Diese Fragen stellen sich viele Zeitgenossen, auch in den christlichen Gemeinden: Brauchen Kinder eigentlich Religion? Könnten sie nicht genauso gut ohne Religion aufwachsen? Leben nicht genauso gute oder schlechte Menschen auch außerhalb der Kirche, in anderen Religionen, ohne Religion? Der Blick in die unmittelbare Nachbarschaft, in die Freundeskreise unserer Kinder verschärft diese Fragen noch einmal. Warum also religiöse Erziehung? Warum der oft so mühsame Versuch, unsere Kinder in den Gemeinden zu beheimaten, sei es auch nur auf Zeit?
Die Antwort auf diese berechtigten Fragen lässt sich gut über einen Vergleichsblick anbahnen: Brauchen Kinder Musik? Können sie nicht auch genauso gut ohne Musik aufwachsen? Gewiss, das ist ohne Zweifel möglich. Aber: Welch bereichernde menschliche Dimension fehlt dabei! Und wie bedauerlich, wenn eine so grundlegende Ebene des Menschseins nicht entfaltet ist! Und mit welchem Bedauern werden musikalische Menschen auf unmusikalische blicken, die oft nicht einmal ahnen, was ihnen fehlt oder entgeht! Diesem Befund würden die meisten Menschen zustimmen, ob selbst aktiv musikalisch oder nicht.
Die Übertragung jedoch ist umstritten. Aber tatsächlich: So ähnlich ist es mit Religion. Wie die Musik bildet auch das Religiöse kaum zufällig in fast allen Kulturen quer durch die Menschheitsgeschichte eine Grunddimension. In Musik wie Religion geht es um die Wahrnehmung und Empfindung, den Ausdruck und die Gestaltung von Wirklichkeit in all ihren Facetten, ja mehr noch: um das Erahnen von Möglichkeiten, die unsere Erfahrungswelt übersteigen und so Raum geben für Sehnsucht, Hoffnung und Trost. Ja, man kann ohne Musik und ohne Religion leben, gewiss. Aber dann liegen wesentliche Potentiale des Menschen brach.
Ist es folgerichtig egal, welche Religion Menschen praktizieren? Allgemein pädagogisch müsste man diese Frage bejahen. Aus gläubiger Perspektive verschiebt sich diese Antwort jedoch: Das Besondere gerade des christlichen Glaubens lässt sich mit einem Wortspiel verdeutlichen: Ausgangspunkt unserer Existenz ist ein bedingungsloser Zuspruch Gottes zu uns, nur von ihm aus erklärt sich der Anspruch an eine moralische und spirituelle Lebensführung. Zuspruch – Anspruch. Entscheidend für den Grundzug des Christentums ist die Reihenfolge. Basis und Grundlage des christlichen Weltbildes ist das vorgängige und bedingungslose Ja Gottes: zu seiner Schöpfung als Ganzer, zu jedem einzelnen Menschen.
Die Bibel führt uns grundlegend vor Augen, dass Gott uns sein „Ja des Seindürfens“ immer wieder zuspricht. Das Christentum ist nicht primär ein ethisches System, das bestimmte Gesetze formuliert, einübt und überwacht. Hierin unterscheidet es sich fundamental von allen nicht religiösen Weltbildern. Hierin liegt sein Wärmestrom, sein durch alle Brüchigkeiten hindurch aufrechterhaltenes Vertrauen in die – aus einer Befähigung erwachsenden – Fähigkeiten des Menschen zur sinnvollen und humanen Gestaltung der Welt.
Ja: Unsere Kinder brauchen eine Einführung in diese Welt. Sie sollten es uns wert sein, alle Mühen in Erziehung und Bildung darauf zu verwenden, dass sie diesen Zuspruch spüren, um von ihm aus den Anspruch einer gerechteren Welt mit zu verwirklichen.
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