kirche, die hier weniger Gegenspielerin, sondern eher kritische Begleiterin sein sollte.

Ohne Zweifel stellt das digitale Weiterleben durch Künstliche Intelligenz traditionelle Vorstellungen von Identität, Lebendigkeit und Endlichkeit infrage. In einer säkularen Gesellschaft, in der dennoch Transzendenzsehnsüchte bestehen, bedarf dieser Sachverhalt umso größerer Aufmerksamkeit. Eine breite öffentliche Auseinandersetzung könnte den notwendigen Raum für einen selbstbestimmten, aber auch reflektierten und verantwortungsvollen Umgang schaffen.


Verfasst von:

Matthias Meitzler

Soziologe am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Eberhard Karls Universität Tübingen